HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2008
9. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1020. BGH 2 StR 134/08 - Beschluss vom 10. September 2008 (OLG Frankfurt am Main)

BGHSt; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision; Frist zur Ergänzung der abgekürzten Urteilsgründe (Fristbeginn; Eingang der Akten); Divergenzvorlage durch das Oberlandesgericht (Abweichung vom Bayerischen Obersten Landesgericht).

§ 267 Abs. 4 Satz 3 StPO; § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 121 Abs. 2 GVG

1. Nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision beginnt die Frist zur Ergänzung der abgekürzten Urteilsgründe mit dem Eingang der Akten bei dem für die Ergänzung zuständigen Gericht. (BGHSt)

2. Der Senat lässt offen, ob eine Divergenz zu der Rechtsmeinung des aufgelösten Bayerischen Obersten Landesgerichts die Vorlegungspflicht aus § 121 Abs. 2 GVG auch nach dessen Auflösung noch begründet. (Bearbeiter)


Entscheidung

921. BGH 1 StR 497/08 - Beschluss vom 8. Oktober 2008 (LG Regensburg)

BGHR; Erstattung der dem zum Anschluss als Nebenkläger Berechtigten für die Heranziehung eines Verletztenbeistandes im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

§ 406g Abs. 3 Satz 1 StPO; § 472 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 StPO; § 473 Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Zur Erstattung der dem zum Anschluss als Nebenkläger Berechtigten für die Heranziehung eines Verletztenbeistandes im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen. (BGHR)

2. Bestellt ein Gericht dem zum Anschluss als Nebenkläger Berechtigten einen Rechtsanwalt als Beistand gemäß § 406g Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 397a Abs. 1 StPO, so gilt dies für das gesamte weitere Verfahren. Demnach hat der Angeklagte als Verurteilter auch die notwendigen Auslagen der zum Anschluss als Nebenkläger Berechtigten zu tragen, die für die Heranziehung des Verletztenbeistands im Revisionsverfahren entstanden sind, § 472 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 472 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 473 Abs. 1 Satz 2 StPO. (Bearbeiter)


Entscheidung

965. BGH 5 StR 251/08 - Beschluss vom 30. September 2008 (LG Berlin)

Im Einzelfall unbegründete Rüge der unzulänglichen Verteidigung der Beschuldigten (Pflichtverteidigung; Entpflichtung; Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung: gebotene Bemühungen um Kontakt mit der Beschuldigten; Fürsorgepflicht); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 143 StPO

Grobe Pflichtverletzungen des Verteidigers, namentlich die Nichteinhaltung unverzichtbarer Mindeststandards, sind der gerichtlichen Kontrolle nicht entzogen (vgl. BGHSt 39, 310, 314; BGHR StPO § 141 Bestellung 5; BGH, Urteil vom 11. Juli 1995 – 1 StR 189/95 – und Beschluss vom 5. April 2001 – 5 StR 495/00). Hierzu gehört ein Mindestmaß an Bemühungen des gerichtlich bestellten Verteidigers um Kontaktaufnahme mit dem Beschuldigten. Dies gilt namentlich bei einer Verteidigung im Sicherungsverfahren, und zwar auch bei Erkrankungen eines Beschuldigten, die den Kontakt eines bestellten Verteidigers zu ihm und den gerade in diesem Fall unbedingt notwendigen Versuch der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses nachhaltig erschweren.


Entscheidung

894. BGH 1 StR 238/08 - Urteil vom 9. Oktober 2008 (LG Würzburg)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Voraussetzungen einer Verletzung: Feststellungen; Kompensation nur durch Vollstreckungslösung; Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK: Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 51 Abs. 1 StGB; § 46 StGB

1. Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung sind als Grundlage der Kompensation Art, Ausmaß und Ursachen der Verfahrensverzögerung zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Hierfür genügen die bloße Aneinanderreihung der zeitlichen Abläufe und die Wiedergabe einer wertenden Beurteilung eines anderen Gerichts in einer Entscheidung über die weitere Haftfortdauer betreffend einen früheren Mitangeklagten nicht.

2. Der Umstand, dass das Strafverfahren während eines einzelnen Verfahrensabschnitts verzögert betrieben wurde, begründet für sich allein keinen Verstoß gegen das „Rechtsstaatsgebot“ des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, wenn das Strafverfahren insgesamt in angemessener Zeit abgeschlossen wurde.

3. Eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist nicht zwangsweise zugleich auch ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Dies führt dazu, dass zur Darlegung einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK der Verweis regelmäßig nicht genügt, dass ein anderes Gericht eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG angenommen hat.

4. Allgemeine Kriterien für die Festlegung der für erforderlich erachteten Kompensation lassen sich zwar nicht aufstellen. Entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalles. Jedoch ist im Auge zu behalten, dass die Verfahrensdauer als solche sowie die damit verbundenen Belastungen der Angeklagten bereits strafmildernd in die Strafzumessung eingeflossen sind. In diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung geht es daher nur mehr um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Verzögerung. Dies schließt es regelmäßig aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen. Vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben (BGH - GS - NJW 2008, 860, 866; BGH, Beschl. vom 6. März 2008 - 3 StR 50/07; Beschl. vom 11. März 2008 - 3 StR 54/08).

5. Einzelfall der Überschreitung des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums bei der Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.


Entscheidung

938. BGH 4 StR 260/08 - Beschluss vom 14. Oktober 2008 (LG Paderborn)

Verkündung eines Urteils ohne Beratung (kein Beweis über das Sitzungsprotokoll); Hinweispflicht bei Anklage einer gemeinschaftlich begangenen Körperverlet-

zung mit Todesfolge und Verurteilung wegen alleintäterschaftlichen Totschlags.

§ 25 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 227 StGB; § 260 Abs. 1 StPO; § 274 StPO; § 265 StPO

1. Allein deshalb, weil das Sitzungsprotokoll eine Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Zwecke der Urteilsberatung nicht ausweist, steht ein gerügte Verfahrensverstoß der Auslassung der Beratung nicht fest. Die Beratung ist nicht Gegenstand der formellen Beweiskraft gemäß § 274 StPO. Die Beratung ist geheim und schon deshalb nicht Bestandteil der Hauptverhandlung; an ihr nimmt der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle nicht teil (BGHSt 5, 294; BGH NStZ 1987, 472; BGH, Beschluss vom 23. November 2000 – 3 StR 428/00). Auch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Zwecke der Beratung ist keine „für die Hauptverhandlung vorgeschriebene Förmlichkeit“ i.S.d. § 274 StPO. Eine Beratung kann jederzeit vor, während und nach einer Sitzung erfolgen, ohne dass dies jeweils explizit im Protokoll zu vermerken wäre. Im Übrigen sieht § 272 Nr. 1 StPO nur vor, dass der Tag der Verhandlung ins Protokoll aufgenommen wird, nicht aber etwa die genaue Uhrzeit, die genaue Dauer oder etwaige Unterbrechungen (vgl. auch BGH VRS 32, 143).

2. Die Annahme von Alleintäterschaft anstelle von Mittäterschaft ist gemäß § 265 StPO hinweispflichtig (BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 5 und 6). Dieser Pflicht ist jedoch genügt, wenn in einem protokollierten Hinweis des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung eine Verfolgung wegen Totschlages aufgeführt wird, ohne dass von einem gemeinschaftlich begangenem Totschlag die Rede ist. Anderes gilt nicht deshalb weil zuvor eine Anklage wegen gemeinschaftlichen Handelns erhoben wurde und sich der Hinweis ausweislich des Protokolls an alle Angeklagte richtete.


Entscheidung

1043. BGH 3 StR 179/08 - Beschluss vom 24. Juni 2008 (LG Kleve)

Rechtsfehlerhafte Zurückweisung eines Beweisantrags (völlig ungeeignetes Beweismittel); Erschöpfung eines Beweisantrags (rechtliches Gehör).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 338 Nr. 8 StPO

1. Zwar kann ein Beweisbegehren, das sich auf ein völlig ungeeignetes Beweismittel stützt, nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt werden. Dabei muss es sich aber um ein Beweismittel handeln, dessen Inanspruchnahme von vorn herein gänzlich aussichtslos wäre, so dass sich die Erhebung des Beweises in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen müsste.

2. Ein Zeuge ist jedenfalls dann kein völlig ungeeignetes Beweismittel, wenn er zu Vorgängen aussagen soll, die sich im Innern eines anderen Menschen abgespielt haben, und er äußere Umstände bekunden kann, die einen Schluss auf die inneren Tatsachen ermöglichen.


Entscheidung

944. BGH 4 StR 353/08 - Beschluss vom 18. September 2008 (LG Köln)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppung (Beleg der Voraussetzungen).

§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 246 StPO

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO in objektiver Hinsicht zwei Voraussetzungen: Die verlangte Beweiserhebung kann nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen; darüber hinaus muss sie geeignet sein, den Abschluss des Verfahrens wesentlich hinauszuzögern; in subjektiver Hinsicht muss sich der Antragsteller der Nutzlosigkeit der Beweiserhebung bewusst sein und mit dem Antrag ausschließlich die Verzögerung des Verfahrensabschlusses bezwecken (vgl. BGHSt 51, 333, 336).

2. Der späte Zeitpunkt der Antragstellung ist für sich allein kein ausreichendes Anzeichen für ein Bewusstsein der Nutzlosigkeit der Beweiserhebung (BGHSt aaO). Dies gilt schon deshalb, weil der Gesetzgeber ungeachtet der grundlegenden Bedeutung des Beschleunigungsgebots die Vorschrift des § 246 Abs. 1 StPO, nach der eine Beweiserhebung nicht deshalb abgelehnt werden darf, weil das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache zu spät vorgebracht worden sei, nicht geändert hat.


Entscheidung

1026. BGH 2 StR 189/08 - Beschluss vom 6. Juni 2008 (LG Frankfurt am Main)

Akkusationsprinzip; Anklagegrundsatz; prozessuale Tat; natürliche Handlungseinheit (Straftaten gegen das men1schliche Leben).

§ 200 StPO; § 264 StPO; § 52 StGB; § 206a StPO

1. Die Tat als Prozessgegenstand (§ 264 StPO) ist nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten dort zur Last gelegte Geschehensablauf. Vielmehr gehört zu ihr das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet. Auch sachlichrechtlich selbständige Taten können prozessual eine Tat im Sinne von § 264 StPO sein.

2. Bei der Bestimmung der Reichweite einer prozessualen Tat kommt es im Einzelfall darauf an, ob die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde.

3. Jede Tötungshandlung gegenüber einem bestimmten Menschen hebt sich - soweit nicht die Voraussetzungen des § 52 StGB vorliegen - so sehr von jeder Tötungshandlung gegenüber einem anderen Menschen ab, dass ein noch so enger äußerer, zeitlicher und psychologischer Zusammenhang verschiedene Tötungshandlungen nicht zu einer Tat machen kann. Denn höchstpersönliche

Rechtsgüter verschiedener Personen sind einer additiven Betrachtungsweise, wie sie der natürlichen Handlungseinheit zugrunde liegt, nur ausnahmsweise zugänglich. Greift daher der Täter einzelne Menschen nacheinander an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu beeinträchtigen, so besteht sowohl bei natürlicher als auch bei rechtsethisch wertender Betrachtungsweise selbst bei einheitlichem Tatentschluss und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlass, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen.


Entscheidung

1027. BGH 2 StR 189/08 - Beschluss vom 6. Juni 2008 (LG Frankfurt am Main)

Unzulässige Revision der Nebenklage (fehlende Angabe eines zulässigen Rechtsmittelziels; Auslegung).

§ 400 Abs. 1 StPO

Nebenkläger können ein Urteil nach § 400 Abs. 1 StPO nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere (oder weitere) Rechtsfolge verhängt wird. Deshalb bedarf es bei einer Revision des Nebenklägers in der Regel eines Revisionsvortrags, der deutlich macht, dass der Beschwerdeführer ein zulässiges Ziel verfolgt. Wird lediglich beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, sind zur Begründung der Sachrüge Ausführungen erforderlich, die erkennen lassen, ob das Rechtsmittel eine Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedelikts oder nur eine Verschärfung der Rechtsfolge anstrebt.


Entscheidung

961. BGH 5 StR 215/08 – Urteil vom 30. September 2008 (LG Görlitz)

Örtliche Zuständigkeit (Begriff des Zusammenhangs; Einwand der Unzuständigkeit; keine Zuständigkeitsbegründung durch „rügelose Einlassung“; Präklusion); Täterschaft beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Zusammenwirken von Veräußerer und Erwerber von Betäubungsmitteln).

§ 29 BtMG; § 25 StGB; § 3 StPO; § 13 StPO; § 16 Sätze 2 und 3 StPO

1. Der Begriff der Tatbeteiligung in § 3 StPO ist nicht auf die Teilnahme im Sinne des materiellen Strafrechts beschränkt; es genügt die strafbare, in dieselbe Richtung zielende Mitwirkung an einem einheitlichen geschichtlichen Vorgang (vgl. BGH NJW 1988, 150 = BGHR StPO § 3 Teilnahme 1). Maßgeblich ist damit die Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO.

2. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt sich das Zusammenwirken von Veräußerer und Erwerber von Betäubungsmitteln grundsätzlich als jeweils selbständige Täterschaft dar, weil sich beide als Geschäftspartner gegenüberstehen und gegenteilige Interessen verfolgen, so dass ihr Zusammenwirken allein durch die Art der Deliktsverwirklichung notwendig vorgegeben ist. Aus dem gleichen Grund kann in dem täterschaftlichen Handeltreiben des Verkäufers auch nicht zugleich eine Beihilfehandlung zu dem durch den Erwerb und die Weiterveräußerung der Betäubungsmittel begründeten Handeltreiben des Abnehmers gesehen werden (vgl. BGH NJW 2002, 3486, 3487).

3. Verfahrensrechtliche Tatsachen, welche dem Eröffnungsbeschluss zeitlich nachfolgen, müssen für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit außer Ansatz bleiben.

4. Die rügelose Einlassung von vormals Mitangeklagten kann bereits deswegen nicht den Gerichtsstand des Zusammenhangs nach § 13 Abs. 1 StPO begründen, weil dieser Fall nicht vom Gesetzeswortlaut erfasst ist. § 13 Abs. 1 StPO kann nur einen weiteren Gerichtsstand für insbesondere von § 7 StPO, § 9 StGB nicht erfasste Fälle begründen und setzt damit also voraus, dass gegen die anderen Beteiligten ein erster Gerichtsstand nach §§ 7 bis 11 StPO gegeben ist (BGHR StPO § 13 Abs. 1 Auslandstat 1). Die Erstreckung des § 13 Abs. 1 StPO auf den Fall der rügelosen Einlassung durch Mitangeklagte ließe sich zudem mit dem Rügerecht des Angeklagten aus § 16 Sätze 2 und 3 StPO nicht vereinbaren.


Entscheidung

931. BGH 4 StR 210/08 - Beschluss vom 29. Juli 2008 (LG Essen)

Unklare Urteilsfeststellungen zu eingestellten und abgeurteilten Taten (Begriff der Tat im prozessualen Sinne; unklarer Einstellungsbeschluss; Sperrwirkung); Geltung des Verschlechterungsverbotes und Berücksichtigung einer zwischenzeitlichen unwirksamen Einstellung im Rahmen der Strafzumessung.

Art. 6 EMRK; Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 154 StPO; § 358 StPO

1. Einzelfall der Aufhebung wegen einer ungenügenden Klarstellung, welche angeklagten Taten abgeurteilt und welche eingestellt worden sind.

2. In einem solchen Fall gilt das Verschlechterungsverbot zwar nur im Hinblick auf die (abgeurteilten) Taten. Das durch die - unwirksame - teilweise Einstellung des Verfahrens möglicherweise begründete Vertrauen des Angeklagten, dass weitere angeklagte Taten nicht verfolgt werden, wird aber bei der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen sein (vgl. BGHSt 37, 10, 14). Falls in der neuen Hauptverhandlung - möglicherweise aus Gründen der Fairness (vgl. BGH NStZ 2001, 656, 657) - (wiederum) die teilweise Einstellung des Verfahrens in Betracht kommen sollte, müssen die eingestellten Taten eindeutig bezeichnet werden.


Entscheidung

962. BGH 5 StR 224/08 – Urteil vom 18. September 2008 (LG Frankfurt)

Anforderungen an die Begründung eines Freispruchs und einer Verurteilung; Verdeckungsmord durch Unterlassen; sittenwidrige Einwilligung in eine Körperverletzung mit Todesfolge; fahrlässige Tötung.

§ 211 StGB; § 222 StGB; § 227 StGB; § 228 StGB; § 13 StGB; § 261 StPO

1. In Verurteilungsfällen verlangt das verfassungsrechtlich verankerte Gebot rational begründeter und tatsachengestützter Beweisführung die Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere aus kriminalistischen, forensischen und aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnener Erfahrungsregeln in die Beweiswürdigung (vgl. BVerfG – Kammer – NJW 2003, 2444, 2445; BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 141 nicht abgedruckt: „unbezweifelbares Erfahrungswissen“). Dies erscheint auch geboten, weil zur Widerlegung der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 19,

342, 347) und Art. 6 Abs. 2 MRK ergebenden Unschuldsvermutung der Wert der Belastungsbeweise durch die Anwendung der jeweils vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bestimmen und dadurch zu härten ist.

2. Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn der Tatrichter einen Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob diesem Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (BGH NJW 2006, 925, 928 m.w.N., insoweit in BGHSt 50, 299 nicht abgedruckt). Der Überprüfung unterliegt ebenfalls, ob das Landgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 147; BGH NStZ 2004, 35, 36; BGH wistra 1999, 338, 339; jeweils m.w.N.). Ein Rechtsfehler kann auch darin liegen, dass der Tatrichter einer Einlassung kritiklos gefolgt ist (vgl. BGHSt 50, 80, 85) oder eine nach den Feststellungen nicht nahe liegende Schlussfolgerung gezogen hat, ohne konkrete Gründe anzuführen, die diese stützen können. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten eines Angeklagten Sachverhalte zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichenden Anhaltspunkte vorhanden sind (vgl. BVerfG – Kammer – Beschluss vom 8. November 2006 – 2 BvR 1378/06; BGHSt 51, 324, 325 m.w.N.; BGH wistra 2008, 22, 24).


Entscheidung

1021. BGH 2 StR 142/08 - Beschluss vom 13. Juni 2008 (LG Marburg)

Eröffnungsbeschluss (Besetzung der Strafkammer); Ablehnung eines Beweisantrages (Wahrunterstellung, Verstoß gegen Bindungswirkung).

§ 76 GVG; § 244 StPO

1. Die Strafkammern bei den Landgerichten haben über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage in der Besetzung mit drei Berufsrichtern unter Ausschluss der Schöffen zu entscheiden (§ 76 Abs. 1 Satz 2 GVG).

2. Eine Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage während der Hauptverhandlung in der gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG reduzierten Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen ist unwirksam, da die Strafkammer in dieser Besetzung nicht zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufen. Wird allein in dieser Besetzung die Eröffnung beschlossen, so besteht ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis.


Entscheidung

978. BGH 5 StR 350/08 - Beschluss vom 20. August 2008 (LG Berlin)

Letztes Wort des Angeklagten nach Abtrennung des Verfahrens gegen einen Mitangeklagten (Ausschluss des Beruhens im besonderen Ausnahmefall).

§ 258 Abs. 2, 3 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

Das Revisionsgericht kann ein Beruhen des Urteils auf einem Verfahrensmangel nach § 258 Abs. 2, 3 StPO nur in besonderen Ausnahmefällen ausschließen (vgl. BGHSt 21, 288, 290; 22, 278, 281; BGH StV 2000, 296). Ein solcher kann insbesondere bei einem geständigen Angeklagten vorliegen, dem das letzte Wort nicht nochmals gewährt wurde, nachdem das Verfahren gegen einen Mitangeklagten abgetrennt wurde, das die gegen den Angeklagten verhandelten Taten nicht berührte.


Entscheidung

997. BGH 5 StR 439/08 - Beschluss vom 1. Oktober 2008 (LG Berlin)

Anforderungen an die Beweiswürdigung bei der Wiedererkennung durch den Geschädigten und den Zeugen anhand von Lichtbildern (Identifizierung; Beweiswert der Wiedererkennungsleistung; Erörterungsmängel).

§ 261 StPO

1. Das Tatgericht muss in einem verurteilenden Urteil, das sich auf eine Wiedererkennung stützt, die Umstände würdigen, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des Wiedererkennens der Angeklagten durch die Zeugen bedeutsam sind (vgl. BVerfG – Kammer – NJW 2003, 2444, 2445; BGHR StPO § 261 Identifizierung 6 und 16; BGH StV 1995, 452).

2. Obwohl einem Wiedererkennen einerseits in Fällen vorangegangener Wahl- und Einzellichtbildvorlagen nur ein fragwürdiger Beweiswert zukäme (BVerfG aaO; BGH NStZ 1996, 350), kann sich die Erörterung im Urteil aufdrängen, ob die Zeugen die Angeklagten in der Hauptverhandlung wiedererkannt haben. Ein Nichtwiedererkennen in der Hauptverhandlung wäre geeignet, die Zuverlässigkeit der früheren Identifizierung in Frage zu stellen (BGH StraFo 2005, 297).


Entscheidung

966. BGH 5 StR 276/08 – Beschluss vom 17. September 2008 (LG Braunschweig)

Beweiswürdigung beim Vorwurf der Vergewaltigung (Detailarmut der Aussage; Überzeugungsmaßstab; Darstellung von Sachverständigengutachten).

§ 177 Abs. 2 StGB; § 261 StPO

1. Sind Angaben der wesentlichen Belastungszeugen detailarm, muss das Gericht bedenken, dass dies Auswirkungen auf die Aussagekraft des Konstanzkriteriums für die Bewertung der Glaubhaftigkeit einer Aussage haben kann.

2. Einzelfall der lückenhaften Darstellung der Aussagegenese und der Stellungnahme des Sachverständigen.


Entscheidung

950. BGH 4 StR 374/08 - Beschluss vom 30. September 2008 (LG Rostock)

Sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung; Veranlasserprinzip des Kostenrechts; Erfolg im kostenrechtlichen Sinne.

§ 465 Abs. 1 StPO; § 473 Abs. 4 StPO

1. Nach dem im Kostenrecht geltenden Veranlasserprinzip hat der Angeklagte, der in beiden Tatsacheninstanzen wegen desselben Tatvorwurfs zu nahezu derselben Frei-

heitsstrafe verurteilt worden ist, die gesamten Kosten der ersten Instanz, die kostenrechtlich als Einheit anzusehen ist, zu tragen (vgl. BGHR StPO § 465 Abs. 1 Kosten 2).

2. Hinsichtlich der Kosten des Revisionsverfahrens gilt, dass die vollständige oder teilweise Aufhebung des zunächst ergangenen Urteils und die Zurückverweisung an das Landgericht für sich noch kein Erfolg im kostenrechtlichen Sinne ist. Es kommt vielmehr darauf an, ob und inwieweit die neue Entscheidung – verglichen mit der aufgehobenen – zu Gunsten des Beschwerdeführers ausfällt. Die Tatsache, dass der Angeklagte gegen die neue Entscheidung wiederum Revision eingelegt hat, spricht dagegen, dass er die erste landgerichtliche Entscheidung hingenommen hätte, wenn sie so ausgefallen wäre, wie sie sich nach dem Ergebnis der neuen Verhandlung darstellt (vgl. BGHR StPO § 473 Abs. 4 Quotelung 6).


Entscheidung

973. BGH 5 StR 317/08 - Beschluss vom 5. August 2008 (LG Bremen)

Rechtsfehlerhafte Besetzung (nur durch einen nachträglich berichtigenden Beschluss reduzierte Besetzung nach § 76 Abs. 2 StPO).

§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG; § 338 Nr. 1 StPO

1. Die Entscheidung über die Anzahl der an der Hauptverhandlung mitwirkenden Richter ist bei der Eröffnung des Hauptverfahrens zu treffen (vgl. BGHR GVG § 76 Abs. 2 Besetzungsbeschluss 1). „Bei der Eröffnung“ bedeutet zugleich mit der Eröffnungsentscheidung; eine spätere Beschlussfassung ist nicht möglich, weil mit der Eröffnung des Hauptverfahrens feststehen muss, mit wie vielen Richtern das erkennende Gericht in diesem Verfahrensabschnitt besetzt ist. Die Entscheidung kann regelmäßig auch nicht mehr geändert werden (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 214).

2. Ist bei Eröffnung des Hauptverfahrens nicht nach § 76 Abs. 2 GVG beschlossen worden, dass die große Strafkammer in der Hauptverhandlung nur mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt ist, so muss die Strafkammer in der Hauptverhandlung mit drei Richtern tätig werden, und zwar auch dann, wenn der Ausspruch versehentlich unterblieben ist (vgl. BGHSt 44, 361, 362; BGH NStZ-RR 2006, 214).


Entscheidung

1031. BGH 2 StR 250/08 - Beschluss vom 16. Juli 2008 (LG Mainz)

Teilweise Aufhebung und Zurückverweisung (Umfang der Teilrechtskraft).

§ 353 Abs. 2 StPO

1. Wird ein Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache in diesem Umfang an einen neuen Tatrichter zurückverwiesen, so sind alle Feststellungen aufgehoben und damit nicht mehr existent, die sich ausschließlich auf den Strafausspruch beziehen. Dazu gehört neben der Strafzumessung im engeren Sinne mit den Feststellungen zur Person auch die Bestimmung des richtigen Strafrahmens, insbesondere das Vorliegen von Strafrahmenverschiebungen etwa nach §§ 21, 49 StGB .

2. In einem solchen Falle hat der neue Tatrichter zu den persönlichen Verhältnissen und dem Werdegang des Angeklagten sowie zu den Voraussetzungen und der Anwendbarkeit des § 21 StGB ohne Bindung an das aufgehobene Urteil in prozessordnungsgemäßer Weise eigene Feststellungen zu treffen und in den Urteilsgründen mitzuteilen.


Entscheidung

1035. BGH 2 StR 391/08 - Urteil vom 15. Oktober 2008 (LG Köln)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung; Hang zu erheblichen Straftaten (Beweiswürdigung; Abweichung von einem Sachverständigengutachten; eigene Sachkunde).

§ 66 StGB; § 261 StPO; § 246a StPO

1. Der Tatrichter ist nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, denn das Gutachten kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Will der Tatrichter jedoch eine Frage, zu der er einen Sachverständigen gehört hat, in Widerspruch zu dessen Gutachten lösen, so muss er sich in einer Weise mit den Darlegungen des Sachverständigen auseinandersetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Tatrichter das Sachverständigengutachten als von zutreffenden Anknüpfungspunkten ausgehend, nachvollziehbar und überzeugend charakterisiert.

2. Das Merkmal des Hangs verlangt einen eingeschliffenen Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist danach derjenige, der dauernd zu Straftaten entschlossen ist, oder der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Das Vorliegen eines solchen Hanges hat der Tatrichter unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen.