HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2006
7. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

400. BGH 5 StR 547/05 - Beschluss vom 7. März 2006 (LG Potsdam)

BGHR; Herabsetzung des Strafausspruchs im Beschlusswege (Teilerfolg; angemessene Rechtsfolge; gesetzlicher Richter; rechtliches Gehör; Rechtsweggarantie; Recht auf ein faires Verfahren); Strafzumessung (lange Dauer bis zur Aburteilung).

§ 354 Abs. 1 a StPO; Art. 6 EMRK; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 349 Abs. 4 StPO; § 46 StGB

1. Eine Entscheidung eines Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO kann auch durch Beschluss erfolgen. (BGHR)

2. Eine Entscheidung durch Beschluss nach § 349 Abs. 4 StPO setzt voraus, dass der jeweilige Spruchkörper einhellig die Auffassung vertritt, dass die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und dass auch die Durchführung der Hauptverhandlung keine neueren Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten lässt, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten (vgl. BGHR StPO § 349 Abs. 2 Verwerfung 6). (Bearbeiter)

3. Eine Beweisaufnahme über etwaige neue, für die Strafzumessung bedeutsame Umstände ist vor dem Revisionsgericht nicht möglich (BGHR StPO § 354 Abs. 1a Verfahren 2). (Bearbeiter)


Entscheidung

385. BGH 1 StR 20/06 - Beschluss vom 23. März 2006 (LG Coburg)

Besetzung des Gerichts; Öffentlichkeitsgrundsatz bei der Auslosung der Reihenfolge der Schöffen (ungehinderter Zugang bei einer Auslosungssitzung in einem von außen nicht zu öffnenden Dienstzimmer; später Aushang ohne Angabe der Auslosungszeit; Anforderungen an den interessierten Bürger).

§ 338 Nr. 1 StPO; § 169 GVG; § 77 Abs. 1 GVG; § 45 Abs. 2 Satz 1 GVG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Für die Auslosung der Reihenfolge der Hauptschöffen nach § 77 Abs. 1 GVG i. V. m. § 45 Abs. 2 Satz 1 GVG gelten dieselben Bedingungen wie für die Verfahrensöffentlichkeit vor dem erkennenden Gericht nach § 169 GVG (BGH NStZ 1984, 89). Der Grundsatz der Öffentlichkeit besagt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuhörer teilzunehmen (BGHSt 27, 13, 14, st. Rspr.).

2. Zur Vermeidung von Verfahrensbeschwerden ist es diesbezüglich angezeigt, generell die Schöffenauslosung ebenso wie eine Hauptverhandlung in Strafsachen anzukündigen und regelmäßig in einem Sitzungssaal durchzuführen. Es ist aber nicht zu beanstanden, gewisse Anforderungen an den interessierten Bürger, der sich den Zugang zu einer öffentlichen Verhandlung in einem Gericht verschaffen will, zu stellen. Die Möglichkeit, ohne besondere Schwierigkeiten an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung teilzunehmen, bedeutet nicht, dass dem Bürger, der heute bei vielen Gerichten aus Sicherheitsgründen durch Bedienstete kontrolliert wird, nicht zuzumuten wäre, ein Richterzimmer oder einen Verhandlungssaal entweder über ein Vorzimmer zu betreten oder den Einlass durch Klopfen zu erlangen.

3. Die Öffentlichkeit in einem Verhandlungssaal ist auch dann als gewahrt anzusehen ist, wenn zwar die unmittelbare Tür verschlossen ist, potentielle Zuhörer aber durch die geöffnete Saaltür den Zuhörerraum betreten können. Die Voraussetzungen für eine "öffentliche" Verhandlung liegen auch dann vor, wenn die Eingangstür des Gerichtsgebäudes verschlossen ist, der Zuhörer sich aber mit Hilfe einer Klingel Einlass verschaffen kann (BVerwG NVwZ 2000, 1298).


Entscheidung

394. BGH 1 StR 577/05 - Beschluss vom 17. März 2006 (LG Augsburg)

Aufklärungspflicht (Aufklärungsrüge: zulässige Einbeziehung der Akten; Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung); Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG; Aufrechterhaltung des Strafausspruchs (angemessene Rechtsfolge; gesetzlicher Richter; rechtliches Gehör; Rechtsweggarantie; Recht auf ein faires Verfahren); Strafzumessung (geringeres Gewicht des bloßen Zeitablaufs bei Taten zum Nachteil junger Opfer).

§ 244 Abs. 2 StPO; § 51 Abs. 1 BZRG; § 354 Abs. 1 a StPO; Art. 6 EMRK; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 46 StGB

1. Das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG hindert den Tatrichter nicht nur an der Berücksichtigung der Vorstrafe als solcher, sondern auch an der strafschärfenden Erwägung, dass der Vollzug der von dem Verwertungsverbot betroffenen Strafe nicht ausreichte, um den Angeklagten von weiteren Straftaten abzuhalten (BGH NStZ 1983, 19). Das Verwertungsverbot erstreckt sich auch auf Umstände, die eng mit der nicht verwertbaren Tat im Zusammenhang stehen (etwa hohe Rückfallgeschwindigkeit, erneute Tatbegehung am selben Opfer). Auch wenn sie für die Beurteilung des Schuldgehalts von wesentlicher Bedeutung sind, müssen derartige Umstände gleichsam ausgeblendet werden (BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 5). Auch der Umstand, dass die Vorstrafe von der Verteidigung offenbart und immer wieder angesprochen worden ist, macht sie nicht verwertbar (BGHSt 27, 108, 109 f.).

2. Nach § 354 Abs. 1a StPO soll von einer Aufhebung des Urteils auch dann abgesehen werden, wenn das Revisionsgericht die verhängte Strafe trotz des Rechtsfehlers bei ihrer Zumessung im Ergebnis für angemessen hält,

selbst wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Tatrichter ohne den Fehler auf dieselbe Strafe erkannt hätte (BGH NJW 2005, 913, 914; Maier/Paul NStZ 2006, 82 f. m.w.N.). Ob die Beurteilung der Angemessenheit allein aufgrund der Urteilsgründe möglich ist oder ob es etwa in besonderem Maße auf den persönlichen Eindruck vom Angeklagten ankommt und deshalb die Aufhebung des Strafausspruchs und die Zurückverweisung der Sache geboten ist, ist eine Frage des Einzelfalls (BGH NJW 2005, 1813, 1814).

3. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO kann sich auch aus Hinweisen in den Akten ergeben (BGH NStZ 1985, 324, 325), so dass die Aufklärungsrüge dem Revisionsgericht gleichsam den Blick in die Akten eröffnet. Andererseits verspricht die Aufklärungsrüge dann keinen Erfolg, wenn ihre Prüfung eine Wertung des Inhalts der Beweisaufnahme erfordert.

4. Bei Sexualstraftaten zum Nachteil junger Opfer hat der bloße Zeitablauf seit der Tat als begünstigender Strafzumessungsumstand weniger Gewicht.


Entscheidung

423. BGH 5 StR 514/04 - Beschluss vom 4. April 2006

Unzulässige und unbegründete Gegenvorstellung; rechtliches Gehör und Anhörungsrüge; Eingriff in die Rechtskraft der revisionsgerichtlichen Sachentscheidung wegen der Verletzung anderer grundrechtsgleicher Rechte allenfalls unter Beachtung der Anhörungsrügenfrist.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Vor § 1 StPO; § 356a StPO

Sofern bei Verletzung anderer grundrechtsgleicher Verfahrensrechte, einschließlich des Willkürverbots, ein Eingriff in die Rechtskraft der revisionsgerichtlichen Sachentscheidung zu erwägen wäre, liegt die entsprechende Anwendbarkeit dieser Fristenschranke auf der Hand.


Entscheidung

425. BGH 5 StR 551/05 - Beschluss vom 9. März 2006 (LG Berlin)

Feststellung der wirksamen Rücknahme der Revision (unzulässige Willensbeeinflussung; Haftentscheidung des Tatgerichts: Hinweis auf den eine Aufhebung der Haft begünstigenden neuen Umstand einer Rechtsmittelrücknahme).

§ 302 Abs. 1 StPO; § 112 StPO

Die durch das Tatgericht geäußerte Auffassung, eine ernst gemeinte Ankündigung einer Rechtsmittelrücknahme könne bei einem bis dahin jegliche Tatbeteiligung bestreitenden Angeklagten einen neuen Umstand darstellen, der im Rahmen der gebotenen Abwägung der für und gegen eine Flucht sprechenden Umstände die Erwartung rechtfertigen könne, der Angeklagte werde sich der Strafvollstreckung nicht entziehen, weil er nun das Unrecht seines Tuns eingesehen habe, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Eine sachwidrige Verknüpfung von Haftverschonung und Revisionsrücknahme liegt darin nicht.


Entscheidung

362. BGH 2 StR 271/05 - Beschluss vom 24. März 2006

Ausschluss vom Richteramt kraft Gesetzes (Tätigwerden als Beamter der Staatsanwaltschaft); Besorgnis der Befangenheit.

§ 22 Nr. 4 StPO; § 24 StPO

1. Wer lediglich die Dienstaufsicht über Beamte der Staatsanwaltschaft ausübt, wird nicht selbst als Beamter der Staatsanwaltschaft "in der Sache" tätig im Sinne von § 22 Nr. 4 StPO. Denn die Ausübung der Dienstaufsicht ist nicht dazu bestimmt, Einfluss auf ein bestimmtes Strafverfahren zu nehmen, sondern dient allein der allgemeinen dienstlichen Überprüfung des Handelns der beaufsichtigten Behörde.

2. Die Besorgnis der Befangenheit kann sich nicht allgemein aus dem Umstand der früheren Abordnung eines Richters an ein Justizministerium und seiner dortigen, im Wege der Dienstaufsicht erfolgten Befassung mit dem gegen den nunmehrigen Angeklagten geführten Strafverfahren ergeben.


Entscheidung

370. BGH 2 StR 585/05 - Urteil vom 22. März 2006 (LG Wiesbaden)

Mord (niedrige Beweggründe); ergänzende Vernehmung eines Sachverständigen (neue Anknüpfungstatsachen; Beweisantrag; Aufklärungspflicht; Beruhen); Überzeugungsbildung (nemo tenetur; Schweigerecht; Teilschweigen); Beweiswürdigung (Nichtberücksichtigung wesentlicher Beweisanzeichen).

§ 211 StGB; § 244 StPO; § 337 StPO; § 261 StPO; § 136 Abs. 1 StPO

1. Es darf nicht als Beweisanzeichen gegen den Angeklagten gewertet werden, dass er sich erst in der Hauptverhandlung zur Sache eingelassen hat (vgl. BGHSt 38, 302, 305 m.w.N.; st. Rspr.).

2. Die pauschale Äußerung eines Beschuldigten, er habe "mit dem Vorfall nichts zu tun", ist keine Teileinlassung, an welche eine zulässige Verwertung des nachfolgenden Schweigens nach den Maßstäben des "Teilschweigens" anknüpfen dürfte.


Entscheidung

368. BGH 2 StR 573/05 - Urteil vom 15. März 2006 (LG Frankfurt)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Überzeugungsbildung; psychiatrisches Gutachten; Anknüpfungstatsachen; Urteilsgründe).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO; § 63 StGB

Dem Gutachten eines Sachverständigen darf sich das Gericht nicht ohne weiteres anschließen. Will es dem Ergebnis ohne Angabe eigener Erwägungen folgen, so müssen in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergegeben werden.