HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2008
9. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

916. BGH 1 StR 449/08 - Beschluss vom 9. September 2008 (LG Deggendorf)

Verhältnis von Sicherungsverwahrung und vorbehaltener Sicherungsverwahrung (Beurteilung der Gefährlichkeit bei verweigerter Exploration: Schluss aus dem Hang, neue Umstände nach der letzten Hangtat, Selbstbelastungsfreiheit); Stellung des Adhäsionsantrags vor den Schlussvorträgen (Stellungnahmemöglichkeit der Staatsanwaltschaft).

§ 66a StGB; § 66 Abs. 3 Satz 2, Abs. 2 StGB; § 404 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Aus dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit folgt ohne weiteres, dass ein Angeklagter nicht aktiv an der Schaffung von Grundlagen für seine Verurteilung mitwirken muss. Zur Feststellung der Gefährlichkeit eines Hangtäters bedarf es keiner Erkenntnisse, die nur mit dessen Zustimmung gewonnen werden können. Vielmehr ergibt sich die Gefährlichkeit i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB regelmäßig schon allein aus der getroffenen Feststellung eines Hangs (BGH NStZ 2007, 464; BGHSt 50, 188, 196; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 1, 3 jew. m.w.N.).

2. Anderes kann - von Besonderheiten hinsichtlich der drohenden Taten (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 4) abgesehen - nur dann gelten, wenn zwischen der letzten Hangtat und dem Urteilszeitpunkt neue Umstände eingetreten sind, die die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten entfallen lassen. Dabei müssen die Umstände als solche feststehen (BGH NStZ 2007, 464; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 1). Sind nach der letzten Hangtat Umstände eingetreten, die zwar möglicherweise die künftige Gefährlichkeit in Frage stellen können, die aber noch keine eindeutige Beurteilung der Frage zulassen, ob deshalb die Gefährlichkeit entfallen ist oder nicht, so ist Raum für eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB.

3. Liegen die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB vor, hat die Strafkammer zu entscheiden, wie sie das ihr danach eingeräumte Ermessen ausübt, gegen den Angeklagten Sicherungsverwahrung anzuordnen oder nicht. Für eine Anordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung ist dagegen kein Raum (BGHSt 50, 188, 193).

4. Ein Adhäsionsantrag ist gemäß § 404 Abs. 1 Satz 1 StPO vor Beginn der Schlussvorträge zu stellen, weil (auch) der Staatsanwalt Gelegenheit haben muss, auch zu Schadensersatzansprüchen Stellung zu beziehen (BGHR StPO § 404 Abs. 1 Antragstellung 1). Deshalb reicht es aus, wenn in Fällen, in denen nach den Schlussausführungen die Beweisaufnahme wieder eröffnet wurde, der Antrag vor den erneuten (letzten) Schlussausführungen gestellt wird.


Entscheidung

924. BGH 4 StR 153/08 - Urteil vom 2. Oktober 2008 (LG Münster)

Verfall von Wertersatz; Härtevorschrift (Revisibilität; Ermessen; Begriff der unbilligen Härte: vollständige Entreicherung und Unterhaltsverpflichtungen; Behandlung von Vermögen, das zweifelsfrei in keinem denkbaren Zusammenhang mit den abgeurteilten Straftaten steht).

§ 73 StGB; § 73a StGB; § 73c StGB

1. Es kommt für den Verfall von Wertersatz grundsätzlich nicht darauf an, ob das vorhandene Vermögen einen konkreten oder unmittelbaren Bezug zu den Straftaten hat; ebenso wenig hängt die Anordnung des Verfalls davon ab, ob der Angeklagte die vorhandenen Vermögenswerte unmittelbar mit Drogengeldern erworben hat oder ob er mit Drogengeldern andere Aufwendungen bestritten und erst mit den so eingesparten Mitteln das noch vorhandene Vermögen gebildet hat (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 73 c Wert 2 = wistra 2000, 298). Daher scheidet eine Ermessensentscheidung nach § 73 c Abs. 1 Satz 2 1. Alt. StGB regelmäßig aus, solange und soweit der Angeklagte über Vermögen verfügt, das wertmäßig nicht hinter dem „verfallbaren“ Betrag zurückbleibt (BGH aaO).

2. Letzteres gilt indes nicht uneingeschränkt. Steht zweifelsfrei fest, dass der fragliche Vermögenswert ohne jeden denkbaren Zusammenhang mit den abgeurteilten Straftaten erworben wurde, ist eine Ermessensentscheidung nach § 73 c Abs. 1 Satz 2 1. Alt. StGB insoweit nicht ausgeschlossen (vgl. Senat BGHSt 48, 40, 42 f.; BGH NStZ-RR 2005, 104 [3. Strafsenat]; a.A. [nicht tragend] BGHSt 51, 65, 70 Tz. 23 [1. Strafsenat]). Vorhandenes Vermögen behält aber seine Bedeutung im Rahmen der nach billigem Ermessen zu treffenden Entscheidung. Bestehen etwa Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte bewusst unbemakeltes Vermögen geschont und seine Lebensführung und sonstige Ausgaben mit dem aus den Straftaten Erlangten bestritten hat, wird dies regelmäßig dazu führen, dass von der Möglichkeit des § 73 c Abs. 1 Satz 2 1. Alt. StGB kein Gebrauch zu machen ist.

3. Zwar ist die Anwendung der Härtevorschrift des § 73 c StGB in erster Linie Sache des Tatrichters. Die Gewichtung der für das Vorliegen einer unbilligen Härte maßgeblichen Umstände unterliegt daher grundsätzlich nicht der Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Mit der Revision kann jedoch beanstandet werden, dass das Tatbestandsmerkmal der „unbilligen Härte“ rechtsfehlerhaft interpretiert worden ist (vgl. BGH wistra 2003, 424, 425).

4. Die Annahme einer „unbilligen Härte“ im Sinne des § 73 c Abs. 1 Satz 1 StGB setzt nach ständiger Rechtsprechung eine Situation voraus, nach der die Anordnung des Verfalls das Übermaßverbot verletzen würde, also schlechthin „ungerecht“ wäre (vgl. BGH NStZ 1995, 495; wistra 2003, 424, 425). Die Auswirkungen müssen im konkreten Einzelfall außer Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber mit der Maßnahme angestrebten Zweck stehen; es müssen besondere Umstände vorliegen, auf Grund derer mit der Vollstreckung des Verfalls eine außerhalb des Verfallszwecks liegende zusätzliche Härte verbunden wäre, die dem Betroffenen auch unter Berücksichtigung des Zwecks des Verfalls nicht zugemutet werden kann.

5. Der Gesichtspunkt, dass dem Angeklagten nur ein „geringes Restvermögen“ verbleibe, stellt kein taugliches Kriterium dar. Aus § 73 c Abs. 1 Satz 2 StGB folgt, dass die - auch vollständige - Entreicherung des Täters als solche keine Härte darstellt, die (zwingend) zum Ausschluss der Verfallsanordnung nach § 73 c Abs. 1 Satz 1 StGB führt (vgl. BGH NStZ 2000, 589, 590; wistra 2003, 424, 425). Auch ein nicht weiter spezifizierter Hinweis auf Unterhaltsverpflichtungen des Angeklagten gegenüber seinen Kindern ist ungeeignet, die Annahme eines Härtefalls im Sinne des § 73 c Abs. 1 Satz 1 zu rechtfertigen.


Entscheidung

1029. BGH 2 StR 217/08 - Beschluss vom 25. Juni 2008 (LG Frankfurt am Main)

Täter-Opfer-Ausgleich (Ausgleich mit dem Tatopfer; beschönigendes Teilgeständnis; Übernahme von Verantwortung).

§ 46a Nr. 1 StGB

1. Ein umfassendes Geständnis ist nicht ausnahmslos erforderlich, um die Anwendung des Täter-Opfer-Ausgleichs gemäß § 46a Nr. 1 StGB zu ermöglichen. Ausnahmen sind vielmehr namentlich nach gelungenem, auf einem kommunikativen Prozess beruhenden Ausgleich mit dem Tatopfer möglich. Voraussetzung bleibt aber auch in diesem Fall, dass der Täter-Opfer-Ausgleich

Zeichen der Übernahme von Verantwortung für die Tat sein muss.

2. Eine Übernahme von Verantwortung in diesem Sinne ist im Einzelfall auch dann nicht ausgeschlossen, wenn ein in der Hauptverhandlung abgelegtes Geständnis einzelne Tatumstände beschönigt. Sie fehlt aber, wenn der Täter die Tat als Notwehrhandlung gegen einen rechtswidrigen Angriff des Tatopfers hinstellt und somit schon die Opfer-Rolle des Geschädigten bestreitet.


Entscheidung

1061. BGH 2 StR 313/08 - Beschluss vom 23. Juli 2008 (LG Frankfurt am Main)

Schuldfähigkeit; verminderte Schuldfähigkeit; Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) darf bei möglicher Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt nur dann angeordnet werden, wenn der Täter bei Begehung der Tat zumindest sicher erheblich vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) war.


Entscheidung

943. BGH 4 StR 316/08 - Beschluss vom 16. September 2008 (LG Halle)

Gebotener Härteausgleich bei der Strafzumessung (unzulässige Gesamtstrafenbildung aus einer Jugendstrafe und einer Freiheitsstrafe des allgemeinen Strafrechts bei getrennter Aburteilung); rechtsfehlerhaft abgelehnte Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (Auslegung des symptomatischen Zusammenhangs).

§ 54 StGB; § 64 StGB

Zwischen dem in § 64 StGB vorausgesetzten Hang zu übermäßigem Alkoholgenuss und der Tat sowie der zukünftigen Gefährlichkeit muss ein symptomatischer Zusammenhang bestehen (vgl. BGHR StGB § 64 Zusammenhang, symptomatischer 1). Ein solcher Zusammenhang ist nach ständiger Rechtsprechung auch dann zu bejahen, wenn der Hang zum übermäßigen Konsum alkoholischer Getränke neben anderen Umständen mit dazu beigetragen hat, dass der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat und dies bei unverändertem Suchtverhalten auch in Zukunft zu besorgen ist. Dieser Zusammenhang kann daher grundsätzlich nicht allein deshalb verneint werden, weil außer dem Alkoholmissbrauch noch weitere Persönlichkeitsmängel eine Disposition für die Begehung von Straftaten begründen (vgl. BGHR StGB § 64 Zusammenhang, symptomatischer 1; BGH NStZ 2004, 681).


Entscheidung

951. BGH 4 StR 387/08 - Beschluss vom 8. Oktober 2008 (LG Arnsberg)

Strafzumessung bei der Vergewaltigung (vertypte Milderungsgründe).

§ 50 StGB; § 46 StGB; § 177 StGB

Zwar kann das Vorliegen eines vertypten Milderungsgrundes Anlass geben, trotz Vorliegens eines Regelbeispiels einen besonders schweren Fall zu verneinen (st. Rspr). Der Tatrichter muss aber bedenken, dass der nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderte Strafrahmen des § 177 Abs. 2 StGB für den Angeklagten günstiger ist als der des § 177 Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren).


Entscheidung

933. BGH 4 StR 221/08 - Beschluss vom 17. Juli 2008 (LG Saarbrücken)

Feststellung belastender Tatfolgen (Geltung des Zweifelssatzes, in dubio pro reo).

§ 46 StGB; § 261 StPO

Der Zweifelssatz gilt uneingeschränkt auch für die Strafzumessung (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 41 m.w.N.). Eine zum Nachteil des Angeklagten auf bloße Vermutungen hinsichtlich möglicherweise auftretender Folgen der Tat gestützte Strafzumessung ist unzulässig.


Entscheidung

934. BGH 4 StR 226/08 - Beschluss vom 8. Oktober 2008 (LG Bochum)

Minder schwerer Fall des Totschlags; Doppelverwertungsverbot beim Totschlag; eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts (verfassungskonforme Auslegung; Aufrechterhaltung der Strafe).

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 21 StGB; § 49 StGB; § 46 Abs. 3 StGB; § 354 Abs. 1a StPO

Eine Strafzumessungserwägung bei der Verurteilung wegen Totschlags, die der Sache nach nichts Anderes beschreibt als den zur Tatbestandsverwirklichung erforderlichen Tötungsvorsatz und die Anwendung der nach der Vorstellung der Angeklagten zur Tötung erforderlichen Gewalt, verstößt gegen das Doppelverwertungsverbot. Ebenso wie der Tötungsvorsatz als solcher darf auch die Anwendung der zur Tötung erforderlichen Gewalt grundsätzlich nicht strafschärfend gewertet werden (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 3 Tötungsvorsatz 2; BGH StV 1998, 657).