hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 728

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 498/16, Beschluss v. 03.05.2017, HRRS 2017 Nr. 728


BGH 3 StR 498/16 - Beschluss vom 3. Mai 2017 (OLG Düsseldorf)

Anforderungen an das Rügevorbringen bei der Rüge der Unverwertbarkeit von nach dem G-10-Gesetz gewonnenen Erkenntnissen (Angriffsrichtung; fehlende Überprüfbarkeit der Vertretbarkeit der Anordnung; Unterlassen gebotener Aufklärungsmaßnahmen; Sperrerklärung; Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesministeriums des Innern).

§ 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10; § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 G 10; § 4 Abs. 4 Nr. 2 G 10; § 96 StPO; § 161 Abs. 2 StPO; § 344 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Tatgericht hat die Verfahrenstatsachen, die für die Beurteilung der Verwertbarkeit der Ergebnisse einer nach dem G-10-Gesetz angeordneten Telekommunikationsüberwachung maßgebend sind, aufzuklären und zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Das gilt auch dann, wenn die Erkenntnisse in einem fremden Verfahren angefallen sind. In einem solchen Fall sind regelmäßig Akten oder Aktenbestandteile dieses anderen Verfahrens in dem für die Beurteilung der Verwertbarkeit erforderlichen Umfang auszuwerten. Unterlässt das Tatgericht eine mögliche und zur Aufklärung gebotene Maßnahme, begründet dies einen eigenständigen Rechtsfehler.

2. Verweigert das Bundesamt für Verfassungsschutz die Vorlage einschlägiger Dokumente, ist das Tatgericht regelmäßig zur Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesministeriums des Innern verpflichtet. Dieses allein ist nach § 96 StPO als oberste Dienstbehörde des Bundesamts für Verfassungsschutz zu einer strafprozessual beachtlichen Sperrerklärung befugt. Dort ist ggf. eine Gegenvorstellung zu erheben.

3. Wird das Unterlassen gebotener Aufklärungsmaßnahmen mit der Revision gerügt, so ist diese Angriffsrichtung in der Revisionsbegründung deutlich zum Ausdruck zu bringen und in der Regel vorzutragen, zu welchen Maßnahmen Anlass bestanden hätte.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 20. Juni 2016 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Oberlandesgericht hat den Angeklagten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet er sich mit der auf eine Verfahrensrüge und die näher ausgeführte Sachbeschwerde gestützten Revision. Das Rechtsmittel ist aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der näheren Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte die Unverwertbarkeit nach dem G-10-Gesetz gewonnener Erkenntnisse geltend macht.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Das Bundesamt für Verfassungsschutz führte Beschränkungsmaßnahmen nach dem G-10-Gesetz in Form der Telekommunikationsüberwachung gegen den Angeklagten sowie die Mitangeklagten R. und A. durch; es stützte sie auf § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a G 10 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 StGB. Die erhobenen Telekommunikationsüberwachungsdaten übermittelte es den Strafverfolgungsbehörden, worauf diese das gegenständliche Strafverfahren einleiteten.

In der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht hat die Verteidigerin des Angeklagten der Verwertung nach dem G-10-Gesetz gewonnener Erkenntnisse im Anschluss an einige (nicht alle) diesbezügliche Beweiserhebungen widersprochen. Sie hat dies damit begründet, dass die verschriftlichten Verfahrensvorgänge zu den G-10-Beschränkungsmaßnahmen (Antrag des Bundesamts für Verfassungsschutz, Anordnung des Bundesministeriums des Innern, Billigung der G-10-Kommission) nicht Akteninhalt geworden seien. Daraufhin hat die Senatsvorsitzende das Bundesamt für Verfassungsschutz zweimal um die Vorlage der entsprechenden Dokumente gebeten, was dieses jeweils abgelehnt hat. Hiergegen hat die Vorsitzende auf Antrag der Verteidigerin Gegenvorstellung bei dem Bundesamt für Verfassungsschutz erhoben, die ebenso erfolglos geblieben ist.

2. Der Beschwerdeführer erachtet die Verwertung der nach dem G-10-Gesetz gewonnenen Erkenntnisse deshalb für rechtsfehlerhaft, weil die Verfahrensbeteiligten ohne die beim Bundesamt für Verfassungsschutz angeforderten Dokumente nicht hätten überprüfen können, inwieweit die Anordnungen nach der damaligen Verdachtslage vertretbar gewesen seien. Soweit bei einzelnen Beweiserhebungen ein Widerspruch unterblieben sei, schade dies nicht; denn das Tatgericht habe die Verfahrenstatsachen von Amts wegen aufzuklären.

3. Die Verfahrensrüge dringt nicht durch.

a) Der Beschwerdeführer macht die Unverwertbarkeit der nach dem G-10-Gesetz gewonnenen Erkenntnisse ohne Erfolg geltend.

aa) Ein generelles Verbot der Verwertung dieser Erkenntnisse besteht nicht. Die Ermächtigungsgrundlage für die Weitergabe der erhobenen Daten an die Strafverfolgungsbehörden regelt § 4 Abs. 4 Nr. 2 G 10. § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO gestattet ihre Verwendung zu Beweiszwecken im Strafverfahren. Die Verwertung setzt dabei im Grundsatz die Rechtmäßigkeit der vorausgegangenen Datenerhebung voraus (vgl. - zu präventivpolizeilich gewonnenen Erkenntnissen - BGH, Urteil vom 14. August 2009 - 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69, 83 Rn. 37 [bezüglich § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO]; Beschluss vom 26. Januar 2017 - StB 26 u. 28/14, juris, Rn. 52; KK/Griesbaum, StPO, 7. Aufl., § 161 Rn. 40). Die Ermächtigungsgrundlage für die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation durch das Bundesamt für Verfassungsschutz regeln § 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 und 2 G 10.

bb) Nach diesem gesetzlichen Maßstab ist die Rechtswidrigkeit der G-10-Beschränkungsmaßnahmen nicht erwiesen.

Der Senat vermag nicht festzustellen, dass die Anordnungen nicht durch die vom Bundesamt für Verfassungsschutz angeführten Vorschriften der § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a G 10 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 StGB gedeckt waren, dass mithin zum Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahmen keine tatsächlichen Anhaltspunkte für den Verdacht bestanden, der Angeklagte sowie die Mitangeklagten R. und A. unterstützten eine ausländische terroristische Vereinigung. Dies wird von der Revision schon nicht bestimmt behauptet. Zwar weist sie im Ansatz zutreffend darauf hin, dass dem Beschwerdeführer insoweit ein den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügender Tatsachenvortrag unmöglich sei, weil ihm die entsprechenden Verfahrensvorgänge nicht bekannt seien. Die Unvollständigkeit der Akten zieht jedoch grundsätzlich kein Verwertungsverbot nach sich; denn es fehlt eine tatsächliche Grundlage für eine revisionsrechtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnungen im Freibeweis (vgl. BGH, Beschluss vom 1. August 2002 - 3 StR 122/02, BGHSt 47, 362, 367; ferner BGH, Urteil vom 13. Januar 2011 - 3 StR 337/10, NStZ 2011, 471, 472; zum Beweismaß s. auch KK/Gericke, StPO, 7. Aufl., § 344 Rn. 41 mwN).

b) Eine Rüge, das Oberlandesgericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, die von den G-10-Beschränkungsmaßnahmen vorausgesetzte Verdachtslage zum Anordnungszeitpunkt zu rekonstruieren, ist hingegen nicht erhoben.

Das Tatgericht hat die Verfahrenstatsachen, die für die Beurteilung der Verwertbarkeit der Ergebnisse der Telekommunikationsüberwachung maßgebend sind, aufzuklären und zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Das gilt auch dann, wenn die Erkenntnisse in einem fremden Verfahren angefallen sind. In einem solchen Fall sind regelmäßig Akten oder Aktenbestandteile dieses anderen Verfahrens in dem für die Beurteilung der Verwertbarkeit erforderlichen Umfang auszuwerten. Unterlässt das Tatgericht eine mögliche und zur Aufklärung gebotene Maßnahme, begründet dies einen eigenständigen Rechtsfehler (vgl. BGH, Beschluss vom 1. August 2002 - 3 StR 122/02, aaO, S. 367 f.).

Freilich hat das Oberlandesgericht den aufgezeigten Prüfungsmaßstab nicht missachtet; es hat seine Pflicht, sich die Unterlagen zu den G-10-Beschränkungsmaßnahmen zu verschaffen, zutreffend erkannt. Um dies zu erreichen, hat es aber nicht alle ihm offen stehenden, nicht von vornherein aussichtslosen Möglichkeiten ausgeschöpft. Das Oberlandesgericht wäre - neben den oder anstelle der diversen an das Bundesamt für Verfassungsschutz gerichteten Ersuchen - zur Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesministeriums des Innern verpflichtet gewesen. Dieses allein wäre nach § 96 StPO als oberste Dienstbehörde des Bundesamts für Verfassungsschutz zu einer strafprozessual beachtlichen Sperrerklärung befugt gewesen. Zugleich war das Bundesministerium des Innern auch die Stelle, welche die G-10-Beschränkungsmaßnahmen angeordnet hatte. Gegebenenfalls wäre dort eine Gegenvorstellung zu erheben gewesen (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Dezember 2009 - StB 51/09, NStZ 2010, 445, 448 Rn. 15; MüKoStPO/Hauschild, § 96 Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 96 Rn. 9, jew. mwN).

Mit der Stoßrichtung, das Oberlandesgericht habe nicht die ihm möglichen, nicht von vorneherein aussichtslosen Schritte zur Aufklärung der G-10-Verfahrensvorgänge unternommen, ist die Verfahrensrüge indes nicht erhoben (zur Maßgeblichkeit der Angriffsrichtung s. BGH, Urteil vom 26. August 1998 - 3 StR 256/98, NStZ 1999, 94 mwN). Ein derartiges rechtsfehlerhaftes Unterlassen wird nicht geltend gemacht und ist daher nicht Gegenstand der Rüge. Schon gar nicht legt die Revision dar, zu welchen Schritten Anlass bestanden hätte. Soweit sie ausführt, dass das Tatgericht die Verfahrenstatsachen von Amts wegen aufzuklären habe, steht dies im Zusammenhang mit dem Erfordernis eines - vom Angeklagten in der Hauptverhandlung bezüglich einzelner Beweiserhebungen nicht erklärten - Verwertungswiderspruchs.

Ein entsprechendes Rügevorbringen war hier auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Mit dem dem Senatsbeschluss vom 1. August 2002 (3 StR 122/02, BGHSt 47, 362) zugrundeliegenden Sachverhalt ist der gegenständliche Fall schon deshalb nicht vergleichbar, weil hier das Oberlandesgericht den Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der Verwertbarkeit gerade nicht grundlegend verkannt hat (vgl. hingegen dort S. 368).

c) Inwieweit ein Beweisverwertungsverbot ausnahmsweise für den Fall in Betracht kommen könnte, dass sämtliche zur Rekonstruktion der Verdachtslage gebotenen tatrichterlichen Maßnahmen erfolglos geblieben sind, braucht der Senat nach alledem nicht zu entscheiden. Insbesondere kann dahinstehen, inwieweit ein Angeklagter gehalten ist, einen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung zu stellen, um eine Sperrerklärung vor den Verwaltungsgerichten anzufechten; nur ihm, nicht dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft dürfte der Verwaltungsrechtsweg offen stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 5 StR 383/06, NJW 2007, 3010, 3012 Rn. 28; ferner Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 96 Rn. 14 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 728

Externe Fundstellen: StV 2018, 73

Bearbeiter: Christian Becker