HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2008
9. Jahrgang
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Schrifttum

Hauke Brettel: Tatverleugnung und Strafrestaussetzung - Ein Beitrag zur Praxis der Kriminalprognose, Duncker & Humblot, 2007, 324 Seiten, 74,- €.

I. Das Gesetz macht in §§ 57, 57a StGB die Aussetzung eines Strafrestes u. a. davon abhängig, ob sie "unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann". Der Aussetzungsentscheidung des Gerichts geht also eine Prognose voraus, die sich mit dem Verurteilten und seinem Verhalten auseinandersetzt; dazu zählt auch sein Umgang mit der Tat. Es ist jedoch keineswegs selten, dass der rechtskräftig Verurteilte die Tatbegehung (weiterhin) bestreitet, er also von sich behauptet, nicht (oder nicht "so") schuldig zu sein, wie es im Urteil steht. Gerade bei Sexual- und Tötungsdelikten ist fortdauernde Tatverleugnung häufig anzutreffen (vgl. etwa Schmitt, BewHi 1996, S. 3, 10; Rehder, ZfStrVo 1999, S. 153, 154). Nach verbreiteter Ansicht im Vollzug und bei den Strafvollstreckungskammern macht dem Verurteilten solches Bestreiten eine Auseinandersetzung mit sich und der Tat unmöglich. Die Folge: Der Verurteilte gilt (weiterhin) als gefährlich - zumindest entsteht eine Art prognostisches Zugangshindernis, weil aufgrund des Bestreitens keine verlässliche Aussage über sein zukünftiges Verhalten unmöglich sei. Die Aussicht auf Lockerungen rückt dann oft in weite Ferne; und ohne vorherige Erprobung steht es auch schlecht um die Aussetzung des Strafrestes.

II. Diese Praxis überrascht auf den ersten Blick, denn das BVerfG wies bereits darauf hin, es fehle an einem gesicherten ärztlichen Erfahrungssatz, wonach aus dem Leugnen der Tat auf den Fortbestand der Gefährlichkeit geschlossen werden dürfe (NStZ 1998, S. 373, 375). Allerdings ist nicht zu übersehen, dass das Bestreiten der Tatbegehung unter den Fähnlein "defizitärer Realitätseinschätzung", "fehlender Schuldverarbeitung" und "massiven Bagatellisierungs- und Verleugnungstendenzen" von den zuständigen Kammern und Senaten gleichwohl für erheblich gehalten wird. Es ist also ein praktisch wichtiges wie theoretisch anspruchsvolles Thema, dessen sich Hauke Brettel annimmt. Mit Blick auf die §§ 57, 57a StGB charakterisierende "empirisch-normative Gemengelage" (S. 20) teilt er seine Untersuchung in zwei große Kapitel auf: "Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft" und "Das Problem der Tatverleugnung im Recht".

Im ersten Teil stellt Brettel umfassend die von den Psycho-Wissenschaften entwickelten und in der Praxis relevanten Prognoseverfahren vor, was allein schon die Lektüre lohnt, und untersucht sie unter dem spezifischen Aspekt des Umgangs mit der Tatverleugnung. Die Ergebnisse sollten Vollzugspraktiker zur Kenntnis nehmen: Im von Webster, Douglas, Eaves und Hart auf der Grundlage empirischer Rückfallstudien über Sexual- und Gewalttäter entwickelten und 1997 vorgelegten HCR-20-Schema ("The assessment of dangerousness and risk"; HCR stehen für Historical, Clinical und Risk), das sich auch in der Bundesrepublik großer Beliebtheit als Prognoseinstrument erfreut, ist Ableugnen keines der Einzelmerkmale (S. 37 f.). Im SVR-20-Schema (Sexual Violence Risk) heißt es: "Es gibt keinen eindeutigen empirischen Belege dafür, das dieser Faktor (= Tatverleugnung) zukünftige sexuelle Gewalttaten vorhersagt" (S. 48 f.). Nach Rasch und Nedopil (S. 51 ff.) kommt dem Bestreiten des rechtskräftig Verurteilten keine verallgemeinerungsfähige Bedeutung zu; Gleiches gilt für die von Leygraf, Nowarra und Kröber entwickelten Einschätzungsverfahren (S. 55). Im von Rehder vorgelegten RRS-Testverfahren (Rückfallrisiko Sexualstraftäter) ist Tatverleugnung ebenfalls kein Kriterium des sog. Grundbogens oder des "Zusatzbogens Vergewaltiger" (S. 62). Auch die von Göppinger entwickelte und von Bock und Maschke durch weitere Einbeziehung kriminologischer Erkenntnisse verfeinerte Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) lässt für das Ableugnen der Tat prognostisch keinen Raum (S. 66 f., 71; zur Bedeutung der Kriminologie für die Verteidigung im Erkenntnisverfahren vgl. Neuhaus, in: FS Schwind, 2006, S. 535 ff., dort auch zu HCR-20 und MIVEA).

Das alles kann nicht verwundern, denn wer könnte ernsthaft der Meinung sein, es käme auf die äußere Haltung zum Tatgeschehen an? Wem die Tat nicht allzu schwer auf der Seele liegt, der mag gerade deshalb leicht gestehen und ohne Problem über seine Tat reden können! Man darf ihm deshalb aber gewiss keine bessere Prognose stellen. "Verantwortungsübernahme" bedeutet eben nicht automatisch eine Distanzierung von der Tat. Wer hingegen unter seiner Tat leidet, der spricht bisweilen deshalb sehr ungern über die Tat und ihre schmerzlichen Details. Außerdem werden die Schilderungen des Inhaftierten in der Regel von seiner veränderten Zukunfts- und Lebensperspektive geprägt sein, für deren Bewahrung er sich beispielsweise veranlasst sehen kann, sich von der Tat ganz oder teilweise zu distanzieren. Man denke an Ableugnen, um die Gunst naher Angehöriger zu erhalten oder weil der Gefangene befürchtet, subkulturellen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Es gibt eben ganz unterschiedliche Arten der Verarbeitung der Tat. Deshalb ist die

mangelnde Bereitschaft, über die Tat zu reden oder sie zumindest nachträglich zu gestehen, also nach Eintritt der Rechtskraft, prognostisch grundsätzlich ohne Belang.

So lautet denn auch das überzeugende Fazit Brettel s am Ende des erfahrungswissenschaftlich ausgerichteten Teils seiner Arbeit: Tatverleugnung ist kein prognosebestimmender Faktor (S. 81). Sie kann allenfalls dann Bedeutung erlangen, wenn sie Ausdruck eines anderen prognoserelevanten Umstandes ist (S. 63), etwa einer Persönlichkeitsstörung (S. 45, 49), der Projizierung eigenen Fehlverhaltens auf andere (S. 57) oder mangelnder Fähigkeit zur Empathie (S. 78). Aber selbst dann kommt dem Ableugnen "ausnahmslos" nur geringes prognostisches Gewicht zu und bleibt nur eines unter vielen Kriterien (S. 78). Auf der Basis dieser Erkenntnisse entwickelt Brettel dann Empfehlungen für den Umgang mit der Tatverleugnung (S. 121 ff. und S. 153 ff.), die vor allem die notwendigen Differenzierung von innerer und äußere Haltung (S. 162 ff.) sowie von Können und Wollen (S. 165 ff.) anmahnen, wobei es - wie schon angesprochen - auch für den fehlenden Willen zum Geständnis nachvollziehbare, prognostisch keinesfalls nachteilige Gründe geben kann.

Im zweiten Teil seiner Untersuchung wendet sich Brettel den mit der Tatverleugnung verbundenen rechtlichen Fragestellungen zu (S. 192 ff.), so der Relevanz der Rechtskraft für das Leugnungsproblem: Ist der Prognostiker an die Feststellungen im Urteil gebunden oder nicht? Brettel stellt zunächst die in Rechtsprechung und Literatur zur Rechtskraftwirkung vertretenen Ansichten vor (S. 200 ff.) und gelangt nach sorgfältiger Analyse zu dem überzeugenden Ergebnis, dass sich dem Gesetz bei Entlassungsprognosen ein im Vergleich zur Hauptverhandlung verändertes Beurteilungsinteresse zu persönlichkeitsabhängigen Umständen entnehmen lasse (S. 215 ff.). Trotz insoweit fehlender Bindungswirkung drohe nicht die Gefahr, dass im Vollstreckungsverfahren einem Bestreiten früherer Taten stets nachgegangen werden müsse: Fehlende Bindungswirkung bedeute nämlich nicht, das man über die Feststellungen im Urteil nach Belieben hinweg gehen könne. Wolle der Sachverständige bzw. das zur Entscheidung berufene Gericht sich über Urteilsfeststellungen zu persönlichkeitsbezogenen (!) Umständen hinwegsetzen, dann sei ein Gegenvortrag erforderlich, der sich ausnahmsweise dann durchsetzen könne, wenn er entsprechende Substanz aufweise (S. 228). Jedenfalls solle der Sachverständige nicht verschweigen, wenn aus seiner Sicht im tatrichterlichen Verfahren etwas übersehen wurde (S. 229).

Im Anschluss wirft Brettel die Frage auf, welche Bedeutung dem Zweifelssatz und der Unschuldsvermutung für das Leugnungsproblem zukommen. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass beide Rechtssätze auf die Prognose nicht anwendbar seien. Zwar handle es sich entgegen verbreiteter Ansicht auch insoweit um eine Tatsachenfrage (S. 247). Doch gehe es bei §§ 57, 57a StGB um den Menschen, wie er (wahrscheinlich) wirklich sei, nicht aber darum, wie man ihn zu einen Gunsten betrachten könne (S. 250). Bleibe also auch nach sorgfältigster (S. 132 ff.) Exploration offen, ob die Tatleugnung Ausdruck eines prognostisch relevanten Kriteriums ist oder nicht, zwingen nach Brettel weder Zweifelssatz noch Unschuldsvermutung zur Annahme der "harmlosen" Variante.

Schließlich wird die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit für das Leugnungsproblem erörtert (S. 268 ff.): Will der nemo-tenetur-Grundsatz den Betroffenen allein davor schützen, vor rechtskräftiger Verurteilung an der eigenen "Überführung" mitzuwirken, oder geht es auch um andere Formen der Selbstbezichtigung? Auch hier erweist sich die Darstellung und Aufarbeitung des Streitstandes als sorgfältig und überzeugend. Allerdings fehlen die Ergebnisse der im Jahre 2006 publizierten Habilitationsschrift von Ralf Kölbel zu Selbstbelastungsfreiheiten im materiellen Recht; man wird vermuten dürfen, dass Brettel sie nicht mehr berücksichtigen konnte. Der bemerkenswerten Qualität der Darstellung tut das aber keinen Abbruch. Letztlich will Brettel den nemo-tenetur-Grundsatz nicht gelten lassen, solange es um die rechtskräftig abgeschlossenen Sache geht (S. 291).

III. Wenn es etwas an der Arbeit Brettel s zu bemängeln gibt, dann nur im historischen Teil: Wie konnte es eigentlich zur Gleichsetzung von Tatleugnung und Gefährlichkeit kommen? Sie findet sich, soweit ersichtlich, erstmals in der vor mehr als 50 Jahren erschienen Monografie von E. Frey , Der frühkriminelle Rückfallverbrecher (Basel 1951). Nach und nach fand Frey Nachahmer, ohne dass bei ihm nachzulesen gewesen wäre, warum denn dieses Kriterium so ungeheuer wichtig sei. Ansonsten kann an nur sagen: Endlich hat sich (auch) ein juristischer Autor daran gemacht, die in der Praxis oft anzutreffende Tatverleugnung nach rechtskräftiger Verurteilung zu entmystifizieren und die in Vollstreckung und Vollzug immer wieder aufgemachte Rechnung "fehlendes Geständnis = fehlende Auseinandersetzung mit der Tat = fortbestehende Gefährlichkeit" zu falsifizieren. Man kann nur wünschen, dass die Ergebnisse der Arbeit gerade in diesen Kreisen zur Kenntnis genommen und daraus die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Es ist abwegig, dass das Leugnen an sich direkt zur (nächsten) Straftat führt - so wie Erwartung abwegig ist, dass jemand nur deshalb Böses nicht wieder tut, weil er es bekannt hat. Man muss akzeptieren, dass jede Zukunft im Konjunktiv steht. Intuitive oder tradierte Vorstellungen (zur Geständnisorientierung als soziales Handlungsmuster ausf. Kölbel , Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 174 ff.) dürfen sachliche Argumente nicht länger ersetzen. Nach dieser Untersuchung können sie es auch nicht mehr.

Dr. Ralf Neuhaus, Rechtsanwalt & Fachanwalt für Strafrecht, Dortmund

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