HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2006
7. Jahrgang
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Schrifttum

Wolfgang Mitsch: Rechtfertigung und Opferverhalten, Schriftenreihe Strafrecht in Forschung und Praxis, Band 37, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2004, 676 Seiten, ISBN 3-8300-1153-9.

I. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Veröffentlichung der Habilitationsschrift von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch (Lehrstuhl für Strafrecht mit Jugendstrafrecht und Kriminologie, Universität Potsdam), welche der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen im Wintersemester 1990/1991 vorgelegen hat. Für die Veröffentlichung wurden von Mitsch in Anbetracht des seitdem vergangenen Zeitraumes die Bezugnahmen auf Literatur und Rechtsprechung auf den aktuellen Stand gebracht, ohne dabei jedoch - worauf Mitsch im Vorwort ausdrücklich hinweist - Vollständigkeit erreicht zu haben. Änderungen an dem 1990 abgeschlossenen Text wurden nicht vorgenommen. Dies tut jedoch dem wertvollen Beitrag der inhaltlich sehr differenziert sowie tiefgründig gestalteten Untersuchung von Mitsch zur Diskussion rund um das interaktionistische Moment des Deliktsentstehungsvorgangs, in welchen sowohl der Täter als auch das Opfer verwickelt sind, keinen Abbruch.

II. Das umfangreiche und detailliert gestaltete Inhaltsverzeichnis findet seine Entsprechung in der inhaltlichen Bearbeitung der einzelnen Themenbereiche, wobei sich Mitsch nicht nur im Haupttext, sondern auch in dem sehr umfangreichen Fußnotenapparat mit den jeweils behandelten Untersuchungsgegenständen im Einzelnen sehr genau und kritisch auseinandersetzt und Stellung bezieht. Teilweise, jedoch nur auf den ersten Blick etwas kompliziert klingende Überschriften (wie z.B. Teil 1, 2. Kap., § 7 II. 2. a) Intrasystematische Inkonsequenz bei der Bestimmung der viktimodogmatischen Wertungsparameter) werden beim Lesen des entsprechenden Textes verständlich, da Mitsch in sehr ansprechender und klarer Sprache formuliert sowie seine Überlegungen zum Teil anhand von Beispielen erklärt.

Die Ausrichtung des primären strafrechtlichen Reglements auf das Täterverhalten einerseits (S. 3) und das zunehmende Interesse sowie die Aufwertung des Opferverhaltens und dessen strafbarkeitsbeeinflussende Bedeutung andererseits im Auge behaltend, zeigt Mitsch auf, dass "von seiten der Viktimodogmatik die ganze Vielfalt der ihrer spezifischen Denkweise zugänglichen Sachgebiete offensichtlich noch nicht voll ausgeschöpft worden" (S. 8) ist, was insbesondere auch für den Bereich der Rechtfertigungsgründe gelte. Dies greift er sodann auf und macht es sich - und wie seine Arbeit zeigt, im Ergebnis zu recht - zur lohnenden Aufgabe, den "möglichen Einflüsse(n) viktimodogmatischer Gedanken auf die Rechtfertigungsdogmatik" (S. 9) nachzugehen. Zentrales Anliegen seiner Arbeit ist dabei die Aufdeckung von "wertstrukturelle(n) Parallelen der Institute 'Einwilligung' und 'mutmaßliche Einwilligung'" einerseits zu den als ,Notrechte' klassifizierten Rechtfertigungsgründen 'Notwehr' und 'Notstand' andererseits" (S. 9).

III. Was den Aufbau der Arbeit betrifft, behandelt Mitsch im ersten Teil der Arbeit das Thema "Viktimodogmatik und Rechtfertigungsgründe" (S. 13-158), wobei er im Anschluss an die Darstellung der Grundlagen der Viktimodogmatik einzelne Rechtfertigungsgründe, wie die Einwilligung, Notwehr und den rechtfertigenden Notstand im Lichte der Viktimodogmatik untersucht.

Unter kritischer Würdigung und Aufzeigen von Schwächen der Viktimodogmatik im Bereich der Rechtfertigungsgründe geht die Untersuchung von Mitsch über in

den zweiten Teil "Interessenkumulation und Rechtfertigung" (S. 159-640), in dem er einen von der Viktimodogmatik abweichenden Ansatz für die Bestimmung der Rechtfertigungsrelevanz des Opferverhaltens wählt (S. 637). Auf "die Funktion von Rechtfertigungsgründen, das Täterverhalten auf eine optimale Befriedigung des tatbestandlich geschützten Rechtsgutserhaltungsinteresses und mindestens eines weiteren schutzwürdigen Gegeninteresses auszurichten" (S. 637, 638) abstellend, steht der zweite Teil der Arbeit unter dem "Leitmotiv der optimalen Befriedigung kumulierender Interessen" (S. 158) durch das Zusammenwirken von Tatbestandsmäßigkeitsnorm und Rechtfertigungsgründen. Auf der Grundlage der traditionellen Rechtfertigungsdogmatik mit ihren Rechtfertigungskategorien "Erforderlichkeit" und "überwiegendes Interesse" ist es das Anliegen von Mitsch, ein "einheitlich strukturiertes materiales Fundament" (S. 10) der Rechtfertigungsgründe Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung, Notwehr und Notstand zu entwickeln.

Der erste Abschnitt des zweiten Teils der Arbeit beschäftigt sich mit den "Allgemeine(n) Regeln der rechtlichen Behandlung von Interessenkumulationen durch Rechtfertigungsgründe" (S. 159-204), der zweite Abschnitt mit der "Externe(n) Interessenkumulation" (S. 205-408) und der dritte Abschnitt mit der "Interne(n) Interessenkumulation" (S. 409-640).

Im Rahmen der externen Interessenkumulation untersucht Mitsch den Rechtfertigungsausschluss sowie die Rechtfertigungsbegründung nach dem Prinzip der kumulativen Interessenbefriedigung (1. und 2. Kapitel), wobei sich insofern umfangreiche Ausführungen mit Blick auf den rechtfertigenden Notstand sowie die rechtfertigende Pflichtenkollision finden. Das 3. Kapitel beschäftigt sich mit der kumulativen und alternativen Interessenbefriedigung im Notwehrrecht.

Im Rahmen der Untersuchung der internen Interessenkumulation, die das Zusammentreffen von mehreren Interessen einer einzigen Person zum Gegenstand hat (S. 409), kommt Mitsch zu dem Ergebnis, dass der Rechtfertigungsgrund des Notstandes auf die externe Interessenkumulation zugeschnitten und bei der internen Interessenkumulation überflüssig sei (vgl. S. 419). Die interne Interessenkumulation unterliege vielmehr dem "Regime von Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung" (S. 639) und beide Rechtfertigungsgründe werden in Bezug auf jene in den vier Kapiteln des dritten Abschnitts des Buches einer umfangreichen und detailliert gestalteten Untersuchung unterzogen, deren Darstellung im Einzelnen den Rahmen dieser Rezension jedoch übersteigen würde.

Besonders hingewiesen sei insoweit aber zumindest auf das 3. Kapitel zu den "Anpassungsfehler(n) und ihre(n) Quellen bei der Einwilligung" (S. 495-606), das sich mit den "Willensmängel(n) bei der Einwilligung" (Vorwort) beschäftigt und damit mit dem Thema, das Mitsch laut eigener Formulierung im Vorwort "am meisten am Herzen" liegt. Mitsch untersucht hier zwei Erscheinungsformen der Willensmängel, zum einen den Wissensmangel, also den Irrtum als "Spezialfall" (S. 495) des Willensmangels und zum anderen die Einschränkung der Entschließungsfreiheit durch Zwang (§§ 37, 38). Im Zusammenhang mit den Wissensmängeln bei der Einwilligung widmet er sich beispielsweise der Frage nach beachtlichen und unbeachtlichen Irrtümer und beschäftigt sich insoweit etwa mit rechtsgutsbezogenen und nicht rechtsgutsbezogenen Irrtümern sowie beachtlichen und unbeachtlichen Motivirrtümern (S. 495-532). Eine eigenständige Untersuchung erfahren zudem die erschlichenen Einwilligungen eines getäuschten Opfers (§ 35).

Im Zusammenhang mit der Einschränkung der Entschließungsfreiheit durch Zwang folgen Untersuchungen zur "Einwilligung unter Druck" (§ 37), in der sich Mitsch etwa der Frage des strafrechtlichen Freiwilligkeitsbegriffs oder der der "Sachzwänge und Einwilligung" (S. 560-567) widmet. Es schließen sich Ausführungen zur "Herrschaft über die Unfreiwilligkeit" (§ 38) und hier insbesondere zur Herrschaft des Täters über die Zwangslage sowie zur Intensität des Nötigungsdrucks an.

An die im Vergleich zu den vorangegangenen, sehr umfangreichen Ausführungen eher kurz gehaltenen Zusammenfassung (§ 42) von Mitsch schließt sich ein wiederum umfangreiches Literaturverzeichnis an.

Formulierte Mitsch im Vorwort bezogen auf das Thema "Willensmängel bei der Einwilligung", dass dies jenes Thema sei, was ihm von den verschiedenen, in seiner Arbeit untersuchten Themen "am meisten am Herzen" (Vorwort) liege, so zeigte sich beim Lesen des Buches, dass sich Mitsch nicht nur jenem, sondern sämtlichen von ihm behandelten Themen mit großer Gründlichkeit, kritischem Hinterfragen von im Schrifttum vertretenen Ansichten und einer konsequenten Suche nach eigenständigen Lösungen widmete. Das Buch vermittelt daher in seiner Gesamtheit den angenehmen Eindruck eines überaus großen Interesses des Verfassers für das Thema "Rechtfertigung und Opferverhalten" und der Entschluss zur - wenn auch um Jahre verspäteten - Veröffentlichung des Buches kann nur begrüßt werden.

Dr. Daniela Demko LL.M.Eur., Oberassistentin, Universität Zürich.

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Marc Russack: Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur; C.F.Müller, 2., neu bearbeitete Auflage, 2005, 153 Seiten, 18,00 €.

Das hier vorgestellte Ausbildungswerk widmet sich der Revision, wie sie zunehmend im zweiten Staatsexamen Prüfungsgegenstand ist. Damit ist eine Aufgabenstellung betroffen, die vor allem im Zuge der verstärkten Anwaltsorientierung den strafrechtlichen Prüfungsteil mitbestimmt. Russack leistet mit seinem Buch nun Pionierarbeit, indem er die seit 1994 in Nordrhein-Westfalen gestellten 55 Examensklausuren und weitere bundesweit

kursierende Aufgabenstellungen auswertet und so die Examenswirklichkeit wiedergibt. Sein Lehrbuch informiert also über diejenigen Probleme von Zulässigkeit, Begründetheit und Antragstellung bei der Revision, die sich bereits als tatsächlich klausurrelevant erwiesen haben. Russack fügt diese Probleme in eine systematische Darstellung ein, die sich am Aufbau der dominierenden Aufgabenform (Gutachten über die Erfolgsaussichten und Vorschlag des Revisionsantrages) orientiert. Dass es sich bei dieser, wie Russack sie nennt, "empirischen Methode" in der Tat um eine bedarfsgerechte Pionierarbeit handelt, belegt schon der Umstand, dass die erst im letzten Jahr erschienene Erstauflage nach wenigen Monaten vergriffen war.

Die Lektüre der aktualisierten zweiten Auflage hinterließ bei dem Rezensenten den Eindruck, dass die Käufer und Leser der Erstauflage in der Tat ein sinnvolles und gut umgesetztes Lehrmittel gewählt haben. Russack gibt einsichtige und hilfreiche Aufbau- und Taktikhinweise. Er spricht mit seiner "empirischen Methode" zahlreiche dankbare und beliebte Problemkreise vor allem des Verfahrensrechts an, die er in der gebotenen Ausrichtung auf die höchstrichterliche Praxis darstellt. Er bezieht - prüfungsgerecht - die zugelassenen Kommentare ein und weist sogar warnend auf Darstellungen hin, die Meyer-Goßner aus seiner Sicht wenig gelungen sind (vgl. Rn. 366, 388). Schließlich - und das ist bei aller "Empirie" einzelner schon ausgewählter Probleme tatsächlich didaktisch kaum weniger wichtig - ergänzt Russack die Einzelprobleme jeweils so durch einführende und erläuternde Darstellungen, dass die Einzelprobleme in den Gesamtkontext der Revision eingeordnet werden können. Dass dabei freilich nicht nebenbei ein Lehrbuch zur Strafzumessung oder gar zum BT des StGB entstehen konnte, ist selbstverständlich. Insoweit ersetzt Russack nicht die systematische Erarbeitung des nötigen Wissens auf diesen Gebieten, sondern er erleichtert überzeugend die entscheidende Schwerpunktsetzung.

Aus Sicht des Rezensenten sind der Ansatz und das Lehrbuch noch besser bzw. erst dann voll auszuschöpfen, wenn man sich mit den Grundzügen des Revisionsrechts (und des im ersten Staatsexamen unbeachteten Strafzumessungsrechts) bereits zuvor vertraut gemacht hat. Zwar erläutert der OLG-Richter und Prüfer Russack natürlich treffend im Rahmen der einzelnen Problemdarstellungen die Zusammenhänge der Revision, wie etwa die Beschränkung auf Rechtsfehler und die oftmals eingeschränkten Prüfungsgrundlagen des Revisionsgerichts. Sie dürften sich dem Leser aber noch einfacher erschließen, wenn er sich der Revision insgesamt bereits genähert hat, bevor er die Abschnitte zu einzelnen Rechtsfehlern ausarbeitet. Vielleicht könnte Russack mit einem vorangestellten, "nichtempirischen" Einführungskapitel über das Rechtsmittel der Revision diese Aufgabe selbst übernehmen und den schon jetzt großen Wert seines Buchs so noch weiter steigern.

Zu den angesprochenen Fallproblemen stellt Russack durchgängig klar und präzise die vorherrschenden Lösungsansätze der Rechtsprechung dar. Nur an wenigen Stellen lässt sich anmerken, dass die Aufnahme jüngerer Rechtsprechung von BVerfG, EGMR und BGH zu den zuvor von Klausuren behandelten Themenkreisen hilfreich gewesen wäre (vgl. die Rn. 129 ff., 222, 242, 388, 391 f., 468 f.). Die heutigen Lösungsskizzen der Prüfungsämter dürften entsprechende Nuancierungen zu den von Russack als "heiß" ausgewiesenen Standardthemen aufnehmen. Nach dem Geschmack des Rezensenten wäre es auch ein Gewinn, noch öfter als bislang die in der Revision typisch erforderliche Anwaltsperspektive zu beleuchten: Es wird nach einer entsprechenden Aufklärung über die ständige Rechtsprechung regelmäßig im Interesse des verurteilten Mandanten liegen, nachteilige Rechtsprechungsauffassungen bei starken Gegenargumenten doch anzugreifen oder Widersprüche der Rechtsprechung vorzutragen. Dass der Erfolg nicht am Maßstab vorheriger Rechtsprechung sicher ist, schließt die Erhebung und Begründung einer Revision hier nicht notwendig aus.

Nach alledem stellt die Publikation Russacks eine echte Bereicherung für die Vorbereitung auf die revisionsrechtliche Assessorklausur dar. Zwar darf man nicht vergessen, dass neue Klausuren neue Schwerpunkte setzen können. So wirft etwa die jüngere Rechtsprechung zur Absprachenproblematik einschließlich derjenigen des wirksamen Rechtsmittelverzichts voraussehbare Klausurprobleme auf. Der Wissensstand dieses Lehrbuchs trägt jedoch ganz maßgeblich dazu bei, dass Referendare die strafrechtliche Revisionsklausur - gerade auch im Vergleich zu staatsanwaltlichen Rennfahrerklausuren - mit einiger Zuversicht angehen können.

Karsten Gaede , Hamburg .

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