HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2021
22. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

21. BGH 1 StR 474/19 – Urteil vom 19. August 2020 (LG Landshut)

BGHR; versuchter Verdeckungsmord (Vorsatz: Möglichkeit der Verdeckungsabsicht bei bedingtem Tötungsvorsatz, Verdeckungsabsicht als treibendes Motiv); Totschlag durch Unterlassen (Anforderungen an einen Eventualvorsatz hinsichtlich der hypothetischen Kausalität der Rettungshandlung; Behandlungs

abbruch: Rechtfertigung durch eine Patientenverfügung, hier: Zustandsverschlechterung nach einer Medikamentenverwechslung).

§ 211 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 13 Abs. 1 StGB; § 1901a BGB

1. Zum versuchten Verdeckungsmord durch Unterlassen nach Medikamentenverwechslung bei einem Palliativpatienten durch Pflegekräfte. (BGH)

2. Gegenstand des Vorsatzes müssen bei Unterlassungen neben der Untätigkeit die physisch-reale Handlungsmöglichkeit, der Eintritt des Erfolges, die Quasi-Kausalität sowie die die objektive Zurechnung begründenden Umstände sein. Hinsichtlich der hypothetischen Kausalität genügt bedingter Vorsatz dahingehend, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, sein Eingreifen könne den Erfolg abwenden. Es ist nicht erforderlich, dass dem Täter bewusst sein muss, dass der (Rettungs-)Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintreten würde (entgegen 5. Strafsenat, BGHSt 62, 223). (Bearbeiter)

3. Eine Rechtfertigung nach den Grundsätzen, die der Bundesgerichtshof für einen rechtfertigenden Behandlungsabbruch in Übereinstimmung mit dem (mutmaßlichen) Patientenwillen entwickelt hat (vgl. BGHSt 55, 191) kommt für Fälle der Zustandsverschlechterung nach einer Medikamentenverwechslung für solche Fälle in Betracht, in denen der Betroffene bereits palliativmedizinisch versorgt wird. (Bearbeiter)

4. Eine Pflegekraft darf die Entscheidung, dass keine weitere Behandlung stattfindet, jedoch nur in Absprache mit einem Arzt, der allein die medizinische Indikation von möglichen Behandlungsmaßnahmen nach der Medikamentenverwechslung zu bestimmen hat, treffen. (Bearbeiter)

5. Verdeckungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz schließen sich nicht grundsätzlich aus. So kommt die Annahme von Verdeckungsabsicht im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Tod des Opfers nicht mit direktem Vorsatz angestrebt, sondern nur bedingt vorsätzlich in Kauf genommen wird, wenn nicht im Einzelfall der Tod des Opfers sich als zwingend notwendige Voraussetzung einer Verdeckung darstellt. (Bearbeiter)

6. Kommen bei der Prüfung der subjektiven Mordmerkmale verschiedene, möglicherweise zusammenwirkende Motive des Täters in Betracht (sogenanntes Motivbündel), hat das Tatgericht sämtliche wirkmächtigen Elemente in seine Würdigung einzubeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Oktober 2004 – 1 StR 286/04 Rn. 16). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für den Verdeckungsmord anerkannt, dass auch die Absicht, durch Tötung eine Entdeckung früherer Straftaten zu vermeiden, mit anderen Beweggründen zusammenfallen kann; sie muss aber für sich gesehen Triebfeder des Täterhandelns sein. (Bearbeiter)


Entscheidung

70. BGH 4 StR 295/20 – Beschluss vom 8. September 2020 (LG Arnsberg)

Vorsatz (bedingter Vorsatz: Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit, tatrichterliche Feststellung des voluntativen und kognitiven Elements, Hemmschwelle bei Tötungsdelikten); verminderte Schuldfähigkeit (mehrstufige Prüfung); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ).

§ 15 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

1. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet; bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.

2. Da diese beiden Schuldformen im Grenzbereich eng beieinanderliegen, müssen bei der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite in jedem Einzelfall besonders geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt es zwar nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen. Ob dies im Einzelfall zutrifft, bedarf jedoch im Hinblick auf die hohe Hemmschwelle bei Tötungsdelikten einer besonders sorgfältigen tatgerichtlichen Prüfung. Insbesondere bei einer spontanen, unüberlegten oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlung kann aus dem Wissen um einen möglichen Erfolgseintritt nicht allein ohne Berücksichtigung der sich aus der Persönlichkeit des Täters und der Tat ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das voluntative Vorsatzelement gegeben ist. Die Würdigung hierzu muss sich mit den Feststellungen des Urteils zur Persönlichkeit des Angeklagten auseinandersetzen.

3. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ ist nicht ohne weiteres geeignet, den für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB vorausgesetzten Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu belegen. Erforderlich ist vielmehr, dass sicher feststeht, dass der Täter aufgrund der Persönlichkeitsstörung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat.


Entscheidung

62. BGH 4 StR 175/20 – Beschluss vom 3. Dezember 2020 (LG Kaiserslautern)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (mehrstufige Prüfung; Schwachsinn: Abgrenzung von Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund und bloßer Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit; krankheitsbedingt fehlende Unrechtseinsicht); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Feststellung und Beleg der für die Gefährlichkeitsprognose maßgeblichen Umstände).

§ 20 StGB; § 63 StGB

1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig.

Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Schließlich ist im Einzelnen darzulegen, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der einzelnen Taten auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

2. Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des Schwachsinns unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber noch nicht. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, bei der darzulegen ist, warum das auf die festgestellte Intelligenzminderung zurückzuführende Störungsbild bei wertender Betrachtung in seiner Gesamtheit ein Ausmaß erreicht hat, das die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit rechtfertigt.

3. Zwar kann das Leugnen von Tatabläufen den Schluss auf eine krankheitsbedingt fehlende Unrechtseinsicht rechtfertigen. Dies wird aber nur dann in Betracht kommen, wenn dem eine psychotische Realitätsverkennung zugrunde liegt.

4. Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein.


Entscheidung

43. BGH 2 StR 159/20 – Beschluss vom 16. September 2020 (LG Darmstadt)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (mehrstufige Prüfung; eigenständige tatrichterliche Prüfung und Bewertung erforderlicher Sachverständigengutachten; Prüfung eines intakten Hemmungsvermögens im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters bei der Begehung der Tat; Möglichkeit der aufgehobenen oder erheblich verminderten Fähigkeit, Anreize und Hemmungsvorstellungen abzuwägen auch bei einem geplanten und geordneten Vorgehen).

§ 20 StGB; § 21 StGB

1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder zumindest die Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass beim Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein.

2. Für die Tatsachenbewertung ist das Gericht auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei einem gesicherten psychiatrischen Befund um eine Rechtsfrage. Gleiches gilt für die Prüfung der Frage, ob die festgestellte und einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuzuordnende Störung sich bei Tatbegehung auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen. Der Tatrichter hat sowohl bei der Entscheidung über die Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB als auch bei der Frage der eingeschränkten Schuldfähigkeit nicht nur die Darlegungen des medizinischen Sachverständigen eigenständig zu überprüfen; er ist auch verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen.

3. Will das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen folgen, muss das Urteil nicht nur erkennen lassen, dass sich das Gericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung anschließt, sondern auch, warum es ihm folgt. Erforderlich ist eine eigenverantwortliche Prüfung der Ausführungen des Sachverständigen. Andernfalls besteht die Besorgnis, das Gericht habe eine Frage, zu deren Beantwortung es eines besonderen Sachverständigenwissens bedurfte, ohne diese Sachkunde entschieden oder es habe das Gutachten nicht richtig verstanden. Das Tatgericht muss selbst entscheiden und in den Urteilsgründen erkennen lassen, dass es dies unter Gesamtwürdigung der relevanten Umstände getan hat.

4. Die Frage des Vorhandenseins eines intakten Hemmungsvermögens oder seiner erheblichen Beeinträchtigung oder gar Aufhebung ist im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters bei der Begehung der Tat zu prüfen.

5. Auch bei einem geplanten und geordneten Vorgehen kann die Fähigkeit, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden, aufgehoben oder erheblich vermindert sein. Ohnedies sind das Tatverhalten wie das Verhalten vor und nach der Tat wenig aussagekräftig für das Hemmungsvermögen, wenn eine schwere Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren ist.


Entscheidung

57. BGH 2 StR 529/19 – Beschluss vom 16. September 2020 (LG Frankfurt am Main)

Tateinheit (rechtliche Handlungseinheit); sexueller Missbrauch von Jugendlichen (Vornahme sexueller Handlungen gegen Entgelt: Begriff der Entgeltlichkeit).

§ 52 StGB; § 182 Abs. 2 StGB

1. Von einer Straftat im Rechtssinne kann ausgegangen werden, wenn mehrere natürliche Handlungen zu einer Einheit zusammengefasst werden. Das ist dann der Fall,

wenn zwischen mehreren strafrechtlich erheblichen Verhaltensweisen ein solcher Zusammenhang besteht, dass sich das gesamte Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise als einheitlich zusammengefasstes Tun darstellt und die einzelnen Betätigungsakte durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind. Eine tatbestandliche Handlungseinheit liegt vor, wenn mehrere natürliche Handlungen unter unterschiedlichen rechtlichen Aspekten zusammengefasst werden; darüber hinaus können Sinn und Zweck der verletzten Gesetzestatbestände zur Annahme einer tatbestandlichen Handlungseinheit führen, die normativ bestimmt wird.

2. Nach § 182 Abs. 2 StGB wird eine Person über achtzehn Jahren bestraft, die eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass sie gegen Entgelt sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt. Entgelt ist hierbei jede in einem Vermögensvorteil bestehende Gegenleistung. Für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 182 Abs. 2 StGB reicht es aus, dass sich Täter und Opfer vor oder während des sexuellen Kontaktes einig sind, dass der Vermögensvorteil die Gegenleistung für das Sexualverhalten des Jugendlichen sein soll. Werden mehrere sexuelle Handlungen im Sinne von § 182 Abs. 2 StGB jeweils gesondert gegen Entgelt vorgenommen, kann eine Handlungsmehrheit von Taten nach § 182 Abs. 2 StGB vorliegen, soweit keine einheitliche Vereinbarung zu Grunde liegt. Erfolgen die mehrmaligen Sexualakte aber innerhalb eines einheitlichen Lebensvorgangs, liegt die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit nahe. Gleiches gilt, wenn ein einmaliges Entgelt für mehrere sexuelle Handlungen gezahlt wird. In Fällen einer einheitlichen Entgeltzahlung kommt Tatmehrheit allenfalls dann in Betracht, wenn die sexuellen Handlungen auf getrennten Tatentschlüssen beruhen.

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

33. BGH 5 StR 256/20 – Beschluss vom 11. November 2020 (LG Berlin)

BGHSt; Tötungsdelikte (Beginn der Geburt bei operativer Entbindung: „Kaiserschnitt“; Mehrlingsgeburt; Geburtsbeginn als Zäsur zwischen Tötungsdelikten und Schwangerschaftsabbruch; Eröffnung des Uterus zum Zweck der dauerhaften Trennung des Kindes vom Mutterleib; eindeutiges Ende der Schwangerschaft; Vorsatz; Parallelwertung in der Laiensphäre; Rechtfertigung; Analogie; planwidrige Regelungslücke; Verbotsirrtum).

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 218 StGB; § 218a Abs. 2 StGB

1. Bei einer operativen Entbindung (Kaiserschnitt, sectio caesarea) beginnt die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB regelmäßig mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der dauerhaften Trennung des Kindes vom Mutterleib; dies gilt auch bei einer Mehrlingsgeburt. (BGHSt)

2. Mit der Eröffnung des Uterus kommt ein Abbruch des begonnenen Geburtsvorgangs (in vergleichbarer Weise wie beim Beginn einer natürlichen Geburt) regelmäßig praktisch nicht mehr in Betracht. Der Nasciturus ist damit erstmals direkt vom Geburtsvorgang betroffen und es wird in aller Regel – anders als Narkose oder Bauchschnitt – ein eindeutiges Ende der Schwangerschaft im Sinne von § 218 StGB bewirkt. Lediglich in seltenen Sonderfällen wie der Uterusruptur kann der Geburtsbeginn bei einem Kaiserschnitt auch früher als mit der Uterusöffnung anzusetzen sein. (Bearbeiter)

3. Die grundsätzlich objektive Grenzziehung anhand des Merkmals der Eröffnung des Uterus bedarf aufgrund der medizinischen Möglichkeiten, den Uterus zu fetalchirurgischen Zwecken zu öffnen und wieder zu verschließen, um die Schwangerschaft anschließend fortdauern zu lassen, einer Einschränkung. In subjektiver Hinsicht muss die Gebärmutter zu dem Zweck eröffnet werden, den Fetus dauerhaft vom Mutterleib zu trennen und damit die Schwangerschaft zu beenden. Diese Intention des Arztes lässt sich regelmäßig anhand objektiver Merkmale (insbesondere Operationsvorbereitung) feststellen. (Bearbeiter)

4. Der Senat hält daran fest, dass der Geburtsbeginn als maßgebliche Zäsur zwischen §§ 211 ff. StGB und § 218 StGB anzusehen ist, weil das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Einwirkungen – bedarf. Mit dem Wortlaut des § 218 StGB ist es ohne weiteres vereinbar, den Beginn der Geburt – entsprechend der medizinischen Terminologie – als Ende der von § 218 StGB geschützten Schwangerschaft und damit als Beginn des Schutzes durch §§ 211 ff. StGB anzusehen. Dass im Zivilrecht die Rechtsfähigkeit erst ab Vollendung der Geburt beginnt (§ 1 BGB), ist aufgrund des abweichenden Regelungszwecks von Zivil- und Strafnormen nicht ausschlaggebend. (Bearbeiter)

5. Als Beginn der Geburt sieht der Bundesgerichtshof bei natürlichem Geburtsverlauf bisher das Einsetzen der Eröffnungswehen an. Ob angesichts der medizinischen Möglichkeit einer Unterdrückung von weiteren Eröffnungswehen durch die Gabe wehenhemmender Medikamente für den Geburtsbeginn auf den Beginn jeder Art von Eröffnungswehen, auf den Beginn von alsbald in die Ausstoßung der Leibesfrucht mündenden Eröffnungswehen, auf den Beginn der Presswehen oder gar erst auf den

Beginn des Austritts des Kindes aus dem Mutterleib abzustellen ist, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. (Bearbeiter)

6. Eine analoge Anwendung von § 218a Abs. 2 StGB kommt in Fällen der vorliegenden Art nicht in Betracht. Es fehlt schon an einer planwidrigen Regelungslücke. Angesichts der umfassenden parlamentarischen Diskussion der auch weltanschaulich umstrittenen Fragen in Zusammenhang mit § 218a Abs. 2 StGB beruht die Beschränkung dieses Rechtfertigungsgrundes auf die Zeit der Schwangerschaft auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers in Umsetzung entsprechender Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Gegen eine Analogie spricht außerdem, dass Ausnahmevorschriften wie § 218a Abs. 2 StGB eng auszulegen sind und durch eine Analogie eine vom Gesetzgeber als Ausnahme gewollte Regelung nicht zum allgemeinen Prinzip erhoben werden darf. (Bearbeiter)


Entscheidung

65. BGH 4 StR 35/20 – Beschluss vom 18. November 2020 (LG Essen)

BGHSt; Wohnungseinbruchdiebstahl (falscher Schlüssel: bei dem Berechtigten in Vergessenheit geratener Schlüssel); schwere Brandstiftung (Begriff der teilweisen Zerstörung: Brandlegung in einem Mehrfamilienhaus; Begriff der „anderen“ Tat; Bezugspunkt der Verdeckungsabsicht); Grundsätze der Strafzumessung (kein Inverkehrgelangen von Betäubungsmitteln wegen vorheriger Sicherstellung).

§ 46 StGB; § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB

1. Ein bei dem Berechtigten in Vergessenheit geratener Schlüssel ist kein falscher Schlüssel im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB. (BGHSt)

2. Falsch ist ein Schlüssel im Sinne von § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB, wenn er zum Zeitpunkt der Tat vom Berechtigten nicht oder nicht mehr zur Öffnung bestimmt ist. Diese Voraussetzung ist mit Blick auf die strafrechtlichen Folgen eines Wohnungseinbruch- bzw. eines Nachschlüsseldiebstahls nicht bereits dann erfüllt, wenn der Täter sich eines zur ordnungsgemäßen Öffnung bestimmten Schlüssels lediglich unbefugt bedient und diesen zur Begehung eines (Wohnungseinbruch-) Diebstahls missbraucht. Falsch im Sinne der genannten Vorschriften ist ein Schlüssel vielmehr nur dann, wenn ihm die Widmung des Berechtigten fehlt, dass er zur Öffnung des Schlosses dienen soll. Maßgeblich ist deshalb für die Frage, ob ein Schlüssel falsch ist, allein der Wille des zur Verfügung über die Wohnung Berechtigten, ob er den Schlüssel nicht, noch nicht oder nicht mehr zur Öffnung des Wohnungsschlosses bestimmt sehen möchte. (Bearbeiter)

3. Dem Vergessen ist immanent, dass eine Willensbildung des Berechtigten in Bezug auf die Gebrauchsbestimmung eines Schlüssels gerade nicht stattfindet. Ihm kann daher kein Erklärungswert dahin beigemessen werden, der Berechtigte gehe von einem endgültigen Verlust eines Schlüssels aus. (Bearbeiter)

4. Eine teilweise Zerstörung ist gegeben, wenn einzelne wesentliche Teile eines Objekts, die seiner tatbestandlich geschützten Zweckbestimmung entsprechen, unbrauchbar geworden sind oder eine von mehreren tatbestandlich geschützten Zweckbestimmungen brandbedingt aufgehoben ist. Bei einer Brandlegung in einem Mehrfamilienhaus bedeutet „teilweises Zerstören“, dass (zumindest) ein zum selbständigen Gebrauch bestimmter Teil des Wohngebäudes ? d.h. eine zum Wohnen bestimmte, abgeschlossene „Untereinheit“ ? durch die Brandlegung für Wohnzwecke unbrauchbar geworden ist. Das ist dann der Fall, wenn für den „verständigen“ Wohnungsinhaber die Wohnung wegen der Brandlegungsfolgen für eine beträchtliche Zeit nicht mehr benutzbar ist. (Bearbeiter)

5. Wie bei § 211 Abs. 2 StGB und § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b StGB kann die „andere“ Tat bei § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB auch eine solche sein, die zu dem Brandstiftungsdelikt in Tateinheit steht. (Bearbeiter)

6. Die (Verdeckungs-)Absicht im Sinne der Nr. 2 muss sich auf die Verknüpfung zwischen dem Handeln des Brandstifters und dem von ihm verfolgten Zweck beziehen; im Hinblick auf das Grunddelikt genügt grundsätzlich dolus eventualis. Der Senat kann offenlassen, ob hinsichtlich der Brandstiftung auch dann bedingter Vorsatz ausreicht, wenn nach der Tätervorstellung die Verdeckung allein durch den Erfolg der schweren Brandstiftung erreichbar erscheint. (Bearbeiter)

7. Wurde die Betäubungsmittelmenge, die der Täter zum gewinnbringenden Weiterverkauf erworben hatte, sichergestellt und gelangte sie deshalb nicht in den Verkehr, liegt darin wegen des damit verbundenen Wegfalls der von Betäubungsmitteln üblicherweise ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit ein bestimmender Strafzumessungsgrund, der bei der Strafbemessung zu beachten ist und der demzufolge in den Gründen des Strafurteils angeführt werden muss. (Bearbeiter)


Entscheidung

13. BGH 1 StR 328/19 – Urteil vom 11. November 2020 (LG Bonn)

Urkundenfälschung (Begriff der unechten Urkunde: Einverständnis des aus der Urkunde erkennbaren Ausstellers mit dem Nachmachen seiner Unterschrift, gesetzliche Vorgabe einer eigenhändigen Unterschriftsleistung bei der Steuererklärung); Verjährungsbeginn beim uneinheitlichen Organisationsdelikt; Betrug (Vermögensentscheidung: Kompensation durch den Wegfall eines bereicherungsrechtlichen Anspruchs wegen Entreicherung des Vermögensinhabers durch die Vermögensverfügung); Vorenthalten von Arbeitsentgelt (Verjährungsbeginn); Steuerhinterziehung (Kompensationsverbot); Revisionserstreckung bei Verjährung und Einziehung.

§ 266a Abs. 1 StGB; § 370 Abs. 1 AO; § 150 AO; § 267 Abs. 1 StGB; § 357 StPO

1. Im Grundsatz setzt das Herstellen (und anschließende Gebrauchmachen von) einer unechten Urkunde voraus, dass der Täter über den Aussteller der Urkunde täuscht, mithin die Urkunde nicht von derjenigen Person stammt, der aus ihr als Aussteller hervorgeht (Identitätstäuschung). Der aus der Urkunde erkennbare Aussteller will sich in diesen Fällen die Urkunde tatsächlich nicht als

Urheber zurechnen lassen. Insoweit kann es der Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 StGB entgegenstehen, wenn der aus der Urkunde erkennbare Aussteller mit dem Nachmachen seiner Unterschrift einverstanden ist.

2. Indes ist ein solches Einverständnis des sich aus der Urkunde ergebenden Ausstellers wirkungslos, wenn Gesetzesvorschriften eine eigenhändige Unterschriftsleistung vorsehen. Wenn aufgrund einer solchen gesetzlichen Anordnung dem Vertretenen die rechtliche Befugnis zu einer Ermächtigung entzogen worden ist, muss sich dies auf die Auslegung der Strafvorschrift der Urkundenfälschung auswirken; denn geschütztes Rechtsgut sind die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Urkunden. Eine Urkunde ist demnach auch dann unecht, wenn dem Urkundenaussteller die Befugnis zur Ermächtigung zur rechtlichen Vertretung fehlt (vgl. BGHSt 33, 159, 161 f.).

3. Für die Beendigung des uneigentlichen Organisationsdelikts gelten die gleichen Grundsätze wie für die gesetzlich normierten „eigentlichen“ Organisationsdelikte. Damit läuft die Verjährung für alle Einzelfälle innerhalb eines Organisationsdelikts einheitlich.

4. Allerdings darf die über das uneigentliche Organisationsdelikt gebildete rechtliche Handlungseinheit im Rahmen der Verjährungsprüfung nicht zur Umgehung des Zweifelsgrundsatzes führen. Danach bestimmt sich „in dubio pro reo“ die Frage der Verfolgungsverjährung bei einem nicht eindeutig feststellbaren Tatbeendigungszeitpunkt nach der für den Angeklagten günstigeren Fallkonstellation (st. Rspr.). Dies kann sich dann auswirken, wenn in Frage steht, ob der organisierende Hintermann innerhalb der Tatserie neben seinem Organisationsbeitrag doch Beiträge leistete, die sich nur auf bestimmte Taten beziehen. Die Verjährung solcher individuell geförderten Taten würde sich dann nach Beendigung der Einzeltat bestimmen, auch wenn die Tatserie andauert.

5. Ein Vermögensschaden i.S.d. § 263 Abs. 1 StGB liegt bei einer durch Täuschung erlangten Geldzahlung nicht vor, wenn dem Täter gegen den Vermögensinhaber aus einem anderen Grund ein bereicherungsrechtlicher Anspruch zusteht. Denn in diesem Fall führt die irrtumsbedingte Vermögensminderungen gleichzeitig in entsprechender Höhe zu einer Befreiung von der bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsverbindlichkeiten wegen Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB).

6. § 357 Satz 1 StPO ist beim Verfahrenshindernis der Verjährung anzuwenden und gilt in entsprechender Anwendung für Einziehungsbeteiligte.


Entscheidung

29. BGH 5 StR 124/20 – Urteil vom 11. November 2020 (LG Lübeck)

Mord (Heimtücke; für die Tatausführung getroffene Vorkehrungen; Fortwirken; Erschwerung von Verteidigungsmöglichkeiten; Ausnutzungsbewusstsein; Spontaneität des Tatentschlusses; niedrige Beweggründe; Tötung der ehemaligen Partnerin aus Eifersucht; Besitzdenken; ambivalente Gefühle; Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland).

§ 211 StGB

1. Bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat kann sich das Mordmerkmal der Heimtücke aus Vorkehrungen ergeben, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen. Voraussetzung ist, dass solche (etwa mit der Wahl von Tatort und -zeit) für die Tatausführung getroffenen Vorkehrungen beim Opfer zu einer vorgreifenden und im Tatzeitpunkt fortwirkenden Erschwerung von Verteidigungsmöglichkeiten führen, die der Angeklagte ausnutzt.

2. Ein Ausnutzungsbewusstsein kann bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt. Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat. Allerdings kann die Spontaneität eines Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte einer Tat und einem psychischen Ausnahmezustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlt.

3. Gefühlsregungen wie Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht kommen nur dann als niedrige Beweggründe (§ 211 StGB) in Betracht, wenn sie nicht menschlich verständlich, sondern Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind. Dabei ist der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt. Eifersucht und Wut darüber, die ehemalige Partnerin nicht für sich gewinnen zu können, sind regelmäßig als niedrig einzustufen, wenn sie ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen.


Entscheidung

80. BGH 4 StR 422/19 – Beschluss vom 18. November 2020 (LG Essen)

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (sexuelle Handlungen zwischen einer über 21 Jahren und einer unter 16 Jahren alten Person: fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung, wertende Gesamtbetrachtung, Merkmal des Ausnutzens).

§ 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB

1. Nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB wird bestraft, wer – als Person über 21 Jahren – eine Person unter 16 Jahren dadurch missbraucht, dass er sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr an sich vornehmen lässt und dabei die ihm gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt. Das vom Tatbestand vorausgesetzte Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung dem Täter gegenüber ergibt sich nicht schon allein aus dem Umstand, dass die betroffene jugendliche Person unter 16 Jahre alt ist, sondern bedarf der konkreten Feststellung im Einzelfall.

2. Dabei ist wertend zu beurteilen, ob der Jugendliche im Zeitpunkt der Tatbegehung nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug war, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln in Bezug auf den (erwachsenen) Täter danach auszurichten. Ersteres wird dann zweifelhaft sein, wenn das ju-

gendliche Opfer – etwa durch Retardierung im intellektuellen Bereich oder ausgeprägte soziale Fehlentwicklungen bedingt – einen bedeutenden Mangel an Urteilsvermögen aufweist. Die Fähigkeit zur sexuellen Autonomie gegenüber dem Täter kann im Einzelfall auch fehlen, wenn die Beziehung zwischen ihm und dem Jugendlichen auf eine sexuelle Beherrschung angelegt ist oder der Täter sich – durch dominantes oder manipulatives Auftreten – unlauterer Mittel der Willensbeeinflussung bedient. Ein weiteres Indiz für das Bestehen eines solchen „Machtgefälles“ kann auch ein erheblicher Altersunterschied sein.

3. Das Merkmal des Ausnutzens ist erfüllt, wenn sich der Täter die Unreife seines Opfers mit seinem unlauteren Verhalten bewusst zunutze macht.


Entscheidung

15. BGH 1 StR 344/20 – Beschluss vom 29. Oktober 2020 (LG Ravensburg)

Gewerbsmäßiger Betrug (Erzielen tätereigener Vorteile aus der Tat).

§ 263 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB

Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer verschaffen will (st. Rspr.). Gewerbsmäßigkeit setzt daher stets – im Unterschied zu den Voraussetzungen des Betrugstatbestandes – eigennütziges Handeln und damit tätereigene Einnahmen voraus. Zwar ist das Erstreben von Geldmitteln nicht unbedingt erforderlich; so kann es etwa genügen, dass der Täter die Tatbeute für sich verwendet, indem er sie zur Deckung eigener Bedürfnisse einsetzt und eigene Aufwendungen erspart. Aber auch dann ist für die Annahme einer gewerbsmäßigen Begehungsweise erforderlich, dass der Täter die Nutzungsvorteile erzielt.