HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

August 2005
6. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

551. BGH 2 StR 21/05 - Beschluss vom 7. Juni 2005 (LG Wiesbaden)

BGHSt; Kammerbesetzung (ordentlicher Sitzungstag; außerordentlicher Sitzungstag; freier Sitzungstag; Hilfsschöffen); gesetzlicher Richter (willkürliche, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbare Entziehung).

§ 338 Nr. 1 StPO; § 45 GVG; § 47 GVG; § 77 Abs. 1 GVG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Wird eine Strafsache auf einen Tag zwischen zwei ordentlichen Sitzungstagen terminiert, die zu diesem

Zeitpunkt bereits mit Fortsetzungsverhandlungen in anderen Sachen belegt waren, so handelt es sich nicht um eine ordentliche Sitzung, bei der der Sitzungstag lediglich nach vorn oder nach hinten verlegt worden ist, sondern um eine außerordentliche Sitzung, für die Hilfsschöffen heranzuziehen sind. (BGHSt)

2. Da bei einer außerordentlichen Sitzung nicht mit den für bestimmte Sitzungstage ausgelosten Schöffen, sondern mit Hilfsschöffen zu verhandeln ist, berührt die im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden stehende Terminierung einer außerordentlichen Sitzung den gesetzlichen Richter. (Bearbeiter)

3. Eine außerordentliche Sitzung liegt nicht bereits dann vor, wenn die Hauptverhandlung nicht an einem ordentlichen Sitzungstag stattfindet, denn ein ordentlicher Sitzungstag kann verlegt werden. Eine bloße Verlegung des Sitzungstags ist anzunehmen, wenn zum Zeitpunkt der Terminierung ein unmittelbar vorangehender oder unmittelbar zeitlich nachfolgender freier ordentlicher Sitzungstag zur Verfügung steht, der ordentliche Sitzungstag also ungenutzt bleibt (BGHSt 41, 175, 177). Ein freier ordentlicher Sitzungstag liegt auch dann vor, wenn ein solcher bewusst deshalb nicht genutzt wird, weil er in der noch nicht näher konkretisierten Erwartung einer anzuberaumenden eiligen Strafsache freigehalten werden soll. (BGHSt 37, 324, 327, 328). (Bearbeiter)


Entscheidung

600. BGH 1 StR 338/04 - Urteil vom 14. Juni 2005 (LG Augsburg)

Zeugnisverweigerungsrecht und Konfrontationsrecht (Verwertungsverbot; Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter; initiierte schriftliche Stellungnahme; Abgrenzung von einer Spontanäußerung bzw. der Aussage aus freien Stücken; zeitlicher Zusammenhang).

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 252 StPO

Vom Verwertungsverbot des § 252 StPO wird auch eine frühere schriftliche Stellungnahme des Zeugen erfasst, soweit diese mit Bezug auf eine frühere Vernehmung eingereicht wird, in der diese initiiert worden ist und ein Zusammenhang zur Vernehmung nicht durch den Zeitablauf zwischen der Vernehmung und dem Eingang der schriftlichen Stellungnahme in Frage gestellt ist.


Entscheidung

556. BGH 2 StE 9/03-3 StB 6/04 - Beschluss vom 18. Januar 2005 (OLG Düsseldorf)

Postverkehr mit Untersuchungshäftling (Anhalten von Sendungen; Mitteilung an den Absender); Verweigerung der Akteneinsicht (Rechtsmittel des Absenders).

Art. 8 EMRK; Art. 13 EMRK; § 147 Abs. 7 StPO; § 475 StPO; Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 10 GG

1. Ein Dritter, der wegen der Begründung für vermutetes Anhalten von ihm abgesandter Sendungen an einen Untersuchungsgefangenen gem. § 147 Abs. 7 StPO Akteneinsicht begehrt, ist gegen die Ablehnung dieses Antrags beschwerdebefugt. Zwar ist er in dem Strafverfahren nicht Verfahrensbeteiligter. Er ist jedoch eine andere Person im Sinne des § 304 Abs. 2 StPO, die durch die angefochtene Verfügung betroffen wird. Denn die Weigerung, ihm die Gründe für das Anhalten der Schriftstücke mitzuteilen, berührt unmittelbar sein Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit aus Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (vgl. BVerfG, Beschl. vom 15. Dezember 2004 - 2 BvR 2219/01).

2. Die Beschwerde gegen die Verweigerung der Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 7 StPO ist jedoch nicht statthaft. Denn das Auskunftsbegehren fällt nicht unter § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO Nr. 4 (Beschlüsse und Verfügungen, welche die Akteneinsicht betreffen), die allein in Betracht kommt. Eine Beschwerde wegen einer verweigerten Auskunft aus den Akten ist nur für die unmittelbar an dem betreffenden Strafverfahren Beteiligten statthaft. Die Aufnahme von Entscheidungen über die Gewährung von Akteneinsicht in den Katalog des § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO rechtfertigt sich aus der besonderen Bedeutung, welche die Akteneinsicht für die Verfahrensbeteiligten im Gegensatz zu Dritten hat.


Entscheidung

553. BGH 2 StR 4/05 - Beschluss vom 22. Juni 2005 (LG Köln)

Konfrontationsrecht (Begriff des Zeugen; Gesamtwürdigung der Fairness des Verfahrens; Kompensation; besonders vorsichtige Beweiswürdigung).

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK

1. Zeuge im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK kann auch ein Mitbeschuldigter sein, der in einem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren als Beschuldigter ausgesagt hat.

2. Die Möglichkeit der Befragung eines mittelbaren Zeugen, etwa einer Verhörsperson, reicht zur Wahrung des Konfrontationsrechts gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht aus.

3. Ist eine Konfrontation nicht erfolgt, führt dies nicht in jedem Fall zu einer Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK, sofern die Verteidigungsrechte insgesamt angemessen gewahrt wurden und das Verfahren in seiner Gesamtheit fair war.

4. Die fehlende Konfrontationsmöglichkeit muss durch eine besonders sorgfältige und kritische tatrichterliche Beweiswürdigung kompensiert werden. Daher kann eine Feststellung regelmäßig nur dann auf die Angaben des Zeugen, der von dem Angeklagten nicht befragt werden konnte, gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.


Entscheidung

627. BGH 5 StR 440/04 (alt: 5 StR 448/02) - Urteil vom 16. Juni 2005 (LG Potsdam)

Subventionsbetrug; unzulässige Beschränkung der Verteidigung (Ladung: Verzicht durch schlüssiges Verhalten; Präklusion und Verwirkung; Aussetzungsantrag; Rechtsmissbrauch; faires Verfahren).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK; § 264 StGB; § 218 Satz 1 StPO; § 217 StPO; § 338 Nr. 8 StPO

Zu einem Einzelfall der Verwirkung eines Aussetzungsrechts.


Entscheidung

569. BGH 3 StR 122/05 - Urteil vom 30. Juni 2005 (LG Mönchengladbach)

Tat im prozessualen Sinn (Individualisierung; sexueller Missbrauch); Akkusationsprinzip (Identität zwischen angeklagter und abgeurteilter Tat); Anwendung des § 354a Abs. 1 a Satz 2 StPO analog nach rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. a EMRK; § 200 StPO; § 264 StPO; § 354 Abs. 1 a Satz 2 StPO

1. In Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs stellen auch eine um mehr als ein Jahr differierende Tatzeit sowie gewisse Modifikationen im Tatablauf die Identität zwischen angeklagter und abgeurteilter Tat nicht in Frage, wenn hinreichend individualisierende Merkmale des Tathergangs - etwa der Tatort und der Kern des Geschehens - unverändert geblieben sind, die keinen Zweifel aufkommen lassen, dass das abgeurteilte Geschehen vom Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasst war.

2. Ebenso wie in Fällen des sexuellen Missbrauchs an die Individualisierung der Einzeltaten in der Anklageschrift einerseits und den Urteilsgründen andererseits keine zu strengen Anforderungen zu stellen sind, da ansonsten wegen der begrenzten Erinnerungsfähigkeit des regelmäßig einzigen Tatzeugen nicht mehr vertretbare Strafbarkeitslücken entstünden (vgl. BGHSt 40, 44, 46), dürfen auch Modifikationen und Ergänzungen, die das Tatbild im Vergleich von Urteil zu Anklage erfährt, keiner zu strengen Betrachtung unterworfen werden.


Entscheidung

629. BGH 5 StR 464/04 - Urteil vom 16. Juni 2005 (LG Berlin)

Vergewaltigung; Sicherungsverwahrung (Beurteilung des Hangs abweichend vom Sachverständigen; Beleg der eigenen Sachkunde des Gerichts).

§ 177 Abs. 2 StGB; § 66 StGB; § 246a StPO; § 72 StPO

1. Der Tatrichter ist zwar nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen; denn dieses kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Will der Tatrichter eine Frage, zu der er einen Sachverständigen gehört hat, im Widerspruch zu dessen Gutachten lösen, muss er sich jedoch in einer Weise mit den Darlegungen des Sachverständigen auseinandersetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5; BGH NStZ 2000, 437).

2. Der Tatrichter muss die Darlegungen des Sachverständigen im einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1, 5). Das gilt namentlich, wenn es um die Beurteilung der Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geht (vgl. hierzu auch BGH NStZ 2005, 159). Dabei ist erforderlich, dass der Tatrichter, der sich auf eigene Sachkunde stützen will, im einzelnen belegt, welche Prognoseverfahren der Sachverständige herangezogen hat, welchen Aussagewert sie haben und welche Vorgehensweise bei ihnen zu beachten ist.


Entscheidung

628. BGH 5 StR 440/04 (alt: 5 StR 448/02) - Beschluss vom 16. Juni 2005 (LG Potsdam)

Gesetzlicher Richter (Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO auf Befangenheitsanträge mit sachlichem Gehalt das Revisionsgericht; Zugrundelegung des anwaltlich versicherten Vortrag der Revisionsentscheidung).

§ 338 Nr. 3 StPO; § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO

Der Senat weist erneut darauf hin, dass eine Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO auf Befangenheitsanträge mit sachlichem Gehalt das Revisionsgericht wegen der - infolge fehlender dienstlicher Erklärungen - eingeschränkten Tatsachengrundlage dazu nötigen kann, den im Befangenheitsgesuch anwaltlich als richtig versicherten Vortrag der Revisionsentscheidung zugrunde zu legen (vgl. BGH StV 2005, 72, 73 m.w.N.). Zudem kann in solchen Fällen die Gefahr bestehen, dass ein Angeklagter seinem gesetzlichen Richter entzogen wird (vgl. BVerfG [Kammer] StraFo 2005, 109).