HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe Mai publiziert unter anderem den Beitrag "Plea bargaining im Krieg gegen den Terror" unseres neuen ständigen Mitarbeiters Dr. Frank Meyer, LL.M. (Yale), Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. Der Aufsatz demonstriert, wie sich der besagte "Krieg" auf das amerikanische Strafverfahren praktisch auswirkt.

Zu den publizierten Entscheidungen zählt ein Urteil des EGMR, in dem er eine doppelte Kompensation bei der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen einfordert. Zu den lesenswerten Entscheidungen des BGH gehören in dieser Ausgabe etwa der "Salzpuddingfall" und Entscheidungen, welche die restriktive Tendenz zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung fortsetzen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

430. EGMR Nr. 65745/01 - Urteil der 3. Kammer vom 10. November 2005 (Dzelili gegen Deutschland)

Beschleunigungsgrundsatz im Haftverfahren (doppelte Strafmilderung bei Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung nach überlanger Untersuchungshaft; Detailprüfung; Terminierung; ausreichende Bestellung von Ersatzrichtern; Kompensation; Fall Cevizovic); Konventionsbeschwerde; Zulässigkeit der Individualbeschwerde (Verlust der Opferstellung; Subsidiarität der EMRK); redaktioneller Hinweis.

Art. 5 Abs. 1, Abs. 3 EMRK; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 34 EMRK: Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG: Art. 20 Abs. 3 GG

1. Eine Strafmilderung nach den zu Art. 6 I 1 EMRK entwickelten Grundsätzen - vgl. näher Leitsätze 4 und 5 - kann prinzipiell auch einen angemessenen Ausgleich für eine Verletzung des Art. 5 III EMRK darstellen, wenn die nationalen Stellen das Recht auf Verfahrensbeschleunigung gegenüber einem Beschwerdeführer verletzt haben, der in Untersuchungshaft genommen wurde. Dies setzt jedoch voraus, dass die Strafmilderung ausdrücklich nicht nur mit der Verletzung des Art. 6 I 1 EMRK begründet wird. Es genügt auch nicht, dass in einer anderen staatlichen Entscheidung der Verstoß gegen Art. 5 III EMRK bereits anerkannt worden ist und dass in der nach Art. 6 I 1 EMRK mildernden Entscheidung die langandauernde Untersuchungshaft erwähnt wird. Vielmehr muss ein messbarer Ausgleich auch für die anerkannte Verletzung des Art. 5 III EMRK ausgewiesen werden.

2. Eine in Untersuchungshaft befindliche Person hat Anspruch darauf, dass ihrem Fall Priorität zugestanden wird und dass ihr Verfahren mit besonderer Beschleunigung fortgeführt wird. Dieses Bemühen darf jedoch weder verhindern, dass die Gerichte die fraglichen Fakten voll aufklären, noch der Verteidigung und der Anklage Möglichkeiten nehmen, ihre Beweise vorzutragen.

3. Zur Wahrung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen muss das Bemühen des Gerichts erkennbar sein, Zeugen und Sachverständige auf eine effiziente Art zu laden und einen straffen Verhandlungsplan festzulegen (vgl. hierzu schon EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 - Individualbeschwerde Nr. 49746/99

[Rechtssache Cevizovic/Deutschland] -, StV 2005, 136, 138). Die Verantwortung für eine ungenügende Bestellung von Ersatzrichtern fällt in die Sphäre der nationalen Gerichte und damit der Vertragsstaaten.

4. Eine Strafmilderung wegen der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung nimmt dem Betroffenen grundsätzlich nicht den Status eines Opfers im Sinne des Art. 34 EMRK. Eine Ausnahme hiervon ist zu machen, wenn die nationalen Stellen entweder ausdrücklich oder in der Sache die Rechtsverletzung anerkennen und daraufhin einen Ausgleich des Konventionsbruches vornehmen. Bezüglich des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung nach Art. 6 I 1 EMRK können die nationalen Stellen einen solchen Ausgleich vor allem durch eine ausdrückliche und messbare Strafmilderung durchführen.

5. Für die Frage, ob eine spezifische Strafmilderung die Verletzung des Art. 6 I 1 EMRK wieder gut gemacht hat, kommt es namentlich auf das Ausmaß der Verletzung an, welches die nationalen Stellen adäquat einzubeziehen haben.


Entscheidung

358. BVerfG 2 BvQ 22/06 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 12. April 2006 (Justizvollzugsanstalt Rheinbach)

Einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Erforderlichkeit; Maßstab); Missbrauchsgebühr (Vielzahl von Anträgen ohne Rechtswegerschöpfung).

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 34 Abs. 2 BVerfGG

Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 93, 181, 186). Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass einstweilige Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts weittragende Folgen haben können (vgl. BVerfGE 3, 41, 44; stRspr), sondern auch im Hinblick auf die besondere Funktion und Organisation des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht ist nach den ihm durch Verfassung und Gesetz zugewiesenen Aufgaben und nach seiner gesamten Organisation weder dazu berufen noch in der Lage, vorläufigen Rechtsschutz unter ähnlichen Voraussetzungen zu gewährleisten wie die Fachgerichtsbarkeit.


Entscheidung

360. BVerfG 2 BvR 699/06 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. April 2006 (OLG Stuttgart/LG Heilbronn)

Einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Subsidiarität; Untätigkeitsbeschwerde; fehlende Bescheidung von Eilanträgen; Antrag auf Aussetzung einer Maßnahme im Strafvollzug im Rechtsbeschwerdeverfahren); Nichtannahmebeschluss.

§ 32 BVerfGG; § 114 StVollzG

Ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts ist in der Regel nicht im Sinne von § 32 BVerfGG dringend geboten, wenn vorläufiger Rechtsschutz auch durch Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann (vgl. BVerfGE 37, 150, 151). Dies gilt auch für den Fall, dass im Rechtsbeschwerdeverfahren gegen eine Maßnahme im Strafvollzug eine Aussetzung dieser Maßnahme nach § 114 Abs. 2 StVollzG beantragt werden kann.


Entscheidung

359. BVerfG 2 BvR 619/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 6. April 2006 (OLG Frankfurt am Main)

Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Frist; Beginn nur ausnahmsweise bei Entscheidung über Gegenvorstellung; Vorlage der Gegenvorstellung); Freiheit der Person (Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung; Beschleunigungsgebot; Verletzung nur bei sachwidriger und unangemessener Verzögerung; Kriterien); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 57 StGB; § 93 Abs. 1 BVerfGG

1. Im Gegensatz zu einem Antrag nach § 33 a StPO gehört der formlose Rechtsbehelf der Gegenvorstellung grundsätzlich nicht zum Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Die Gegenvorstellung ist nur dann ausnahmsweise fristwahrend, wenn mit ihr die Verletzung von Prozessgrundrechten durch das letzterkennende Gericht gerügt wird.

2. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip einen Anspruch auf angemessene Beschleunigung des mit einer Freiheitsentziehung verbundenen Verfahrens. Im Verfahren über die Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots allerdings nur dann in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei insbesondere der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Strafrestaussetzung zur Bewährung, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten angemessen zu bewerten sind.