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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 324

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 542/11, Urteil v. 07.02.2012, HRRS 2012 Nr. 324


BGH 1 StR 542/11 - Urteil vom 7. Februar 2012 (LG Karlsruhe)

Begriff der Tat im prozessualen Sinne (Kognitionspflicht des Gerichts; ne bis in idem; Freispruch: Aufrechterhaltung der Feststellungen); Notwehr bei lebensgefährlichem Stich; versuchter Erwerb von Betäubungsmitteln; versuchtes Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet und bestimmt ist; natürliche Handlungseinheit; gesetzlicher Richter.

Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 264 Abs. 1 StPO; § 212 StGB; § 22 StGB; § 32 StGB; § 52 StGB; § 154a StPO; § 353 Abs. 2 StPO; § 29 BtMG; § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Einzelfall einer einheitlichen Tat zwischen einem in Notwehr ausgeführten lebensgefährlichem Stich und dem versuchten Erwerb von Betäubungsmitteln sowie dem versuchten Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet und bestimmt ist, trotz des zwischenzeitlichen Scheiterns des Versuchs, sich Betäubungsmittel zu verschaffen.

2. Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung (§ 264 Abs. 1 StPO) ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im Sinne des sachlichen Rechts. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind.

3. Bei der Beurteilung des Tatumfangs kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltensweisen - unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung - ein enger sachlicher Zusammenhang besteht; selbst zeitliches Zusammentreffen der einzelnen Handlungen ist weder erforderlich noch ausreichend.

4. Eine Verletzung der Kognitionspflicht führt hinsichtlich anderer tateinheitlicher Delikte zwingend zur Aufhebung eines ergangenen Freispruchs. Wenn der Freispruch in Rechtskraft erwachsen würde, stünde dies der weiteren Verfolgung der Tat unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines weiteren Delikts wegen des Verbots aus Art. 103 Abs. 3 GG entgegen.

5. Feststellungen zu den Grundlagen des Freispruchs können in der hier gegebenen Konstellation (Freispruch unter Außerachtlassung eines tateinheitlichen strafrechtlich relevanten Geschehens) zwar grundsätzlich bestehen bleiben. Es muss dann aber sicher sein, dass die aufrechterhaltenen Feststellungen im neuen tatgerichtlichen Verfahren nicht - auch nur teilweise - Grundlage einer Verurteilung werden könnten. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen bei Freispruch unter Verletzung der Kognitionspflicht hinsichtlich derselben Tat gemäß § 264 StPO wird nur in seltenen Fällen in Betracht kommen.

6. Eine Überdehnung des § 353 Abs. 2 StPO seitens des Revisionsgerichts berührt auch das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 7. Juni 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Dem Angeklagten war in der unverändert zugelassenen Anklage - allein - versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Lediglich ergänzend wurde im Anklagesatz angemerkt, die Tat stehe "im Zusammenhang mit einem Streit um ein Drogengeschäft", das dann im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen näher dargestellt wurde. Das Landgericht hat den Angeklagten - von dem genannten Tatvorwurf - freigesprochen. Sein Stich in den Unterbauch des Geschädigten sei durch Notwehr gerechtfertigt gewesen (§ 32 StGB).

Die Staatsanwaltschaft beanstandet den Freispruch mit der Sachrüge. Zum einen beruhten die Feststellungen zur Notwehrlage auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung. Zum anderen verweist die Revision (erstmals der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe in seiner ergänzenden Äußerung zur Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft) auf eine Verletzung des § 264 StPO. Die Jugendkammer habe ihrer Kognitionspflicht nicht genügt. Das im Anklagesatz angesprochene Drogengeschäft - ein gescheiterter Versuch des Angeklagten, Marihuana zu erwerben - stehe, auch wenn es sich nicht als Handeltreiben im Sinne der Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes darstelle, in so engem zeitlichen, räumlichen, sachlichen und persönlichem Zusammenhang mit den Vorgängen, die Grundlage des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Tötung sind, dass das Betäubungsmittelgeschäft Teil der angeklagten Tat im Sinne von § 264 StPO sei. Das Landgericht hätte, nach entsprechendem Hinweis gemäß § 265 StPO, das Tatgeschehen auch im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz prüfen und gegebenenfalls den Angeklagten dementsprechend verurteilen müssen.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Das Landgericht hat seiner Kognitionspflicht nicht genügt.

II.

Das Landgericht hat festgestellt:

Der in Mainz wohnhafte Angeklagte hatte im Herbst 2010 im Alter von 16 Jahren mit dem Konsum von Marihuana begonnen. Er rauchte regelmäßig am Wochenende Joints. Im Dezember 2010 besuchte der Angeklagte einige Tage seinen Vetter in Karlsruhe. Am 19. Dezember 2010 entschlossen sich der Angeklagte, sein Vetter und dessen Freund dazu, gemeinschaftlich 200 Gramm Marihuana für 1.200,-- € zu kaufen. Jeder sollte ein Drittel dieser Menge erhalten und dementsprechend jeweils mit 400,-- € zur Bezahlung des Kaufpreises beitragen.

Der Angeklagte wollte sich damit einen größeren Vorrat zum Eigenverbrauch zulegen, damit er das Rauschgift nicht in kleineren, teureren Mengen auf seinem heimischen Drogenmarkt beschaffen musste. Der Vetter kannte eine - wie er meinte - geeignete Quelle. Dies war W., das spätere Tatopfer. W. erklärte sich mit dem Handel einverstanden. Tatsächlich konnte und wollte W. kein Rauschgift liefern. Seine Absicht war, sich mittels eines Täuschungsmanövers der 1.200,-- € Kaufgeld ohne Gegenleistung zu bemächtigen.

Am Abend des 19. Dezember 2010 trafen sich die drei Käufer gegen 17.30 Uhr in Karlsruhe-Daxlanden mit dem vermeintlichen Lieferanten, der zur Verstärkung noch eine weitere Person mitgebracht hatte. W. forderte "Vorkasse". Sein Dealer sitze in der Nähe in einem Auto. Das bestellte Rauschgift gebe dieser aber nur gegen gleichzeitige Bezahlung heraus. Er - W. - dürfe sich nur alleine mit ihm treffen. Nach 15 Minuten werde er mit dem bestellten Betäubungsmittel zurückkommen.

Der Angeklagte und seine beiden Begleiter lehnten zunächst ab, vorab zu bezahlen. W. bot daraufhin sein Handy - Neuwert ca. 270,-- € - als Pfand an. Als der Vetter des Angeklagten dann noch versicherte, man könne W. vertrauen, übergaben die drei Käufer diesem schließlich den Kaufbetrag, jeder 400,-- €. Das Mobiltelefon nahm der Angeklagte in Verwahrung.

W. hatte von vorneherein vor, sich dieses später wieder zurückzuholen, notfalls mit Gewalt. W. und sein Begleiter entfernten sich und kehrten - nach drei telefonischen Nachfragen, wo sie denn blieben - verspätet gegen 18.35 Uhr zurück. W. forderte vom Angeklagten in aggressivem Ton, ihm sein Telefon auszuhändigen. Er sei von seinem Dealer "abgezogen" worden. Er könne deshalb weder das bestellte Rauschgift liefern noch das übergebene Geld zurückzahlen. Er benötige sein Telefon, um den, der ihn "abgerippt" habe, anzurufen. Der Angeklagte verweigerte die Herausgabe.

W. verlieh nun seiner Forderung Nachdruck. Von gleicher Statur und Größe wie der Angeklagte stellte er sich unmittelbar vor diesen hin und stieß ihn mit beiden Händen gegen den Brustkorb. Der Angeklagte musste zurückweichen. W. erhob die Hände zu einem weiteren Stoß. Der Angeklagte schlug sie nach unten und wich noch einige Schritte zurück. W. fasste nach einem Schlagring in seiner Jackentasche, schob ihn über seine rechte Hand, ballte diese, zog sie auf Höhe seiner Hüfte zurück und holte aus, um dem etwa 50 Zentimeter entfernten Angeklagten mit dem Schlagring ins Gesicht zu schlagen. Der Angeklagte befürchtete, dadurch schwer verletzt zu werden. Um sich gegen den unmittelbar bevorstehenden Angriff zu wehren und diesen zu beenden, holte der Angeklagte mit schnellem Griff ein Messer aus der Hosentasche, klappte es auf und stach W. mit erheblicher Wucht auf der linken Seite unterhalb des Nabels in den Bauch.

Durch den Einstich quollen einige Dünndarmschlingen aus der Bauchdecke. Mehrere lebenswichtige Blutgefäße wurden verletzt. Dies führte zu hohem Blutverlust. Nur glücklichen Umständen war es zu verdanken, dass W. nicht auf der Stelle verblutete. Er sackte zu Boden und erbrach sich. Sein Begleiter nahm die in den Schuhen des Schwerverletzten versteckten 1.200,-- € an sich und setzte einen Notruf ab. Ohne die zeitnah im St.Vincentius-Klinikum durchgeführte Notoperation hätte W. nicht überlebt.

Der Angeklagte sah, wie W. zusammenbrach. Er rannte sofort weg zur nächsten Bushaltestelle, fuhr zum Hauptbahnhof und weiter mit dem Zug zurück nach Mainz.

III.

Das freisprechende Urteil des Landgerichts hat keinen Bestand.

1. Es kann dahinstehen, ob das Landgericht eine Notwehrsituation rechtsfehlerfrei festgestellt hat.

2. Denn das Urteil verfällt schon deshalb der Aufhebung, da das Landgericht das Tatgeschehen, die angeklagte Tat im Sinne von § 264 StPO, nicht unter allen tatsächlichen und strafrechtlichen Gesichtspunkten gewürdigt hat; es hat seiner Kognitionspflicht nicht genügt. Dies ist auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts hin zu berücksichtigen.

Ob es einer Verfahrensrüge bedurft hätte, wenn der nicht beachtete Teil gemäß § 154a StPO ausgeschieden gewesen wäre, kann dahinstehen (Sachrüge genügt: BGH, Urteil vom 18. Juli 1995 - 1 StR 320/95; Verfahrensrüge erforderlich: BGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 - 4 StR 370/95 -, BGHR StPO § 154a III Wiedereinbeziehung 3). Denn eine Teileinstellung ist hier nicht erfolgt, auch nicht - in Verkennung der Rechtslage - gemäß § 154 StPO (die dann als Beschränkung gemäß § 154a StPO anzusehen wäre).

Die bisherigen Feststellungen begründen den hinreichenden Verdacht, dass sich der Angeklagte eines versuchten (§ 22 StGB) Vergehens des Erwerbs von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG oder gar eines versuchten Verbrechens gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG (Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet und bestimmt ist) schuldig gemacht hat. Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Versuch des Erwerbs von Betäubungsmitteln und der Messerstich zur Abwehr des Angriffs mit dem Schlagring bilden einen einheitlichen Lebenssachverhalt.

Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung (§ 264 Abs. 1 StPO) ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im Sinne des sachlichen Rechts. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind. Bei der Beurteilung des Tatumfangs kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltensweisen - unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung - ein enger sachlicher Zusammenhang besteht; selbst zeitliches Zusammentreffen der einzelnen Handlungen ist weder erforderlich noch ausreichend (vgl. zu allem BGH, Urteil vom 17. März 1992 - 1 StR 5/92 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 21; BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 700/98 -, BGHSt 45, 211, 212 f. = BGHR StPO § 264 I Tatidentität 30; BGH, Urteil vom 14. März 2001 - 3 StR 446/00 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 32; BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 - Rn. 16 f.; BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 - 1 StR 412/11 -, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 28. August 2003 - 2 BvR 1012/01).

Gemessen hieran, besteht zwischen der Herbeiführung der Stichverletzung und dem versuchten Erwerb der Betäubungsmittel eine ausreichende Verknüpfung. Die körperliche Auseinandersetzung stellt sich als Eskalation des Geschehens um den versuchten Erwerb von 200 Gramm Marihuana dar. Sie ist noch dessen Teil. W. wollte mit dem Faustschlag die Rückgabe des als Pfand für den Kaufpreis übergebenen Mobiltelefons gewaltsam durchsetzen.

Auch wenn der Versuch, sich Betäubungsmittel zu verschaffen, mit der Rückkehr des W. ohne das bestellte Marihuana auch für den Angeklagten erkennbar endgültig gescheitert war, ist der Kampf um das Handy mit dem Erwerbsversuch situativ, d.h. sachlich, räumlich, persönlich und zeitlich so eng verbunden, dass von Tatidentität und sogar von natürlicher Handlungseinheit im Sinne von § 52 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2007 - 4 StR 576/07 - Rn. 3, Wegnahme eines Handys nach vollendeter schwerer räuberischer Erpressung) auszugehen ist. Die Mitteilung über das Scheitern der - angeblichen - Bemühungen, an Marihuana zu kommen und den behaupteten Verlust des Geldes ging unmittelbar in die gewaltsame Auseinandersetzung um das Mobiltelefon über. Die Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren würde den hier zu beurteilenden Lebenssachverhalt unnatürlich aufspalten.

Das Landgericht hätte deshalb - wie von der Revision vorgetragen - nach einem Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts (§ 265 StPO) gemäß § 264 StPO von Amts wegen, also auch ohne einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft und ohne Bindung an die Einschätzung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, den Unrechtsgehalt der prozessualen Tat auch im Hinblick auf das Betäubungsmittelgeschäft ausschöpfen müssen. Innerhalb derselben prozessualen Tat ist der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft grundsätzlich unteilbar (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 2001 - 3 StR 446/00 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 32).

3. Da mit dem möglichen Betäubungsmitteldelikt - sogar materiell rechtliche - Tatidentität besteht, führt die aufgezeigte Verletzung der Kognitionspflicht zwingend zur Aufhebung des Freispruchs vom Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Denn wenn der Freispruch in Rechtskraft erwachsen würde, stünde dies der weiteren Verfolgung der Tat unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Drogendelikts wegen des Verbots aus Art. 103 Abs. 3 GG entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96 -, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1; BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09 - Rn. 12; BGH, Urteil vom 17. Januar 2001 - 2 StR 437/00).

Auch Feststellungen können im vorliegenden Fall nicht aufrecht erhalten bleiben.

Dies gilt zunächst für diejenigen zum versuchten Erwerb von Marihuana. Ohne Hinweis darauf, dass auch die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in Betracht kommt unter Aufzeigung der Tatsachen, auf denen diese Möglichkeit beruht, konnte und musste der Angeklagte seine Verteidigung nicht hierauf ausrichten. Auch konnte er sich revisionsrechtlich gegen diese Feststellungen nicht zur Wehr setzen.

Feststellungen zu den Grundlagen des Freispruchs können in der hier gegebenen Konstellation (Freispruch unter Außerachtlassung eines tateinheitlichen strafrechtlich relevanten Geschehens) zwar grundsätzlich bestehen bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 15. September 1983 - 4 StR 535/83 -, BGHSt 32, 84, 86 ff. [Der 4. Strafsenat hat dort entschieden, dass die rechtsfehlerfreien Feststellungen, auf deren Grundlage der Tatrichter den dortigen Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlages freigesprochen hatte, von der Urteilsaufhebung nicht mit umfasst werden, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrer erfolgreichen Revision allein geltend macht, dass es der Tatrichter unter Verstoß gegen § 264 StPO unterlassen hatte, den zuvor gemäß § 154a Abs. 2 StPO aus den Verfahren ausgeschiedenen Vorwurf eines Verstoßes gegen das Waffengesetz wieder einzubeziehen, nachdem er zu dem Ergebnis gelangt war, dass eine Verurteilung wegen versuchten Totschlages nicht in Betracht kommt.]; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. November 2000 - 3 StR 472/00 -, BGHR StPO § 353 II Teilaufhebung 2). Es muss dann aber sicher sein, dass die aufrechterhaltenen Feststellungen im neuen tatgerichtlichen Verfahren nicht - auch nur teilweise - Grundlage einer Verurteilung werden könnten. Denn diese den Angeklagten dann belastenden Feststellungen konnte er bei einem Freispruch revisionsrechtlich nicht beanstanden. Außerdem dürfen die in Frage stehenden strafrechtlich relevanten Vorgänge nicht so eng mit einander verbunden sein, dass bei teilweiser Aufrechterhaltung die Gefahr widersprüchlicher Erkenntnisse im neuen Verfahren besteht. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen bei Freispruch unter Verletzung der Kognitionspflicht hinsichtlich derselben Tat gemäß § 264 StPO wird daher nur in seltenen Fällen in Betracht kommen. Eine Ãœberdehnung des § 353 Abs. 2 StPO seitens des Revisionsgerichts berührt auch das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2006 - 2 BvR 1765/05). Im vorliegenden Fall kann wegen des engen Zusammenhangs des den Freispruch betreffenden Teils der Tat mit dem möglichen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz nur mit einer umfassenden Aufhebung der Weg zu insgesamt widerspruchsfreien Feststellungen eröffnet werden. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Jugendkammer wird deshalb den dem Angeklagten zur Last gelegten Sachverhalt in eigener tatrichterlicher Verantwortung in vollem Umfang erneut zu prüfen und darüber zu entscheiden haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 324

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2012, 355

Bearbeiter: Karsten Gaede