HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2017
18. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

784. BGH 2 StR 247/16 – Urteil vom 26. April 2017 (LG Limburg)

BGHSt; Durchsuchung bei Beschuldigten; Verfahren bei der Durchsuchung (Rechtmäßigkeit sogenannter legendierter Kontrollen: kein Vorrangverhältnis zwischen Strafprozessordnung und Polizei- und Ordnungsrecht; Gefahr der Umgehung strafprozessualer Voraussetzungen); Vernehmung des Beschuldigten (Belehrung des Beschuldigten durch Vernehmende; Zulässigkeit der Beschränkung der Belehrung bei tateinheitlich begangenen Taten); Recht auf ein faires Verfahren (Gebot der Aktenwahrheit und Aktenvollständigkeit; Gewährleistung eines justizförmigen Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft).

§ 102 StPO; § 105 StPO; § 152 Abs. 2 StPO; § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 163a Abs. 4 Satz 1 StPO; Art. 6 Abs. 1 EMRK

1. Es gibt weder einen allgemeinen Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch

umgekehrt. Die Polizei kann auch während eines bereits laufenden Ermittlungsverfahrens aufgrund präventiver Ermächtigungsgrundlagen zum Zwecke der Gefahrenabwehr tätig werden. (BGHSt)

2. Ob auf präventiv-polizeilicher Grundlage gewonnene Beweise im Strafverfahren verwendet werden dürfen, bestimmt sich nach § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO. (BGHSt)

3. Die Gefahr der bewussten Umgehung strafprozessualer Voraussetzungen bzw. der Aushöhlung von Beschuldigtenrechten wird erst bedeutsam, wenn es um die Verwertbarkeit der präventivpolizeilich gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren geht und rechtfertigt nicht die Annahme eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorrangs des Strafprozessrechts vor dem Gefahrenabwehrrecht. (Bearbeiter)

4. Eine rechtsmissbräuchliche Umgehung der Anordnungsvoraussetzungen der strafprozessualen Eingriffsmaßnahme durch die Wahl der Maßnahme wird durch den Rückgriff auf hypothetische Erwägungen verhindert. Eine solche Umgehung liegt etwa vor, wenn Gefahrenabwehrrecht zur Legitimierung einer in Wahrheit bezweckten Strafverfolgungsmaßnahme vorgeschoben wird, weil in Wirklichkeit keine Gefahrenabwehr bezweckt wird. Entsprechendes gilt, wenn eine gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme nur deshalb gewählt wird, weil eine vergleichbare Maßnahme nach der Strafprozessordnung nicht möglich wäre, z.B. weil die Annahme bestanden hätte, dass ein Ermittlungsrichter einen nach der Strafprozessordnung erforderlichen Beschluss aus einem anderen Grund nicht erlassen hätte. (Bearbeiter)

5. Grundsätzlich gelten für die Belehrung eines Beschuldigten dieselben Regeln, gleichgültig ob er von einem Richter, einem Staatsanwalt oder von einem Polizeibeamten vernommen wird. Eine Ausnahme gilt lediglich insoweit, als ein Polizeibeamter, anders als ein Richter oder Staatsanwalt, nicht verpflichtet ist, die möglichen Strafvorschriften zu nennen. Der Tatvorwurf muss dem Beschuldigten in groben Zügen so weit erläutert werden, dass er sich sachgerecht verteidigen kann, jedoch nicht so weit, dass die Aufklärung des Sachverhalts und damit die Effektivität der Strafverfolgung darunter leiden. So ist der Vernehmende nicht verpflichtet, dem Beschuldigten alle bis dahin bereits bekannten Tatumstände mitzuteilen; insbesondere hat der Vernehmende hinsichtlich der Ausgestaltung der Eröffnung im Einzelnen einen gewissen Beurteilungsspielraum. (Bearbeiter)

6. Zwar kann bei mehreren Taten die Vernehmung zunächst auf nur eine Tat beschränkt werden, sofern insoweit eine Trennung sachlich möglich ist. Ob das auch gilt, wenn zwei Betäubungsmittelstraftaten – wie Einfuhr und Handeltreiben – tateinheitlich begangen werden, ist zweifelhaft, kann hier aber dahinstehen. Der Senat muss ebenfalls nicht entscheiden, ob die – möglicherweise unzulängliche – Belehrung überhaupt das Aussageverhalten des Beschuldigten beeinflusst hat und damit ein Verwertungsverbot begründen könnte. (Bearbeiter)

7. Grundsätzlich muss sich aus den Akten ergeben, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden sind und welchen Erfolg sie gehabt haben. Zwar besteht bei Gefährdung des Untersuchungszwecks die Möglichkeit, dem Verteidiger vor Abschluss der Ermittlungen die Einsicht in die Akten insgesamt oder teilweise zu versagen. Jedoch muss das im Vorverfahren tätige Gericht den Gang des Verfahrens ohne Abstriche nachvollziehen können, denn es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen. (Bearbeiter)

8. Eine etwaige Aktenunvollständigkeit hat die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens zu vertreten. Sie hat für ein justizförmiges Verfahren – auch durch ihre Ermittlungspersonen – zu sorgen. Sie trägt die Grundverantwortung für die rechtlich einwandfreie Beschaffung der Beweismittel. (Bearbeiter)

9. Das wiederum setzt eine umfassende und vollständige Information der ermittelnden Staatsanwaltschaft durch die Polizei voraus. Zwar entscheidet die Polizei grundsätzlich in eigener Verantwortung, ob sie auf präventiver Grundlage tätig wird. Ob und in welcher Weise dabei angefallene Erkenntnisse als Beweismittel in das Strafverfahren eingeführt werden, obliegt jedoch einzig der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die deshalb über etwaige Hintergründe von polizeilichen Ermittlungen bzw. präventiver Maßnahmen nicht im Unklaren gelassen werden darf. (Bearbeiter)

10. In einer Fallgestaltung der sog. legendierten Kontrolle genügt es zur Rüge eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren nicht, wenn die Umgehung des strafprozessualen Richtervorbehalts geltend gemacht wird. (Bearbeiter)


Entscheidung

742. BGH StB 26 und 28/14 – Beschluss vom 26. Januar 2017 (OLG Düsseldorf)

BGHR; nachträglicher Rechtsschutz gegen erledigte polizeiliche Überwachungsmaßnahmen nach dem BKAG (Verwaltungsrechtsweg; ordentliche Gerichtsbarkeit; Rechtswegspaltung; Richtervorbehalt; Feststellungsinteresse); vorübergehende Weitergeltung verfassungswidriger Normen des BKAG; heimlicher Zugriff auf beim Provider gespeicherte E-Mails (Beschlagnahme; Sicherstellung; Fernmeldegeheimnis; „emergency request“; Rechtshilfe; Fernmeldegeheimnis; Benachrichtigung des Betroffenen; Internet-Provider); „Surfen“ als Telekommunikation im strafprozessualen Sinne (Überwachung von E-Mail-Accounts).

§ 100a Abs. 1 StPO; § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO; § 20v Abs. 2 Satz 2 BKAG; § 20w Abs. 2 Satz 2 BKAG; § 23 Abs. 1 EGGVG; Art. 10 GG

1. Für den nachträglichen Rechtsschutz gegen bereits erledigte verdeckte polizeiliche Überwachungsmaßnahmen zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus nach §§ 20g bis 20n BKAG ist nicht der ordentliche, sondern ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet; das gilt auch, wenn wegen des zugrundeliegenden Sachverhalts ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird und somit gemäß § 20w Abs. 2 Satz 2 BKAG die Benachrichtigung der von diesen Überwachungsmaßnahmen betroffenen Personen durch die

Strafverfolgungsbehörde entsprechend den Vorschriften des Strafverfahrensrechts durchzuführen ist. (BGHR)

2. Die Rechtmäßigkeit der Anordnung der in den §§ 20g ff. BKAG geregelten heimlichen Informationseingriffe sowie der Art und Weise ihres Vollzugs ist nicht in dem Verfahren nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO zu überprüfen. Tauglicher Gegenstand dieses Verfahrens sind ausschließlich die in § 101 Abs. 1 StPO aufgeführten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen; der Katalog ist abschließend. Etwas Abweichendes ergibt sich insbesondere nicht aus § 20w Abs. 2 Satz 2 BKAG, der lediglich die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Benachrichtigung der von den verdeckten Ermittlungsmaßnahmen betroffenen Personen gemäß § 101 Abs. 4 bis Abs. 7 Satz 1 StPO, nicht aber auch die Eröffnung des gerichtlichen Verfahrens nach § 107 Abs. 7 Satz 2 StPO bewirkt. (Bearbeiter)

3. Auch hinsichtlich der dem Richtervorbehalt unterliegenden Maßnahmen nach dem Unterabschnitt 3a des zweiten Abschnitts des Bundeskriminalamtgesetzes eröffnet § 20v Abs. 2 BKAG nicht den nachträglichen Rechtsschutz gegen die (erledigten) heimlichen Überwachungsmaßnahmen der §§ 20g ff. BKAG. Soweit in Rechtsprechung und Literatur demgegenüber zu anderen polizeirechtlichen Regelungen, in denen hinsichtlich des Verfahrens der richterlichen Anordnung auf die Vorschriften der freiwilligen Gerichtsbarkeit verwiesen wird, die Auffassung vertreten wird, dass gegen diese Maßnahmen auch im Fall ihrer Erledigung der Rechtsschutz der Betroffenen in dem Verfahren nach den Vorschriften über die freiwillige Gerichtsbarkeit – auch in Bezug auf Art und Weise des Vollzugs der polizeilichen Maßnahmen – zu verwirklichen sei, vermag sich der Senat dem jedenfalls für die auf §§ 20g ff. BKAG beruhenden heimlichen Überwachungsmaßnahmen nicht anzuschließen. (Bearbeiter)

4. Die erforderliche Gewährleistung eines einheitlichen Rechtswegs bzw. die Vermeidung von Rechtswegspaltungen für den nachträglichen Rechtsschutz ist nicht durch eine erweiternde Auslegung der Vorschriften des FamFG umzusetzen. Dabei kann offenbleiben, ob es sich überhaupt überzeugend begründen ließe, die Beschwerdemöglichkeit auch auf die Art und Weise des Vollzugs der gerichtlich angeordneten Maßnahme und die Drittbetroffenen zu erstrecken. Diese Lösung versagt jedenfalls im Hinblick auf die Überprüfung solcher Maßnahmen aus dem Katalog des § 20w Abs. 1 BKAG, die keinem Richtervorbehalt unterliegen und damit von vornherein nicht in den Anwendungsbereich des § 20v Abs. 2 BKAG fallen. Demgegenüber trägt das Verwaltungsprozessrecht dem von der Verfassung geforderten nachträglichen Rechtsschutz mit der Möglichkeit der Feststellungs- und Fortsetzungsfeststellungsklage, für die in den Fällen grundrechtsintensiver Eingriffe in der Regel ein Feststellungsinteresse anzuerkennen ist, angemessen Rechnung. (Bearbeiter)

5. Die Bindungswirkung des § 17a Abs. 5 GVG betrifft lediglich den Rechtsweg und die sachliche sowie örtliche Zuständigkeit des Ausgangsgerichts; die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen hat das Rechtsmittelgericht in eigener Kompetenz zu überprüfen. Dabei hat das Rechtsmittelgericht ebenso wie das durch eine bindende Verweisung zuständig gewordene Gericht den Rechtsstreit nach der Verfahrensordnung seiner Gerichtsbarkeit fortzuführen. (Bearbeiter)

6. Unter anderem im Hinblick darauf, dass die Regelung in § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 BKAG dem Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung nur unzureichend Rechnung trägt, ist die Norm aufgrund ihrer Weite verfassungswidrig (näher BVerfG NJW 2016, 1781). Dies führt indes nicht zur Unwirksamkeit der in der Vergangenheit auf sie gestützten Datenübermittlungen. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gilt die Vorschrift vielmehr – wenngleich für die aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen erlangten Daten nur mit Einschränkungen – bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2018 fort. Aufgrund dieser Weitergeltungsanordnung ist § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 BKAG weiterhin anwendbar mit der Folge, dass die auf diese Regelung gestützten Rechtsakte – vorbehaltlich der sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen – ihre Gültigkeit behalten. (Bearbeiter)

7. Im Unterschied zu den im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Inhalten und Umständen einer Kommunikation unterfällt der zugangsgesicherte Kommunikationsinhalt in einem E-Mail-Postfach, auf das der Nutzer nur über eine Internetverbindung zugreifen kann, dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses gem. Art. 10 Abs. 1 GG (näher BVerfG HRRS 2009 Nr. 800). Der effektive Schutz dieses Grundrechts bedarf beim strafprozessualen Zugriff auf solche E-Mails auch einer den sachlichen Erfordernissen entsprechenden Ausgestaltung des Verfahrens. Hierbei ist insbesondere die Unterrichtung des Betroffenen über den Zugriff auf seinen E-Mail-Bestand von maßgeblicher Bedeutung. (Bearbeiter)

8. Strafprozessual ermöglichen die §§ 94 ff. StPO die Sicherstellung und Beschlagnahme entsprechender E-Mails (BVerfG aaO). In zeitlicher Hinsicht verfassungsrechtlich erforderlich ist zum Schutz des Postfachinhabers, in dessen Grundrechte durch den Zugriff auf den E-Mail-Bestand eingegriffen wird, dass er spätestens vor Durchführung der Maßnahmen hierüber unterrichtet wird, damit er bei der Sichtung seines E-Mail-Bestandes seine Rechte wahrnehmen kann. Einfachrechtlich wird dies durch § 35 StPO umgesetzt. Eine Zurückstellung der Benachrichtigung ist gesetzlich nicht vorgesehen und führt zur Rechtsfehlerhaftigkeit der Sicherstellung bzw. der Beschlagnahme. (Bearbeiter)

9. Unter den Begriff der „Telekommunikation“ i.S.d. § 100a Abs. 1 StPO fällt auch die Nutzung des Internets im Wege der Internettelefonie, des E-Mail-Verkehrs oder allgemein des „Surfens“ (so BVerfG HRRS 2016 Nr. 860), weshalb auch die Überwachung von E-Mail-Accounts durch § 100a Abs. 1 StPO gedeckt ist. (Bearbeiter)

10. Der Richtervorbehalt der §§ 20l, 20m BKAG besteht nicht in erster Linie im Interesse des Telekommunikationsanbieters. Vielmehr trägt er insbesondere den mit der staatlichen Maßnahme einhergehenden Beeinträchtigun-

gen der Telekommunikationsnutzer Rechnung. Ohne deren Zustimmung darf das Bundeskriminalamt den Internet-Provider daher nicht zu einer Überlassung der Daten veranlassen und hierdurch die Voraussetzungen der §§ 20l, 20m BKAG bzw. diejenigen eines Vorgehens im Wege der Rechtshilfe umgehen. (Bearbeiter)

11. Dass Daten rechtswidrig erhoben wurden, steht ihrer zweckändernden strafverfahrensrechtlichen Verwendung nach der – verfassungsgerichtlich bestätigten (vgl. BVerfG HRRS 2012 Nr. 27) – Rechtsprechung des BGH nicht von vornherein entgegen. Entsprechend den Grundsätzen zu den sog. relativen Verwertungsverboten bedarf es in diesen Fällen allerdings einer Abwägung im Einzelfall, ob die Rechtswidrigkeit der Datenerhebung auch die zweckändernde Verwendung – hier: zur Begründung verdeckter grundrechtsintensiver Ermittlungsmaßnahmen – verbietet. Dies gilt hinsichtlich § 20l und § 20m BKAG auch für Daten, die nicht im deutschen Hoheitsgebiet erhoben werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

750. BGH 1 BGs 148/17 (3 BJs 10/16-2) – Beschluss vom 28. Juni 2017

BGHR; Durchsuchung bei einem Dritten (Bekanntgabe der Gründe: ausnahmsweise Entbehrlichkeit bei Gefährdung des Untersuchungszwecks, regelmäßig zwingende Bekanntgabe der Gründe für eine hinreichende Auffindewahrscheinlichkeit).

§ 36 Abs. 2 StPO; § 103 StPO

1. Dem von einer Durchsuchungsmaßnahme nach § 103 StPO betroffenen Dritten ist grundsätzlich bei Vollzug der Maßnahme eine Ausfertigung des Anordnungsbeschlusses mit vollständiger Begründung auszuhändigen. (BGHR)

2. Die Bekanntgabe der (vollständigen) Gründe kann in Ausnahmefällen bei einer Gefährdung des Untersuchungserfolgs oder entgegenstehender schutzwürdiger Belange des Beschuldigten vorläufig zurückgestellt werden. (BGHR)

3. Die Zurückstellung der Bekanntgabe umfasst jedoch im Regelfall nicht die Mitteilung der Tatsachen, aus denen sich die Wahrscheinlichkeit ergibt, dass sich die gesuchten Gegenstände in den Räumlichkeiten des Drittbetroffenen befinden. (BGHR)

4. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks kann bei einer Maßnahme gegen einen Dritten im Sinne des § 103 StPO unter anderem dann in Betracht kommen, wenn dieser im Anschluss an die Durchsuchungsmaßnahme als Zeuge vernommen werden soll und daher die Gefahr besteht, dass die Bekanntgabe der vollständigen Gründe der Durchsuchungsanordnung den Inhalt der Aussage beeinflussen könnte. (Bearbeiter)

5. Neben der Gefährdung des Untersuchungszweckes können im Falle einer Durchsuchung bei einem Dritten der sofortigen Bekanntgabe der vollständigen Gründe aber auch schutzwürdige Belange des Beschuldigten entgegenstehen. Eine Bekanntgabe des vollständigen Tatvorwurfes gegen den Beschuldigten in diesem Verfahrensstadium kann gerade im Fall besonders stigmatisierender Sachverhalte oder sensibler Beziehungen zu dem Drittbetroffenen, wie etwa im Fall einer Durchsuchung bei dem Arbeitgeber oder Geschäftspartner des Beschuldigten, zu einer irreparablen Brandmarkung des Beschuldigten führen und zunächst zurückzustellen sein. (Bearbeiter)


Entscheidung

813. BGH 4 StR 151/17 – Urteil vom 22. Juni 2017 (LG Essen)

Rechtsmittelbegründung (Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft); Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung (Voraussetzungen bei mehreren Betroffenen). Nr. 156 Abs. 2 RiStBV; § 46a StGB

1. Die ist Staatsanwaltschaft gehalten, keine allgemeinen Sachrügen zu erheben und Revisionen so zu begründen, dass klar ersichtlich ist, in welchen Ausführungen des angefochtenen Urteils eine Rechtsverletzung gesehen und auf welche Gründe diese Rechtsauffassung gestützt wird.

2. Es reicht für die Annahme eines erfolgreichen Täter-Opfer-Ausgleichs nicht aus, dass dessen Voraussetzungen nur mit Blick auf einen Geschädigten gegeben sind. Vielmehr muss, wenn durch eine Straftat mehrere Opfer betroffen werden, nach ständiger Rechtsprechung hinsichtlich jedes Geschädigten zumindest eine Variante des § 46a StGB erfüllt sein.


Entscheidung

729. BGH 3 StR 511/16 – Beschluss vom 18. Mai 2017 (LG Wuppertal)

Mitteilungs- und Transparenzpflichten bei verständigungsbezogenen Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung (Geständnisbereitschaft; sonstiges prozessuales Verhalten des Angeklagten; „Anbieten“ eines Strafmilderungsgrundes; Inaussichtstellen einer „angedachten“ Strafe; wesentlicher Gesprächsinhalt; Transparenzgebot; Beruhen); Verhältnis von Verstößen gegen einfachgesetzliche Verfahrensvorschriften und Verletzung des Rechts auf faires Verfahren.

§ 202a StPO; § 212 StPO; § 243 Abs. 4 S. 1 StPO; § 257c StPO; § 337 StPO; Art. 6 EMRK

1. Ein gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO mitzuteilendes verständigungsbezogenes Gespräch liegt nicht nur vor, wenn die Frage nach der Geständnisbereitschaft mit der Nennung einer konkreten Rechtsfolge (hier: Freiheitsstrafe „im bewährungsaussetzungsfähigen Bereich“) verknüpft wird, sondern auch dann, wenn sonstiges prozessuales Verhalten des Angeklagten bzw. seines Verteidigers (hier: das „Anbieten“ eines möglichen Strafmilderungsgrunds, um zu einer doppelten Strafrahmenmilderung zu gelangen) angeregt und im Anschluss daran die Bereitschaft des Gerichts erklärt wird, eine bestimmte „angedachte“ Strafe zu verhängen.

2. Um dem Transparenzgebot gerecht zu werden, ist nicht nur der Umstand mitzuteilen, dass es solche Erörterungen gegeben hat, sondern auch deren wesentlicher Inhalt. Hierzu gehört regelmäßig, welche Standpunkte von den einzelnen Gesprächsteilnehmern vertreten worden sind, welche Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen hat und ob sie bei anderen Gesprächsteil-

nehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Verständigung im Sinne des § 257c Abs. 3 StPO zustande gekommen ist.

3. Der Senat neigt der Auffassung zu, dass sich die Geltendmachung etwaiger Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren vor den Fachgerichten sowie die Prüfung im Rechtsmittelverfahren, soweit sie zugleich Verstöße gegen einfachgesetzliche Vorschriften des Strafverfahrensrechts darstellen, nach den für den jeweiligen Rechtsverstoß geltenden Regeln richten; ein Rückgriff auf das Fairnessgebot ist weder erforderlich noch methodisch angezeigt.


Entscheidung

728. BGH 3 StR 498/16 – Beschluss vom 3. Mai 2017 (OLG Düsseldorf)

Anforderungen an das Rügevorbringen bei der Rüge der Unverwertbarkeit von nach dem G-10-Gesetz gewonnenen Erkenntnissen (Angriffsrichtung; fehlende Überprüfbarkeit der Vertretbarkeit der Anordnung; Unterlassen gebotener Aufklärungsmaßnahmen; Sperrerklärung; Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesministeriums des Innern).

§ 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10; § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 G 10; § 4 Abs. 4 Nr. 2 G 10; § 96 StPO; § 161 Abs. 2 StPO; § 344 StPO

1. Das Tatgericht hat die Verfahrenstatsachen, die für die Beurteilung der Verwertbarkeit der Ergebnisse einer nach dem G-10-Gesetz angeordneten Telekommunikationsüberwachung maßgebend sind, aufzuklären und zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Das gilt auch dann, wenn die Erkenntnisse in einem fremden Verfahren angefallen sind. In einem solchen Fall sind regelmäßig Akten oder Aktenbestandteile dieses anderen Verfahrens in dem für die Beurteilung der Verwertbarkeit erforderlichen Umfang auszuwerten. Unterlässt das Tatgericht eine mögliche und zur Aufklärung gebotene Maßnahme, begründet dies einen eigenständigen Rechtsfehler.

2. Verweigert das Bundesamt für Verfassungsschutz die Vorlage einschlägiger Dokumente, ist das Tatgericht regelmäßig zur Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesministeriums des Innern verpflichtet. Dieses allein ist nach § 96 StPO als oberste Dienstbehörde des Bundesamts für Verfassungsschutz zu einer strafprozessual beachtlichen Sperrerklärung befugt. Dort ist ggf. eine Gegenvorstellung zu erheben.

3. Wird das Unterlassen gebotener Aufklärungsmaßnahmen mit der Revision gerügt, so ist diese Angriffsrichtung in der Revisionsbegründung deutlich zum Ausdruck zu bringen und in der Regel vorzutragen, zu welchen Maßnahmen Anlass bestanden hätte.


Entscheidung

789. BGH 2 StR 428/16 – Beschluss vom 31. Mai 2017 (LG Gießen)

Beweiskraft des Protokolls (vorgeschriebene Förmlichkeiten: Wiederherstellung der Öffentlichkeit).

§ 272 Nr. 5 StPO; § 274 StPO

1. Die Wiederherstellung der Öffentlichkeit gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten, für welche die besondere Beweiskraft des Protokolls gilt.

2. Während für die Anberaumung des Fortsetzungstermins die Öffentlichkeit nicht wiederhergestellt werden muss, liegt in der Nichtwiederherstellung der Öffentlichkeit vor Einnahme des Augenscheins und Äußerung des Angeklagten jeweils ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit.

3. Zwar deckt ein Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit für den Zeitraum der Vernehmung einer Beweisperson auch die im Zusammenhang mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stehenden oder sich aus ihr entwickelnden Verfahrensvorgänge ab. Die hier in Augenschein genommenen Lichtbilder hatten jedoch ersichtlich keinen Bezug zum Inhalt des erstatteten Gutachtens und zu den zeugenschaftlichen Bekundungen des Sachverständigen. Auch erfolgte die Inaugenscheinnahme ausweislich des Protokolls „mit dem Angeklagten und den übrigen Verfahrensbeteiligten“, zu denen der Sachverständige nach seiner prozessualen Funktion als persönliches Beweismittel begrifflich nicht gehört.


Entscheidung

821. BGH 4 StR 355/16 – Beschluss vom 6. Juni 2017 (LG Essen)

Untersuchungsgrundsatz (Erhebung weiterer Beweise aufgrund begründeter Zweifel); Revisionsbegründung.

§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 StPO

1. Das Gericht hat Beweise nur dann von Amts wegen zu erheben, wenn ihm aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung noch Umstände oder Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der auf Grund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten Überzeugung wecken müssen.

2. Diese Umstände sind von dem Revisionsführer in ausreichender Form darzulegen.


Entscheidung

732. BGH 3 StR 556/16 – Beschluss vom 3. Mai 2017 (LG Düsseldorf)

Verjährungsbeginn beim Missbrauch von Schutzbefohlenen (keine rückwirkende Anwendung der gesetzlichen Neuregelung bei bereits eingetretener Verjährung im Zeitpunkt des Inkrafttretens).

§ 174 Abs. 1 StGB; § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB; § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1805) bzw. vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10) gilt rückwirkend auch für vor dem Inkrafttreten der jeweiligen Gesetze begangene Taten. Die Anwendung ist indes ausgeschlossen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Änderungsgesetze – am 30. Juni 2013 bzw. 27. Januar 2015 – bereits Verjährung eingetreten war.


Entscheidung

759. BGH 2 StR 92/17 – Urteil vom 28. Juni 2017 (LG Aachen)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Beeinflussung von Zeugen als zulässiges belastendes Indiz); Freiheitsberaubung (Verhältnis zum Raub: ausnahmsweise Tateinheit); Strafzumessung (nur ausnahmsweise strafmildernde Berücksichtigung von erlittener Untersuchungshaft, erforderliche Darstellung im Urteil).

§ 261 StPO; § 239 Abs. 1 StGB; § 249 Abs. 1 StGB; § 46 StGB; § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Es ist rechtlich unbedenklich, wenn das Tatgericht eine festgestellte versuchte Einflussnahme des Angeklagten auf einen Belastungszeugen während laufender Hauptverhandlung als ein den Angeklagten belastendes Indiz bewertet.

2. Zwar tritt § 239 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter den Tatbestand des Raubes (§ 249 StGB) zurück, wenn die Freiheitsberaubung nur das tatbestandliche Gewaltmittel zur Begehung des Raubes ist (vgl. BGH StV 2015, 113). Anders kann es aber liegen, wenn der Angeklagte das Tatopfer während des mehraktigen Raubgeschehens über einen Zeitraum von 15 bis 20 Minuten an Händen und Füßen fesselt, nachdem er es bedroht und massiv körperlich misshandelt hat. Die Annahme von Tateinheit begegnet dann keinen rechtlichen Bedenken.

3. Untersuchungshaft ist, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund; sie wird gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet. Anderes gilt nur in Fällen, in denen der Vollzug von Untersuchungshaft ausnahmsweise mit ungewöhnlichen, über das übliche Maß deutlich hinausgehenden Beschwernissen verbunden ist (vgl. BGH NStZ-RR 2017, 40, 42). Will der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Angeklagten den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt werden.


Entscheidung

731. BGH 3 StR 548/16 – Urteil vom 6. April 2017 (LG Hildesheim)

Sachlich-rechtlicher Mangel bei Verstoß gegen die allgemeine Kognitionspflicht (Prüfung des angeklagten Sachverhalts unter allen rechtlichen Gesichtspunkten); Sich verschaffen kinderpornographischer Schriften als Unternehmensdelikt (eigenhändiges Anfertigen einer Abbildung eines in eindeutig sexualbezogener Handlung posierenden Kindes); Abweichung von der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen bei der vorbehaltenen Anordnung der Sicherungsverwahrung (Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Sachverständigen; tragfähige und nachvollziehbare Begründung); Ermessensausübung bei Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung.

§ 261 StPO; § 264 StPO; § 66 StGB; § 184b Abs. 3 StGB

1. Die umfassende gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen.

2. § 184b Abs. 3 StGB ist als Unternehmensdelikt ausgestaltet. Das heißt, dass zur Erfüllung des Tatbestandes allein der Versuch vorausgesetzt ist (§ 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB), sich in den Besitz einer kinderpornografischen Schrift, wie sie auch die Abbildung eines in eindeutig sexualbezogener Haltung posierenden Kindes darstellt, zu bringen. Dies kann auch durch eigenhändiges Anfertigen entsprechender Fotoaufnahmen geschehen.

3. Der Tatrichter ist nicht grundsätzlich daran gehindert, von der Einschätzung eines psychiatrischen Sachverständigen abzuweichen (hier bzgl. des Vorliegens einer hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit). Er muss sich dann aber bei seiner Beurteilung konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen und seine Auffassung tragfähig sowie nachvollziehbar begründen.


Entscheidung

734. BGH 5 StR 149/17 – Beschluss vom 31. Mai 2017 (LG Hamburg)

Sachlich-rechtlich fehlerhafte Beweiswürdigung (Sachverständigengutachten; Darlegung der wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachters; kein pauschaler Verweis auf DNA-Gutachten; Identifizierung des Angeklagten anhand von Videoaufzeichnungen).

§ 261 StPO

Für die mit Blick auf § 261 StPO sachlich-rechtlich fehlerfreie Feststellung der Identität des Angeklagten mit einer Person, die von Videoaufzeichnungen erfasst wurde, genügt die pauschale Mitteilung des Ergebnisses einer vergleichenden Betrachtung in der Regel nicht. Vielmehr ist dies anhand von Einzelmerkmalen des äußeren Erscheinungsbildes wie etwa der konkreten Körpergröße oder Kopfform zu belegen.


Entscheidung

760. BGH 2 StR 572/16 – Beschluss vom 27. Juni 2017 (LG Darmstadt)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Darstellung im Urteil: molekulargenetische Vergleichsuntersuchung).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO; § 81e Abs. 1 StPO

1. Die Darstellung der Ergebnisse einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung im Urteil ist so auszugestalten, dass die Wahrscheinlichkeitsberechnung für das Revisionsgericht nachvollziehbar ist. Insoweit ist es in Fällen, die keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen, ausreichend, wenn der Tatrichter in den Urteilsgründen mitteilt, wie viele Systeme untersucht worden sind, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 87, 88).

2. Für die Darstellung der Bewertung von Mischspuren, also von Spuren, die mehr als zwei Allele in einem DNA-System aufweisen, können jedoch je nach den Umständen des konkreten Einzelfalls strengere Anforderungen gelten (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 118, 119). Dabei wird sich regelmäßig die Angabe empfehlen, wie viele Spurenverursacher in Betracht kommen und um welchen Typ von Mischspur es sich handelt (vgl. BGH NStZ-RR 2017, 91, 92).


Entscheidung

745. BGH 1 StR 35/17 – Beschluss vom 11. Mai 2017 (LG München II)

Letztes Wort des Angeklagten (Wiedereintritt in die Hauptverhandlung für eine teilweise Verfahrenseinstellung).

§ 258 StPO; § 154 Abs. 2 StPO

Nach einem Wiedereintritt in die Hauptverhandlung für eine teilweise Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ist dem Angeklagten erneut das letzte Wort zu gewähren. Jeder Wiedereintritt in die Verhandlung nimmt den Ausführungen des Angeklagten die rechtliche Bedeutung als Schlussvortrag und letztes Wort, so dass § 258 StPO nach jedem Wiedereintritt erneut zu beachten ist (vgl. BGHSt 22, 278). Diese Verpflichtung entfällt nur, wenn nach dem letzten Wort ausschließlich Vorgänge erörtert werden, die auf die gerichtliche Entscheidung keinen Einfluss haben können (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 15). Dies ist bei einer teilweisen Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO jedoch nicht der Fall.


Entscheidung

774. BGH 2 StR 129/17 – Beschluss vom 27. Juni 2017 (LG Frankfurt)

Zustellungsverfahren (Doppelzustellung nach Fristablauf); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung (Beantragung unabhängig von einem Revisionsverwerfungsbeschluss); Anforderungen an einen Wiedereinsetzungsantrag.

§ 37 Abs. 2 StPO; § 44 Satz 1 StPO; § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO § 46 StPO; § 346 Abs. 1 StPO

1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann auch unabhängig von einem Revisionsverwerfungsbeschluss beantragt werden; die Wiedereinsetzung führt dann gegebenenfalls zur Durchbrechung der Rechtskraft.

2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb der Wochenfrist muss der Antragsteller auch Angaben über den Wiedereinsetzungsgrund machen. Die erforderlichen Angaben sind, ebenso wie ihre Glaubhaftmachung, Voraussetzung der Zulässigkeit des Antrags.

3. Ein Wiedereinsetzungsantrag muss unter konkreter Behauptung von Tatsachen so vollständig begründet werden, dass ihm die unverschuldete Verhinderung des Antragstellers entnommen werden kann.

4. Für erst nach Fristablauf bewirkte Doppelzustellungen gilt § 37 Abs. 2 StPO nicht.


Entscheidung

801. BGH 2 ARs 277/16 (2 AR 140/16) – Beschluss vom 7. Juni 2017

Sachliche Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde; Zuständiges Gericht (Entscheidung über den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid).

§ 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG; § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG

1. Für die Entscheidung über den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat. Gemeint ist damit die Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat.

2. Die Verwaltungsbehörde hat ihren Sitz grundsätzlich dort, wo ihre Hauptstelle eingerichtet ist, also wo die betreffende Behörde den organisatorischen Mittelpunkt ihres Dienstbetriebs hat. Erlässt eine Außenstelle den Bußgeldbescheid, ist für den Sitz der Behörde grundsätzlich der Ort der Hauptstelle maßgeblich. Etwas anderes gilt aber dann, wenn die Aufgabe der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten der Außenstelle als eigenständiger Behörde zugewiesen wurde. Maßgeblich für die Abgrenzung ist nicht die Betrachtung des Auftritts der Verwaltungsbehörde. Bestimmt wird die Zuständigkeit vielmehr durch die rechtlichen Gegebenheiten.

3. Die Tatsache, dass nach Erlass des angefochtenen Bußgeldbescheids die Zuständigkeit für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten auf die Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt übertragen wurde, ändert nichts an der bereits begründeten Gerichtszuständigkeit.


Entscheidung

805. BGH 4 StR 1/17 – Urteil vom 22. Juni 2017 (LG Detmold)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen, wenn Aussage gegen Aussage steht).

§ 261 StPO

1. An die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen sind besondere Anforderungen zu stellen, wenn im Wesentlichen Aussage gegen Aussage steht und objektive Beweisanzeichen fehlen. Bei einer solchen Beweissituation muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten durch eigene Äußerungen zur Sachlage besitzt.

2. Um die revisionsrechtliche Nachprüfung der Überzeugungsbildung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten zu ermöglichen, ist es in solchen Fällen daher regelmäßig geboten, näher auf die Aussageentstehung und alle Umstände, die zur Anzeigenerstattung geführt haben, einzugehen sowie darzulegen und zu erörtern, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine – unterstellt – unwahre Aussage des Belastungszeugen in Betracht kommen könnten.