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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1026

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 189/08, Beschluss v. 06.06.2008, HRRS 2008 Nr. 1026


BGH 2 StR 189/08 - Beschluss vom 6. Juni 2008 (LG Frankfurt am Main)

Akkusationsprinzip; Anklagegrundsatz; prozessuale Tat; natürliche Handlungseinheit (Straftaten gegen das menschliche Leben).

§ 200 StPO; § 264 StPO; § 52 StGB; § 206a StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Tat als Prozessgegenstand (§ 264 StPO) ist nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten dort zur Last gelegte Geschehensablauf. Vielmehr gehört zu ihr das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet. Auch sachlichrechtlich selbständige Taten können prozessual eine Tat im Sinne von § 264 StPO sein.

2. Bei der Bestimmung der Reichweite einer prozessualen Tat kommt es im Einzelfall darauf an, ob die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde.

3. Jede Tötungshandlung gegenüber einem bestimmten Menschen hebt sich - soweit nicht die Voraussetzungen des § 52 StGB vorliegen - so sehr von jeder Tötungshandlung gegenüber einem anderen Menschen ab, dass ein noch so enger äußerer, zeitlicher und psychologischer Zusammenhang verschiedene Tötungshandlungen nicht zu einer Tat machen kann. Denn höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen sind einer additiven Betrachtungsweise, wie sie der natürlichen Handlungseinheit zugrunde liegt, nur ausnahmsweise zugänglich. Greift daher der Täter einzelne Menschen nacheinander an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu beeinträchtigen, so besteht sowohl bei natürlicher als auch bei rechtsethisch wertender Betrachtungsweise selbst bei einheitlichem Tatentschluss und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlass, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. September 2007 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte wegen versuchten Totschlags zum Nachteil E. Ka. (in Tateinheit mit weiteren Straftaten) verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,

b) das vorgenannte Urteil dahin geändert, dass der Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Beteiligung an einer Schlägerei und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die dadurch den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht Wiesbaden hatte den Angeklagten durch Urteil vom 1. April 2005 wegen Mordes (zum Nachteil A. Ka.) zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Senat hatte diese Entscheidung durch Urteil vom 22. März 2006 (BGH NStZ 2007, 417) mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen. Dieses Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Beteiligung an einer Schlägerei und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren (Einzelstrafen jeweils elf Jahre) verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den nunmehr getroffenen Feststellungen des Landgerichts war ein Sohn des H. B., des Onkels des Angeklagten, bei dem dieser zur Tatzeit lebte, erschossen worden. Man machte dafür Personen im Umfeld des später getöteten A. Ka. verantwortlich; dies führte zu einer feindselig gespannten Lage zwischen beiden Familien.

Am Tatabend wollte der Angeklagte zusammen mit einem weiteren Neffen des B., D. S., die Diskothek P. in Wiesbaden aufsuchen. Sie wurden dort nicht eingelassen, weil S. mit Hausverbot belegt war und weil sich in der Diskothek A. Ka. mit seinem Bruder E. Ka. und einigen seiner Freunde aufhielt. Es kam deshalb zu einer Schlägerei mit dem für das Sicherungsunternehmen des Zeugen N. tätigen Türstehern; S. wurde hierbei verletzt. In Anwesenheit der herbeigerufenen Polizeibeamten drohte der Angeklagte dem Zeugen N. Rache an. Der Angeklagte kehrte daraufhin zunächst wieder zur Wohnung des H. B. zurück. D. S. wurde ambulant im Krankenhaus behandelt und begab sich dann gemeinsam mit seinem Bruder H. S. ebenfalls zum B.

Als man B. von dem Vorfall berichtete, beschloss dieser, zu der Diskothek zu fahren; dort sollten die Türsteher verprügelt werden. Er legte eine schusssichere Weste an und nahm einen Baseballschläger mit. Gemeinsam mit den Brüdern S. und dem Kick-Box-Veranstalter T. fuhr man zunächst zu einer anderen Diskothek, nahm dort den Türsteher Er. Kar., der aber nur vermitteln wollte, auf und fuhr sodann zur Diskothek P.

Vor der Diskothek stieß man - möglicherweise zufällig - auf A. Ka., der telefonierte. Nachdem Kar. ihn begrüßt hatte, ging Ka. zum Fahrzeug des T. und fragte, was los sei. B. stieg nun, ohne den Baseballschläger mitzunehmen, aus dem anderen Fahrzeug aus, ging auf A. Ka. zu, wobei es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen beiden kam. A. Ka. wich zurück und redete beschwichtigend auf B. ein. Während sich die Auseinandersetzung auf den Bürgersteig vor der Diskothek verlagerte, ergriff B. das Hemd des A. Ka. im Brustbereich und zog an diesem. Nunmehr kamen die Brüder S., Kar. und der Angeklagte hinzu; der Angeklagte führte eine halbautomatische Kurzwaffe bei sich, ohne über eine waffenrechtliche Erlaubnis zu verfügen. Aus der Diskothek liefen E. Ka. und Freunde von A. Ka. auf die Straße, um diesem beizustehen. Es entstand ein Gerangel. E. Ka. versetzte H. S. einen Faustschlag, woraufhin dieser zu Boden ging. Nun rief B. "bas, bas", was auf türkisch "schieß, schieß", aber auch "mach, mach" oder "drück, drück" bedeutet. Hierauf zog der Angeklagte seine Pistole und gab mehrere, schnell aufeinander folgende Schüsse mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den ihm in einer Entfernung von wenigen Metern zugewandten A. Ka. ab. Er traf ihn mindestens einmal unterhalb der rechten Brust, ohne dass dies eine lebensgefährliche Verletzung zur Folge hatte.

Daraufhin wandte sich der Angeklagte leicht zur Seite und gab ebenfalls mit bedingtem Tötungsvorsatz zumindest einen Schuss auf den neben A. Ka. stehenden E. Ka. ab, wobei er diesen am rechten Oberarm traf.

Sodann wandte sich der Angeklagte zur Flucht. In dem unmittelbar anschließenden Kampfgeschehen wurden A. Ka. und H. B. von bislang unbekannten Tätern erschossen.

2. Das Verfahren ist einzustellen, soweit das Landgericht den Angeklagten wegen Straftaten zum Nachteil des E. Ka. verurteilt hat, weil diese Tat nicht von der Anklage umfasst war und eine Nachtragsanklage nicht erhoben wurde. Die unverändert zugelassene Anklage vom 9. Februar 2004 legte dem Angeklagten zur Last, gezielt zwei Schüsse auf A. Ka. abgegeben und ihn durch einen der beiden getötet zu haben. Der Schuss auf E. Ka. wurde zwar im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen erwähnt, dort aber keinem bestimmten Schützen zugeordnet.

a) Bei dem Schuss auf E. Ka. handelt es sich um eine selbständige prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO. Allerdings ist nach ständiger Rechtsprechung (vgl. nur BGHSt 45, 211; BGH NStZ 2006, 350; BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 31; 35) die Tat als Prozessgegenstand nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten dort zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört zu ihr das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet. Auch sachlichrechtlich selbständige Taten können prozessual eine Tat im Sinne von § 264 StPO sein. Dabei kommt es im Einzelfall darauf an, ob die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde.

Eine solche Verknüpfung der strafbaren Handlungen liegt hier, gemessen am Verhalten des Angeklagten, jedoch nicht vor. Dass die vom Angeklagten auf die Brüder A. und E. Ka. abgefeuerten Schüsse zeitlich aufeinander folgten und unter denselben äußeren und inneren Umständen ausgelöst wurden, genügt hierzu nicht (vgl. BGH Beschl. vom 9. April 2008 - 3 StR 86/08). Jede Tötungshandlung gegenüber einem bestimmten Menschen hebt sich, soweit nicht die Voraussetzungen des § 52 StGB vorliegen, auch für die natürliche Auffassung so sehr von jeder Tötungshandlung gegenüber einem anderen Menschen ab, dass ein noch so enger äußerer, zeitlicher und psychologischer Zusammenhang verschiedene Tötungshandlungen nicht zu einer Tat machen kann, mit dem Ergebnis, dass eine Verurteilung oder Freisprechung wegen einer solchen Tötung die Verfolgung wegen der Übrigen hindern könnte (so bereits BGH, Urteil vom 6. Juli 1956 - 5 StR 434/55; vgl. im Übrigen Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. § 264 Rdn. 2 b, 3 und 6 b). Es lagen hier also weder eine gleichartige Angriffsrichtung noch dasselbe Tatobjekt oder eine deliktsimmanente Verbindung der Handlungen (vgl. dazu Meyer-Goßner aaO § 264 Rdn. 2 a m.w.N.) noch eine Überschneidung im äußeren Ablauf der Taten (vgl. BGH BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 34) vor. Die Verstöße gegen das Waffengesetz und die Beteiligung an der Schlägerei vermögen zwischen den weit schwerer wiegenden versuchten Tötungsdelikten keine prozessuale Tatidentität zu begründen (vgl. BGH NStZ 1989, 540; Engelhardt in KK-StPO 5. Aufl. § 264 Rdn. 8).

b) Eine Zusammenfassung der auf A. und E. Ka. abgegebenen Schüsse zu einer natürlichen Handlungseinheit (vgl. dazu Fischer StGB 55. Aufl. vor § 52 Rdn. 4 und 7 f.) scheidet aus. Es darf nämlich nicht außer Acht gelassen werden, dass höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen einer additiven Betrachtungsweise, wie sie der natürlichen Handlungseinheit zugrunde liegt, nur ausnahmsweise zugänglich sind. Greift daher der Täter einzelne Menschen nacheinander an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu beeinträchtigen, so besteht sowohl bei natürlicher als auch bei rechtsethisch wertender Betrachtungsweise selbst bei einheitlichem Tatentschluss und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlass, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen (vgl. BGHSt 2, 246, 247; 16, 397; BGH NStZ 2006, 284, 285 f.; BGHR StGB vor § 1/natürliche Handlungseinheit Entschluss, einheitlicher 9, 10).

Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs, etwa bei Messerstichen innerhalb weniger Sekunden (vgl. BGH BGHR StGB vor § 1/natürliche Handlungseinheit Entschluss, einheitlicher 2), bei einem gegen eine aus der Sicht des Täters nicht individualisierte Personenmehrheit gerichteten Angriff (vgl. BGH NJW 1985, 1565) oder bei zeitgleich und wechselweise erfolgenden Angriffen auf mehrere Opfer (BGH NStZ 2003, 366) willkürlich und gekünstelt erschiene. Ein solcher Sonderfall ist hier jedoch nach den Feststellungen nicht gegeben. Das Schwurgericht hat die Beweggründe des Angeklagten, auch auf E. Ka. zu schießen, nicht festzustellen vermocht. Es geht davon aus, dass der Angeklagte erst auf A. Ka. schoss und sich nach Abgabe dieser Schüsse entschied, auch auf den in eine Auseinandersetzung mit den Brüdern S. verwickelten E. Ka. zu schießen (UA 46). Durch das - der Annahme einer natürlichen Handlungseinheit hier entgegenstehende (vgl. Rissing-van Saan in LK 12. Aufl. Rdn. 14 vor § 52 m.w.N.) - Handeln auf Grund eines neu gefassten Entschlusses unterscheidet sich der Fall von denjenigen Sachverhalten, welche den Beschlüssen des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 23. September 1986 (BGHR StGB vor § 1/natürliche Handlungseinheit Entschluss, einheitlicher 1), vom 4. Juni 1991 (BGHR StGB vor § 1/natürliche Handlungseinheit Entschluss, einheitlicher 5) und vom 24. Oktober 2000 (NStZRR 2001, 82) zugrunde lagen.

3. Die Einstellung des Verfahrens wegen des Schusses auf E. Ka. führt zur Änderung des Schuldspruchs. Die für die versuchte Tötung des A. Ka. verhängte Strafe kann bestehen bleiben. Die Schuldspruchänderung berührt den Unrechts- und Schuldgehalt dieser Tat nicht. Der Senat kann in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt angesichts der Strafzumessungserwägungen des Landgerichts ausschließen, dass die Höhe der hierfür verhängten Einzelstrafe von der Verurteilung wegen des Schusses auf E. Ka. beeinflusst worden ist; insbesondere führt das Schwurgericht diesen Gesichtspunkt bei der Rechtsfolgenbemessung nicht an.

4. Im verbleibenden Umfang der Verurteilung hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1026

Bearbeiter: Ulf Buermeyer