hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 385

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 20/06, Beschluss v. 23.03.2006, HRRS 2006 Nr. 385


BGH 1 StR 20/06 - Beschluss vom 23. März 2006 (LG Coburg)

Besetzung des Gerichts; Öffentlichkeitsgrundsatz bei der Auslosung der Reihenfolge der Schöffen (ungehinderter Zugang bei einer Auslosungssitzung in einem von außen nicht zu öffnenden Dienstzimmer; später Aushang ohne Angabe der Auslosungszeit; Anforderungen an den interessierten Bürger).

§ 338 Nr. 1 StPO; § 169 GVG; § 77 Abs. 1 GVG; § 45 Abs. 2 Satz 1 GVG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Auslosung der Reihenfolge der Hauptschöffen nach § 77 Abs. 1 GVG i. V. m. § 45 Abs. 2 Satz 1 GVG gelten dieselben Bedingungen wie für die Verfahrensöffentlichkeit vor dem erkennenden Gericht nach § 169 GVG (BGH NStZ 1984, 89). Der Grundsatz der Öffentlichkeit besagt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuhörer teilzunehmen (BGHSt 27, 13, 14, st. Rspr.).

2. Zur Vermeidung von Verfahrensbeschwerden ist es diesbezüglich angezeigt, generell die Schöffenauslosung ebenso wie eine Hauptverhandlung in Strafsachen anzukündigen und regelmäßig in einem Sitzungssaal durchzuführen. Es ist aber nicht zu beanstanden, gewisse Anforderungen an den interessierten Bürger, der sich den Zugang zu einer öffentlichen Verhandlung in einem Gericht verschaffen will, zu stellen. Die Möglichkeit, ohne besondere Schwierigkeiten an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung teilzunehmen, bedeutet nicht, dass dem Bürger, der heute bei vielen Gerichten aus Sicherheitsgründen durch Bedienstete kontrolliert wird, nicht zuzumuten wäre, ein Richterzimmer oder einen Verhandlungssaal entweder über ein Vorzimmer zu betreten oder den Einlass durch Klopfen zu erlangen.

3. Die Öffentlichkeit in einem Verhandlungssaal ist auch dann als gewahrt anzusehen ist, wenn zwar die unmittelbare Tür verschlossen ist, potentielle Zuhörer aber durch die geöffnete Saaltür den Zuhörerraum betreten können. Die Voraussetzungen für eine "öffentliche" Verhandlung liegen auch dann vor, wenn die Eingangstür des Gerichtsgebäudes verschlossen ist, der Zuhörer sich aber mit Hilfe einer Klingel Einlass verschaffen kann (BVerwG NVwZ 2000, 1298).

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Coburg vom 27. Juli 2005 werden verworfen.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten, beide sind Apotheker, wegen Betruges zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts rechneten sie in einer Vielzahl von Fällen von dem mitangeklagten Arzt Dr. S. ausgestellte Rezepte über hochpreisige Fertigarzneimittel ab, um den Kostenträger, die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Bayern, zur Auszahlung des Arzneimittelpreises zu veranlassen. Tatsächlich wurden die Arzneimittel nicht an bei der AOK versicherte Patienten abgegeben, wovon die Angeklagten Kenntnis hatten. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützten Revisionen haben keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).

Näherer Erörterung bedarf allein die von beiden Angeklagten erhobene Verfahrensrüge wegen Verletzung von § 338 Nr. 1 StPO, die Strafkammer sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil die Auslosung der Reihenfolge der Schöffen entgegen §§ 77 Abs. 1, 45 Abs. 2 Satz 1 GVG nicht in öffentlicher Sitzung stattgefunden habe.

1. Der Rüge liegt Folgendes zugrunde:

a) Am 26. Oktober 2004 fand im Dienstzimmer des Präsidenten des Landgerichts die Auslosung der Reihenfolge der Hauptschöffen für die Strafkammern für das Jahr 2005 statt. Laut Protokoll über die Auslosung und einer dienstlichen Stellungnahme des Präsidenten des Landgerichts vom 6. Juni 2005 geschah dies in öffentlicher Sitzung. Durch einen Aushang am Türschild des Dienstzimmers sei auf die Sitzung und ihre Öffentlichkeit hingewiesen worden. Jedermann habe Gelegenheit gehabt, an der Sitzung teilzunehmen. Aus der dienstlichen Stellungnahme der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 6. Juni 2005 ergibt sich, dass der Aushang an der Außenseite der Zimmertür des Präsidenten befestigt worden war.

Der Präsident des Landgerichts erklärte in einer weiteren dienstlichen Stellungnahme vom 6. Juni 2005, die Öffentlichkeit habe zu dem Gebäudeteil, in dem sich sein Dienstzimmer befinde, uneingeschränkten freien Zugang. Dort befänden sich zahlreiche Dienstzimmer von Richtern, Staatsanwälten, Rechtspflegern und Geschäftsstellen und die Landgerichtsbibliothek. In den hier gelegenen Dienstzimmern fänden immer wieder öffentliche Sitzungen in Zivilverfahren statt. Auch in seinem Dienstzimmer seien bereits Sitzungen der Berufungszivilkammer abgehalten worden. An seinem Türschild befinde sich ein Hinweis auf das daneben liegende Vorzimmer, das ständig, auch am 26. Oktober 2004, besetzt sei. Durch das Vorzimmer könne jedermann sein Dienstzimmer betreten. Wenn an seiner Zimmertüre geklopft werde, öffne er diese stets selbst.

b) Die Revision trägt vor, auf dem Aushang sei nicht angegeben, zu welcher Uhrzeit die Auslosung erfolgen solle; aus der dienstlichen Stellungnahme der Urkundsbeamtin ergebe sich, dass der Aushang erst unmittelbar vor Beginn der Auslosung an der Zimmertür angebracht worden sei. Die Tür zum Dienstzimmer des Präsidenten verfüge nicht über eine Türklinke, sondern über einen Knauf; sie sei von außen nur mit einem Schlüssel zu öffnen. Neben der Tür sei ein Blechschild mit der Aufschrift "Anmeldung in Zimmer 213" angebracht, die, ebenso wie der Aushang, vom Treppenaufgang nicht zu lesen sei.

Die Revision ist der Auffassung, "aufgrund der mit einem Knauf versehenen, verschlossenen Dienstzimmertür des Präsidenten des Landgerichts ist die Öffentlichkeit verletzt. Die Öffentlichkeit ist nur dann gewahrt, wenn diese jederzeit ungehinderten Zugang zu dem Sitzungssaal habe, ohne hierbei irgendwelche Barrieren wie z.B. eine Anmeldung oder Ähnliches überwinden zu müssen."

2. Die Verfahrensrügen sind erfolglos.

a) Der Senat kann offen lassen, ob die Verfahrensrügen den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügen. Es bestehen Zweifel, ob der Revisionsvortrag beider Angeklagter zur form- und fristgemäßen Geltendmachung des Besetzungseinwands nach § 222b StPO vollständig ist. Weder wird der Ablauf der am 31. Mai 2005 begonnenen, am 1. Juni 2005 ausgesetzten und am 6. Juni 2006 neu begonnenen Hauptverhandlung vollständig mitgeteilt, noch ist dargelegt, ob der Besetzungseinwand schon in der ersten Hauptverhandlung hätte erhoben werden können und worauf die Entscheidung über die Aussetzung beruhte.

b) Die Verfahrensrügen sind jedenfalls unbegründet, weil nach dem Revisionsvorbringen den Anforderungen an die Herstellung der Öffentlichkeit bei der Schöffenauslosung genügt worden ist.

Für die Auslosung der Reihenfolge der Hauptschöffen nach § 77 Abs. 1 GVG i. V. m. § 45 Abs. 2 Satz 1 GVG gelten dieselben Bedingungen wie für die Verfahrensöffentlichkeit vor dem erkennenden Gericht nach § 169 GVG (BGH NStZ 1984, 89). Der Grundsatz der Öffentlichkeit besagt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuhörer teilzunehmen (BGHSt 27, 13, 14, st. Rspr.).

Unbeschadet der Tatsache, dass es zur Vermeidung von Verfahrensbeschwerden wie diesen angezeigt ist, generell die Schöffenauslosung ebenso wie eine Hauptverhandlung in Strafsachen anzukündigen und - regelmäßig in einem Sitzungssaal - durchzuführen, ist es von Rechts wegen nicht zu beanstanden, gewisse Anforderungen an den interessierten Bürger, der sich den Zugang zu einer öffentlichen Verhandlung in einem Gericht verschaffen will, zu stellen. Die Möglichkeit, ohne besondere Schwierigkeiten an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung teilzunehmen, bedeutet nicht, dass dem Bürger, der heute bei vielen Gerichten aus Sicherheitsgründen durch Bedienstete kontrolliert wird, nicht zuzumuten wäre, ein Richterzimmer oder einen Verhandlungssaal entweder über ein Vorzimmer zu betreten oder den Einlass durch Klopfen zu erlangen.

Dem entspricht es, dass die Öffentlichkeit in einem Verhandlungssaal auch dann als gewahrt anzusehen ist, wenn zwar die unmittelbare Tür verschlossen ist, potentielle Zuhörer aber durch die geöffnete Saaltür den Zuhörerraum betreten können (Senatsurteil vom 14. Juli 1970 - 1 StR 102/70; Kissel/ Mayer, GVG 4. Aufl. § 169 Rdn. 22). Die Voraussetzungen für eine "öffentliche" Verhandlung liegen auch dann vor, wenn die Eingangstür des Gerichtsgebäudes - etwa aus Sicherheitsgründen - verschlossen ist, der Zuhörer sich aber mit Hilfe einer Klingel Einlass verschaffen kann (BVerwG NVwZ 2000, 1298).

So liegt der Fall auch hier. Nach den dienstlichen Stellungnahmen des Präsidenten des Landgerichts, die für das Revisionsgericht hinsichtlich der Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse grundsätzlich maßgeblich sind (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Januar 2006 - 1 StR 527/05), liegt sein Dienstzimmer in einem für den Besucherverkehr frei zugänglichen Teil des Landgerichts. Zwar ist sein Dienstzimmer, in dem bisher nicht nur Schöffenwahlen, sondern auch andere Sitzungen stattfinden, mit einem (nicht drehbaren) Knauf und nicht mit einer Klinke gegen einen gänzlich ungehinderten Eintritt gesichert. Es bereitet dem interessierten Zuhörer keine besonderen Schwierigkeiten, entsprechend dem hier angebrachten Hinweisschild das Präsidentenzimmer durch das regelmäßig besetzte Vorzimmer zu betreten oder durch Klopfen an der Tür Einlass zu erlangen (vgl. in ähnlichem Sinne schon Senat NStZ 1985, 514).

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 385

Externe Fundstellen: NStZ 2006, 512

Bearbeiter: Karsten Gaede