HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2012
13. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

309. BGH 1 StR 148/11 - Beschluss vom 9. Februar 2012 (LG Wuppertal)

BGHSt; Verfahrenshindernis der Spezialität bei der Steuerhinterziehung (Beseitigung in der Revision; Entfallen der Spezialitätsbindung durch Verbleib in Deutschland oder durch Rückkehr nach Deutschland: Ablauf der Schonfrist; wirksamer Eröffnungsbeschluss trotz anfangs bestehendem Verfahrenshindernis der Spezialität).

§ 370 AO; Art. 14 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 EuAlÜbk; § 72 IRG; § 199 StPO; § 200 StPO; § 207 StPO

1. Ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität aus Art. 14 des Europäischen Auslieferungs-

übereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) bestehendes Verfahrenshindernis kann auch noch im Revisionsverfahren beseitigt werden. (BGHSt)

2. Ist der Ausgelieferte mit Verkündung des erstinstanzlichen Urteils auf freien Fuß gesetzt worden, entfällt die Spezialitätsbindung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk dann, wenn er - obwohl er über die Rechtsfolgen dieser Vorschrift informiert worden ist und die Möglichkeit einer Ausreise hatte - nicht innerhalb von 45 Tagen die Bundesrepublik Deutschland verlassen hat oder wenn er nach dem Verlassen Deutschlands dorthin zurückgekehrt ist. (BGHSt)

3. Der Spezialitätsgrundsatz gebietet den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten des ersuchenden Staates nach einer Auslieferung nicht, jegliche Untersuchungshandlungen im Hinblick auf solche Taten einzustellen, die von der Auslieferungsbewilligung nicht umfasst sind. Insbesondere ergibt sich aus dem Spezialitätsgrundsatz kein Befassungsverbot für die nicht von der Auslieferungsbewilligung erfassten Taten. Vielmehr bestimmt sich die Reichweite der Beschränkung der Hoheitsrechte für die Bundesrepublik Deutschland durch den Grundsatz der Spezialität im vorliegenden Fall allein nach dem der Auslieferung des Angeklagten zugrunde liegenden Art. 14 EuAlÜbk. (Bearbeiter)

4. Der Senat ist im Übrigen der Auffassung, dass ein Eröffnungsbeschluss auch dann hinsichtlich aller angeklagter Taten wirksam ist, wenn zum Zeitpunkt der Beschlussfassung für alle oder einzelne Taten ein aus dem Spezialitätsgrundsatz folgendes Verfahrenshindernis besteht, das aber behebbar ist. Nur schwerwiegende Mängel machen einen Eröffnungsbeschluss unwirksam, denn die gänzliche Unwirksamkeit mit der Folge rechtlicher Unbeachtlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung kommt allenfalls in seltenen Ausnahmefällen in Betracht. Sonstige Mängel - selbst das Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts - lassen dagegen die Wirksamkeit eines Eröffnungsbeschlusses unberührt. (Bearbeiter)

5. „Endgültig freigelassen“ im Sinne des EuAlÜbk ist der Ausgelieferte dann, wenn ihm nach seiner Entlassung aus dem Gewahrsam des ersuchenden Staates in dem Verfahren, für das die Auslieferung bewilligt worden war, freisteht, das Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates zu verlassen und er dazu die tatsächliche Möglichkeit hat. Dies ist mit Aufhebung des gegen den Angeklagten bestehenden Haftbefehls bei der Urteilsverkündung der Fall. Hierdurch wird regelmäßig die letzte, die Bewegungsfreiheit des Angeklagten beeinträchtigende Maßnahme durch das Gericht aufgehoben, auch wenn Vollstreckungsmaßnahmen nach Beurteilung der vom Angeklagten eingelegte Revision ergriffen werden konnten. Der Umstand, dass der Angeklagte damit letztlich einer Strafverfolgung wegen der zunächst vom Spezialitätsgrundsatz erfassten Tatvorwürfe dauerhaft allenfalls dadurch hätte entgehen können, dass er ausreist und nicht nach Deutschland zurückkehrt, steht der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk nicht entgegen. (Bearbeiter)


Entscheidung

353. BGH 4 StR 499/11 – Urteil vom 12. Januar 2012 (LG Kaiserslautern)

Anforderungen an die Darstellung eines Freispruchs (Beweiswürdigung; überspannte Anforderungen an die zu einer Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung); Verfahrenshindernis der Spezialität (Prüfung von Amts wegen; Berücksichtigung anderer Taten als Indiz für die Begehung der von der Auslieferung umfassten Tat; Strafschärfung durch Qualifikationsmerkmale); bandenmäßig begangener Raub.

§ 261 StPO; § 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB

1. Ob der Verurteilung eines Angeklagten mit Rücksicht auf seine Auslieferung gesetzliche oder vertragliche Bestimmungen entgegenstehen, ist auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen.

2. Art. 14 Abs. 3 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) schließt eine Verurteilung unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt nicht aus, sofern ihr derselbe Sachverhalt zugrunde liegt und die Tatbestandsmerkmale der rechtlich neu gewürdigten strafbaren Handlung die Auslieferung gestatten würden (BGH NStZ 1985, 318; StV 1987, 6). Dies gilt auch im Verhältnis von Grundtatbestand und qualifizierenden bzw. privilegierenden Tatbeständen (vgl. BGH NStZ 1985, 318; NStZ-RR 2000, 333).

3. Der Spezialitätsgrundsatz es schließt nicht aus, Umstände, die eine Straftat darstellen, auf die sich die Auslieferung nicht erstreckt, bei der Überzeugungsbildung hinsichtlich der Täterschaft der Auslieferungstat als Indiz zu berücksichtigen (BGHSt 34, 352; 22, 307, 310 f.). Von der „Verfolgung“ einer Tat kann nur bei einem Verfahren gesprochen werden, das diese Tat zum Gegenstand hat und mit dem Ziel ihrer Ahndung oder der Verhängung einer wegen ihr gebotenen Maßnahme durchgeführt wird. Gegenstand eines solchen eigenständigen Verfahrens wird eine Tat nicht schon dadurch, dass die Beweisaufnahme in dem eine andere Tat betreffenden Prozess auf sie erstreckt wird, weil sie als Indiz zum Nachweis dieser anderen Tat in Betracht kommt.

4. Zwar darf ein Sachverhalt, der nicht zu der Auslieferungstat im Sinne des § 264 StPO gehört, nicht bei der Bestimmung der Strafhöhe zum Nachteil des Angeklagten Verwendung finden (BGHSt 22, 318). Danach ist nicht nur die Festsetzung selbständiger Strafen für andere Taten als die Auslieferungstat ausgeschlossen, sondern auch deren Mitbestrafung auf dem Wege der Erhöhung der für die Auslieferungstat verwirkten Strafe. Dies schließt jedoch nicht aus, den Strafrahmen eines festgestellten Qualifikationstatbestandes der Verurteilung wegen der Auslieferungstat auch dann zu Grunde zu legen, wenn diese Feststellungen mittels Beweiserhebungen zu einer verfahrensfremden Tat getroffen wurden. Ob dies auch für die Verwirklichung von Regelbeispielen gelten würde, kann der Senat hier offen lassen. Das Vorliegen eines qualifizierenden Merkmals ist jedenfalls Teil des Tatbestandes der Auslieferungstat selbst. Die dem Qualifikationsstrafrahmen entnommene Strafe ahndet allein die Auslieferungstat, sie kennzeichnet deren Gefährlichkeit. Eine „Mitbestrafung“ der anderen Tat ist damit nicht verbunden. Dies gilt auch dann, wenn die Erfüllung mehrerer Qualifikationsmerkmale zusätzlich strafschärfend gewertet wird.


Entscheidung

316. BGH 1 StR 349/11 - Beschluss vom 22. Februar 2012 (LG Regensburg)

Rüge der Unverwertbarkeit von Aussagen früherer Mitbeschuldigter, die auf einer informellen Absprache („Deal“) beruhen sollen (Transparenzgebot; beschränkte Reichweite des gesetzlichen Verwertungsverbots); Beweiswürdigung nach möglichen Absprachen mit Zeugen (Voraussetzung des Strengbeweises); Rechtsbeugung.

§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO; § 273 Abs. 1a StPO; § 339 StGB

1. Selbst wenn in einem Verfahren gegen frühere Mitbeschuldigte deren Geständnissen eine „informelle“ Absprache vorausgegangen ist, führt dies schon in jenem Verfahren nicht zu einer Unverwertbarkeit der Geständnisse gemäß § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO. Gleiches gilt für spätere Zeugenaussagen der früheren Mitbeschuldigten in einem Verfahren gegen andere, an der Tat beteiligte Angeklagte.

2. Das Gesetz lässt ein Verwertungsverbot nur „in diesen Fällen“, d.h. in den in § 257c Abs. 4 Sätze 1 und 2 StPO aufgeführten Fällen bestehen. Gemeint sind nur Konstellationen, in denen sich das Gericht von der Verständigung lösen will.

3. Gespräche über eine mögliche Abkürzung der Hauptverhandlung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, in die das Gericht nicht einbezogen ist, kommen, so auch die Erfahrung des Senats, in der forensischen Praxis vor. Soll das Ergebnis dieser Gespräche den weiteren Gang der Hauptverhandlung beeinflussen, so ist es gegenüber dem Gericht offenzulegen. Nach Auffassung des Senats ist es angezeigt, dass diese Offenlegung in der Hauptverhandlung erfolgt, sonst hat jedenfalls das Gericht in der Hauptverhandlung offenzulegen, wenn ihm außerhalb der Hauptverhandlung derartige Informationen erteilt wurden. Dabei ist es zweckmäßig, dass die Gespräche und die Unterrichtung des Gerichts hierüber nach Maßgabe des § 273 Abs. 1a StPO dokumentiert werden, naheliegend im Protokoll der Hauptverhandlung.

4. In die Würdigung einer Zeugenaussage ist erkennbar einzubeziehen, wenn es in einem Strafverfahren gegen den Zeugen selbst wegen der gleichen Vorwürfe zu einer Verständigung gekommen war. Dies gilt sowohl dann, wenn es zu einer Verständigung in Gesprächen mit dem Gericht gekommen war, als auch dann, wenn „Verständigungsgespräche“ im Wesentlichen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung geführt worden waren. Die Behauptung, die danach gebotene Beweiswürdigung sei unterblieben, erfordert aber eine zulässig erhobene Verfahrensrüge, wenn das auf die Sachrüge hin allein zu überprüfende Urteil den in Rede stehenden Hintergrund der Zeugenaussage nicht erhellt (BGHSt 52, 78, 79, 81). Zu den einzelnen Anforderungen an diese Rüge.

5. Auch die hinsichtlich der Glaubwürdigkeit eines Zeugen gebotene Würdigung einer getroffenen Verfahrensabsprache mit einem Belastungszeugen setzt voraus, dass die Tatsache der Absprache nach den Regeln des Strengbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. Diese sehen dienstliche Erklärungen des Richters über seine Erkenntnisse aus anderen Verfahren als Beweismittel nicht vor.

6. Die Rüge, eine Aussage sei in erster Linie unverwertbar und hilfsweise die Beweiswürdigung hinsichtlich dieser Aussage unzureichend, ist unzulässig.


Entscheidung

320. BGH 1 StR 438/11 - Beschluss vom 9. Februar 2012 (LG Essen)

Ablehnungsantrag (Besorgnis der Befangenheit: unterbliebene Offenlegung der Gespräche mit Mitangeklagten im formellen und materiellen Sinne. Berufung auf Auskunftsverweigerungsrecht im Parallelverfahren, unbeantworteter Antrag auf dienstliche Äußerungen der Berufsrichter zu näher bezeichneten Fragen über den Ablauf der parallelen Hauptverhandlung und dabei geführter Verständigungsgespräche, Überlastung).

§ 24 Abs. 2 StPO; § 55 StPO; § 243 Abs. 4 StPO

1. Absprachen mit anderen Tatbeteiligten begründen nicht ohne weiteres die Besorgnis der Befangenheit, wenn sie nicht von Amts wegen „unaufgefordert“ und „unverzüglich“, spätestens aber alsbald auf entsprechende Aufforderung hin offen gelegt würden. Die Grundsätze der Rechtsprechung zur Offenlegung von Verständigungsgesprächen sind auf Fälle getrennter Verfahren nur übertragbar, soweit es um die Sicherung bestmöglicher Wahrheitsfindung geht. Sie können nicht in gleicher Weise gelten, soweit es, unabhängig von der Wahrheitsfindung, um die Vermeidung des Anscheins geht, der Richter sei nicht gegenüber allen Angeklagten gleich unvoreingenommen und unparteiisch.

2. Gleichzeitige Gespräche mit den Angeklagten einer laufenden Hauptverhandlung und Angeklagten einer künftigen oder auch parallelen Hauptverhandlung sind schon wegen des nicht gleichen Verfahrensstandes und des damit naheliegend verbundenen nicht gleichen Kenntnisstandes der Beteiligten kaum sinnvoll. Ein einheitlicher Kenntnisstand fehlt auch in Fällen, bei denen dieselben (Berufs-)Richter mitwirken, jedenfalls den in die Gespräche ebenfalls einzubeziehenden Schöffen, die bei noch nicht terminierten Sachen sogar noch nicht einmal feststehen.

3. Dies ändert nichts an der Notwendigkeit, auch in solchen Fällen in die Würdigung einer entscheidungserheblichen (Zeugen-)Aussage eines Tatbeteiligten eine vorangegangene Verständigung in dem gegen ihn wegen derselben Tat durchgeführten Verfahren einzubeziehen (st. Rspr.). Dies beruht nicht auf der Sorge, er könne dabei in irgendeiner Weise zu künftiger Falschbelastung anderer Tatverdächtiger aufgefordert worden sein. Es geht vielmehr um etwaige Anhaltspunkte dafür, ob er im Blick auf eine vorangegangene oder im Raum stehende Verständigung in seinem Verfahren irrig glauben könnte, eine Falschaussage zu Lasten des Angeklagten sei für ihn besser als eine wahre Aussage zu dessen Gunsten.


Entscheidung

324. BGH 1 StR 542/11 - Urteil vom 7. Februar 2012 (LG Karlsruhe)

Begriff der Tat im prozessualen Sinne (Kognitionspflicht des Gerichts; ne bis in idem; Freispruch: Aufrechterhaltung der Feststellungen); Notwehr bei lebensgefährlichem Stich; versuchter Erwerb von Betäu-

bungsmitteln; versuchtes Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet und bestimmt ist; natürliche Handlungseinheit; gesetzlicher Richter.

Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 264 Abs. 1 StPO; § 212 StGB; § 22 StGB; § 32 StGB; § 52 StGB; § 154a StPO; § 353 Abs. 2 StPO; § 29 BtMG; § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG

1. Einzelfall einer einheitlichen Tat zwischen einem in Notwehr ausgeführten lebensgefährlichem Stich und dem versuchten Erwerb von Betäubungsmitteln sowie dem versuchten Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet und bestimmt ist, trotz des zwischenzeitlichen Scheiterns des Versuchs, sich Betäubungsmittel zu verschaffen.

2. Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung (§ 264 Abs. 1 StPO) ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im Sinne des sachlichen Rechts. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind.

3. Bei der Beurteilung des Tatumfangs kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltensweisen - unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung - ein enger sachlicher Zusammenhang besteht; selbst zeitliches Zusammentreffen der einzelnen Handlungen ist weder erforderlich noch ausreichend.

4. Eine Verletzung der Kognitionspflicht führt hinsichtlich anderer tateinheitlicher Delikte zwingend zur Aufhebung eines ergangenen Freispruchs. Wenn der Freispruch in Rechtskraft erwachsen würde, stünde dies der weiteren Verfolgung der Tat unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines weiteren Delikts wegen des Verbots aus Art. 103 Abs. 3 GG entgegen.

5. Feststellungen zu den Grundlagen des Freispruchs können in der hier gegebenen Konstellation (Freispruch unter Außerachtlassung eines tateinheitlichen strafrechtlich relevanten Geschehens) zwar grundsätzlich bestehen bleiben. Es muss dann aber sicher sein, dass die aufrechterhaltenen Feststellungen im neuen tatgerichtlichen Verfahren nicht – auch nur teilweise – Grundlage einer Verurteilung werden könnten. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen bei Freispruch unter Verletzung der Kognitionspflicht hinsichtlich derselben Tat gemäß § 264 StPO wird nur in seltenen Fällen in Betracht kommen.

6. Eine Überdehnung des § 353 Abs. 2 StPO seitens des Revisionsgerichts berührt auch das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.


Entscheidung

293. BGH 3 StR 401/11 - Urteil vom 2. Februar 2012 (LG Hannover)

Rücktritt vom Versuch (beendeter; unbeendeter; Rücktrittshorizont; Möglichkeitsvorstellung); Unterbrechung der Hauptverhandlung (Förderung des Verfahrens; Schiebetermin).

§ 24 StGB; § 229 StPO; § 338 StPO

1. Zur Sache wird in einem Fortsetzungstermin grundsätzlich bereits dann verhandelt, wenn Prozesshandlungen vorgenommen werden oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen stattfinden, die geeignet sind, das Verfahren inhaltlich auf den Urteilsspruch hin zu fördern und die Sache ihrem Abschluss substantiell näher zu bringen. Dann ist die Dauer des Termins ebenso wenig von Belang wie die Frage, ob er noch für weitere verfahrensfördernde Handlungen hätte genutzt werden können. Gleichermaßen unschädlich ist es, wenn der Termin zugleich auch der Einhaltung der Unterbrechungsfrist dient.

2. Auch wenn in einem Termin Verfahrensvorgänge stattfinden, die grundsätzlich zur Unterbrechung der Fristen des § 229 StPO geeignet sind, liegt ein Verhandeln zur Sache nicht vor, wenn das Gericht dabei nur formal zum Zwecke der Umgehung dieser Vorschrift tätig wird und der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung dahinter als bedeutungslos zurücktritt (sog. Schiebetermin). Dies ist etwa anzunehmen, wenn einheitliche Verfahrensvorgänge willkürlich in mehrere kurze Verfahrensabschnitte zerstückelt und diese auf mehrere Verhandlungstage verteilt werden, nur um hierdurch die zulässigen Unterbrechungsfristen einzuhalten, oder wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist.

3. Ob ein Versuch im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB beendet oder unbeendet ist, richtet sich nach der Vorstellung des Täters bei Abschluss der letzten Ausführungshandlung.

4. Ein Versuch ist unbeendet, wenn der Täter bei Abschluss der letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont) davon ausgeht, zur Verwirklichung des Tatbestandes bedürfe es noch weiteren Handelns. Beendet ist der Versuch demgegenüber, wenn der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs aufgrund seiner bisherigen Tathandlungen zumindest für möglich hält oder sich über deren Folgen keine Vorstellungen macht.

5. Unbeendet ist ein Versuch auch dann, wenn der Täter den Erfolgseintritt zwar zunächst für möglich hält, aber nachfolgend – etwa aufgrund weiterer Wahrnehmungen – und noch in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Tatgeschehen zur gegenteiligen Auffassung gelangt (sog. Korrektur des Rücktrittshorizonts).


Entscheidung

317. BGH 1 StR 373/11 - Beschluss vom 12. Januar 2012 (LG Potsdam)

Angriffsrichtung der Verfahrensrüge; Konzentrationsmaxime (Fristen); Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppung (Verdunkelungsversuch; Beweisantizipation); wesentliche Beschränkung der Verteidigung (Ablehnung einer Unterbrechung bei Erkrankung einer Wahlverteidigerin; Beschleunigungsgrundsatz); Rüge der fehlerhaften Besetzung (Angriffsrichtung; Übergehen eines Besetzungseinwandes); verweigerte Beiordnung eines Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger (Sicherungsverteidiger; Recht auf einen Verteidiger des Vertrauens).

§ 229 Abs. 2 und 3 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 258 StPO; § 338 Nr. 1, Nr. 8 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK; § 141 StPO

1. Eine Rüge des Verstoß gegen § 229 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StPO darf nicht auf einen Alternativsachverhalt gestützt werden, nach dem kein bestimmter Verfahrensverstoß behauptet wird. Das Revisionsgericht darf nicht lediglich aufgefordert werden, zu prüfen, ob in irgendeiner Richtung ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 229 StPO vorliege. Das Revisionsvorbringen muss eine bestimmte Angriffsrichtung erkennen lassen.

2. Einzelfall eines Schlusses auf die Prozessverschleppungsabsicht bei dem Versuch, die Aussage eines Zeugen als sachnäherem Beweismittel zu verhindern.

3. Wird dem Angeklagten zusätzlich zu seinen beiden Wahlverteidigern eine weitere Pflichtverteidigerin beigeordnet, liegt darin – wenn die Wahlverteidiger trotz der ausgebliebenen Beiordnung als Pflichtverteidiger ihr Mandat nicht niederlegen – für den Angeklagten kein Nachteil.


Entscheidung

332. BGH 2 StR 195/11 - Beschluss vom 28. Dezember 2011 (LG Limburg)

Rechtsfehlerhaft unterbliebene Erzwingung der Aussage eines Zeugen (Ermessensreduktion auf Null; entscheidende Bedeutung einer Zeugenaussage; Aufklärungspflicht).

§ 70 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 258 StGB

1. Hat die Aussage eines in der Hauptverhandlung erschienenen, aber grundlos die Aussage verweigernden Zeugen für die Überzeugungsbildung des Gerichts erhebliche Bedeutung, so gebietet es die Aufklärungspflicht, Anstrengungen zu unternehmen, den Zeugen zu einer Auskunft zu bewegen (BGH StV 1983, 495 f.). Diese können im Einsatz der von § 70 StPO vorgesehenen Zwangsmittel liegen.

2. § 70 StPO dient nicht der Erzwingung wahrheitsgemäßer Aussagen, sondern nur der Beantwortung offener Fragen. Er greift nicht in einer Konstellation, in der es alleine um die Korrektur einer bereits gemachten Äußerung geht, die das Gericht für unzutreffend hält.


Entscheidung

327. BGH 1 StR 647/11 - Beschluss vom 22. Februar 2012 (LG Mosbach)

Unzulässige Verfahrensrügen (Darlegungsanforderungen bei der Rüge der Verletzung des Beweisantragsrechts: Heilung durch spätere beschiedene Beweisanträge; Wahrunterstellung).

§ 244 Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 81c StPO

1. Die neue Bescheidung eines wiederholt gestellten Beweisantrages kann etwaige Fehler der ersten Ablehnung heilen, weil – anders als beim Nachschieben von Ablehnungsgründen in den schriftlichen Urteilsgründen (dazu BGHSt 19, 24, 26; BGH NStZ 2000, 437, 438) – der Angeklagte seine Verteidigung auf die neue Beurteilung einstellen kann.

2. Rügt der Revisionsführer die Verletzung des Beweisantragsrechts, muss er – neben dem abgelehnten Beweisantrag und dem Ablehnungsbeschluss – auch für die Prüfung der Rüge etwaig notwendige, weitere Verfahrenstatsachen vollständig vortragen (BGHSt 37, 168, 174). Insbesondere muss ein Revisionsführer mitteilen, dass der abgelehnte Beweisantrag bei identischem Inhalt und nur minimal abweichendem Wortlaut erneut gestellt und in einem Hauptverhandlungstermin neu beschieden worden ist.

3. Dies gilt auch dann, wenn der geschilderte Verfahrensablauf in der Revisionsrechtfertigungsschrift den Gegenstand einer weiteren – ihrerseits unzulässigen – Rüge bildet; auch ein Rückgriff auf das Revisionsvorbringen eines weiteren Verteidigers scheidet aus. Es ist nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts, den Revisionsvortrag innerhalb eines umfangreichen Revisionsvorbringens oder aus anderen Unterlagen zusammenzufügen oder zu ergänzen.

4. Zwar kann der Umfang des notwendigen Vortrages – insbesondere zum Beweisantrag – beim Vorwurf der Nichteinhaltung einer Wahrunterstellung je nach Angriffsrichtung der Rüge divergieren; bei der Rüge der Verletzung des Beweisantragsrechts ist die (vollständige) Mitteilung des Beweisantrages jedoch erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 1983 - 2 StR 222/83, BGHSt 32, 44, 46). Das Revisionsgericht muss überprüfen können, ob der behauptete Widerspruch der Wahrunterstellung zu den späteren Urteilsfeststellungen tatsächlich besteht.

5. Die Rüge, ein Beweisantrag auf eine psychologische oder psychiatrische Begutachtung eines Zeugen sei fehlerhaft beschieden worden, ist unzulässig, wenn nicht mitgeteilt wird, ob die Zeugen oder gegebenenfalls deren gesetzliche Vertreter sich mit einer solchen Untersuchung einverstanden erklärt haben.


Entscheidung

297. BGH 3 StR 462/11 - Beschluss vom 16. Februar 2012 (LG Verden)

Beurlaubung eines Angeklagten (den Angeklagten nicht betreffender Teil der Hauptverhandlung).

§ 231c StPO; § 338 Nr. 5 StPO

1. Ein Angeklagter ist von einem Verhandlungsteil nur dann nicht betroffen, wenn ausgeschlossen werden kann, dass die während seiner Abwesenheit behandelten Verfahrensfragen auch nur mittelbar die gegen ihn erhobenen Vorwürfe berühren und damit auch nur potentiellen

Einfluss auf Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch gegen ihn haben.

2. Von der Möglichkeit der Beurlaubung nach § 231c StPO sollte nur äußerst vorsichtig Gebrauch gemacht werden, weil diese Verfahrensmaßnahme leicht einen absoluten Revisionsgrund schaffen kann.


Entscheidung

292. BGH 3 StR 400/11 - Beschluss vom 10. Januar 2012 (LG Oldenburg)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; rechtsfehlerhafte Zurückweisung eines Befangenheitsgesuchs (Unvoreingenommenheit; Behandlung zweier getrennt geführter Verfahren als Einheit; Abtrennung des Verfahrens gegen einen möglichen Mittäter); Aufklärungspflicht.

§ 23 StPO;§ 24 Abs. 2 StPO;§ 244 Abs. 2 StPO; § 29 BtMG

1. Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters ist, soweit sie nicht den Tatbestand eines Ausschlussgrundes gemäß § 23 StPO erfüllt, regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters im Sinne von § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen.

2. Grundsätzlich unbedenklich ist auch die Mitwirkung an einem Urteil über dieselbe Tat gegen einen anderen Beteiligten in einem abgetrennten Verfahren. Dies gilt auch dann, wenn Verfahren gegen einzelne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennt werden und in dem abgetrennten Verfahren ein Schuldspruch wegen einer Tat ergeht, zu der sich das Gericht im Ursprungsverfahren gegen den oder die früheren Angeklagten später ebenfalls noch eine Überzeugung zu bilden hat.

3. Wenn mehrere Personen angeklagt sind, als Mitglieder einer Bande eine Betäubungsmittelstraftat begangen zu haben, ist es im Hinblick auf die Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) regelmäßig sachgerecht und erforderlich, gegen alle Angeklagten aufgrund einer einheitlichen, alle Beweismittel umfassenden Beweisaufnahme zu entscheiden. Denn andernfalls liegt es nicht fern, dass der aussagebereite Angeklagte zu Lasten der Mitangeklagten seine eigenen Tatbeiträge beschönigende Angaben macht, die das Gericht nach einer nur rudimentären Beweisaufnahme dem Urteil gegen diesen zugrunde legt.


Entscheidung

310. BGH 1 StR 152/11 - Beschluss vom 9. Februar 2012 (LG Wuppertal)

Verfahrenshindernis der Spezialität bei der Steuerhinterziehung (Beseitigung in der Revision; Entfallen der Spezialitätsbindung durch Verbleib in Deutschland oder durch Rückkehr nach Deutschland: Ablauf der Schonfrist; wirksamer Eröffnungsbeschluss trotz anfangs bestehendem Verfahrenshindernis der Spezialität).

§ 370 AO; Art. 14 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 EuAlÜbk; § 72 IRG; § 199 StPO; § 200 StPO; § 207 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 206a StPO

1. Wird im Revisionsverfahren das behebbare Verfahrenshindernis der Spezialität behoben, liegt darin in der Regel keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. Das Revisionsgericht ist bei einer ursprünglichen Missachtung der Spezialität nicht zu einer (Teil-)Einstellung gemäß § 206a StPO gezwungen, sondern vielmehr aus Gründen der prozessualen Fürsorge zur Behebung des Verfahrenshindernisses gehalten.

2. Ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität aus Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) bestehendes Verfahrenshindernis kann auch noch im Revisionsverfahren beseitigt werden.

3. Ist der Ausgelieferte mit Verkündung des erstinstanzlichen Urteils auf freien Fuß gesetzt worden, entfällt die Spezialitätsbindung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk dann, wenn er - obwohl er über die Rechtsfolgen dieser Vorschrift informiert worden ist und die Möglichkeit einer Ausreise hatte - nicht innerhalb von 45 Tagen die Bundesrepublik Deutschland verlassen hat oder wenn er nach dem Verlassen Deutschlands dorthin zurückgekehrt ist.