HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Januar-Ausgabe nehmen wir die Ihnen bereits angekündigte Rubrik Prozessdokumentation auf. Die Ausgabe enthält auch erstmals eine OLG-Entscheidung (BayObLG), die sich - ergänzt um einen Besprechungsaufsatz von Prof. Dr. Hans Kudlich - mit der Frage des Missbrauchs des Beweisantragsrechts befasst.

Eine erhebliche Anzahl von Entscheidungen, die für BGHSt oder BGHR vorgesehen sind oder allgemein bedeutsam erscheinen, regen dazu an, Sie ohne Hervorhebung einzelner wichtiger Entscheidungen zur Einsichtnahme in die gesamte Ausgabe einzuladen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

1. EGMR Nr. 39647/98 u. 40461/98 - Urteil der Großen Kammer vom 27. Oktober 2004 (Edwards und Lewis v. Großbritannien No. 2)

Recht auf ein faires Verfahren (Offenlegungsanspruch: Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen, prozedurale Schutzinstrumente; Akteneinsichtsrecht; Tatprovokation; entrapment; Waffengleichheit; kontradiktorisches Verfahren; rechtliches Gehör; Beweisrecht; Gesamtbetrachtung; verdeckte Ermittler; V-Leute; fair trial; Jasper; Fitt; Tatfrage: Jury, Tatgericht; special counsel); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 147 StPO; § 96 StPO

1. Das öffentliche Interesse an einer effektiven Verbrechensbekämpfung kann die Verwertung von Beweisen, die durch eine polizeiliche Tatprovokation (entrapment) gewonnen worden sind, nicht rechtfertigen. Sie stellt einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK dar.

2. Es ist nicht die Aufgabe des EGMR, das Vorliegen einer Tatprovokation (entrapment) festzustellen. Wenn aber diesbezüglich möglicherweise relevante Informationen von den Strafverfolgungsorganen zurückgehalten werden, prüft der EGMR, ob der Einwand einer Tatprovokation (entrapment) noch wirksam in einem Verfahren erhoben werden konnte, welches die Verteidigungsrechte adäquat wahrt.

3. Das Recht auf ein faires Verfahren erfordert ein kontradiktorisch ausgestaltetes Verfahren, in dem zwischen Verteidigung und Anklage Waffengleichheit besteht. Dies bedeutet, dass sowohl der Anklage als auch der Verteidigung die Gelegenheit gegeben werden muss, von den Verfahrensbeiträgen der Gegenseite Kenntnis zu erhalten und diese zu kommentieren. Zusätzlich erfordert Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, dass die Strafverfolgungsorgane der Verteidigung alle in ihrem Besitz befindlichen und hinsichtlich der Anklage bedeutenden Beweismaterialien offen legen. Letzteres Recht kann zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsinteressen eingeschränkt werden, soweit die Benachteiligung der Verteidigung adäquat durch das Verfahren ausgeglichen wird und die Einschränkungen strikt verhältnismäßig bleiben.

4. Das danach bei einer Zurückhaltung erforderliche Ausgleichsverfahren kann dann nicht durch einen - im Gegensatz zur Verteidigung - im Besitz des möglicherweise belastenden Materials befindlichen und nicht selbst über die eigentliche Tatfrage entscheidenden Verfahrensrichter bei einer Möglichkeit zur Stellungnahme der Verteidigung erfolgen (so aber mit 9 zu 8 Stimmen noch die Jasper und Fitt Rechtsprechung), wenn der Verfahrensrichter selbst über eine vom

streitigen Beweismaterial betroffene Frage zu entscheiden hat, die - wie bei der möglicherweise zu einer Verfahrenseinstellung führenden Tatprovokation - für die Tatfrage selbst wesentliche Bedeutung hat.

5. Die Große Kammer des EGMR sieht keinen Grund, von der auf eine Verletzung des Art. 6 EMRK erkennenden Kammerentscheidung in Sachen Edwards und Lewis gegen Großbritannien vom 22. Juli 2004 abzuweichen.


Entscheidung

8. BVerfG 2 BvR 2314/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Dezember 2004 (LG Mainz/AG Worms)

Unschuldsvermutung; Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung (Erforderlichkeit einer Verurteilung, Ausreichen eines glaubwürdigen Geständnisses; konventionskonforme Auslegung).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB

1. Es spricht vieles dafür, dass mit Blick auf die Unschuldsvermutung von Verfassungs wegen der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB wegen einer neuen Straftat regelmäßig voraussetzt, dass der Täter wegen dieser neuen Straftat verurteilt worden ist.

2. Der Widerruf der Strafaussetzung wegen einer neuen Tat des Betroffenen ist jedenfalls aber auch ohne deren Aburteilung zulässig und widerstreitet insoweit nicht der Unschuldsvermutung, wenn der Betroffene die neue Straftat glaubhaft gestanden hat.


Entscheidung

6. BVerfG 2 BvR 2219/01 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. Dezember 2004 (OLG Nürnberg/LG Regensburg/Abteilungsleiter der JVA Straubing)

Schutzbereich von Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit (Meinungen; Tatsachenbehauptungen; Recht auf Teilnahme am Kommunikationsprozess; Übersendung der Broschüre "Positiv in Haft" an einen Strafgefangenen; Gebot der Deutung im Licht der Meinungsfreiheit; Wechselwirkungslehre); Beschwerdebefugnis (Entbehrlichkeit der Nennung im Impressum); Anhalten einer Sendung im Strafvollzug; vollzugsablehnendes Verhalten (Gefahr der missbräuchlichen Handhabung des Beschwerderechts; juristisch zutreffende Ratschläge); Verhältnismäßigkeit (mildestes Mittel; Schwärzen und Entfernen beanstandeter Passagen).

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG; § 82 StVollzG.

1. Der kommunikationsgrundrechtliche Schutz desjenigen, der staatlicherseits daran gehindert wird, einem anderen zu dessen Information und Meinungsbildung einen gedruckten Text zu übersenden, hängt nicht davon ab, dass es sich bei diesem Text um einen vom Übersender verfassten, herausgegebenen oder auf andere Weise mitverantworteten handelt. Art. 5 Abs. 1 GG schützt subjektivrechtlich wie objektivrechtlich die Freiheit der Äußerung und Verbreitung von Meinungen auf der einen, die Informationsfreiheit auf der anderen Seite als einander ergänzende Elemente eines Kommunikationsprozesses; geschützt ist objektivrechtlich der Prozess der Kommunikation, subjektivrechtlich die Freiheit, daran teilzunehmen.

2. Die allgemeinen Gesetze sind so auszulegen und anzuwenden, dass die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und konstitutive Voraussetzung des freiheitlichen demokratischen Staates zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7, 198, 208 f.; 93, 266, 290; stRspr).

3. Wird ein Strafgefangener in sachlicher, vollständiger und juristisch zumindest vertretbarer Weise in einer Broschüre über seine Rechte informiert, so begründet dies ebenso wenig wie der Besitz juristischer Fachzeitschriften oder Kommentare eine Gefahr im Sinne des § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG, selbst wenn sich die rechtliche Information zu Aspekten des Vollzugs kritisch verhält.


Entscheidung

4. BVerfG 2 BvR 1249/04 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Dezember 2004 (BGH/LG Frankfurt/Main)

Darlegungsanforderungen bei einer Verfassungsbeschwerde (Geltendmachung einer verfassungsrechtlich zwingenden Rechtsfolge in Abweichung zu einer fachgerichtlich gewählten); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Folterverbot (Verfahrenshindernis; Beweisverwertungsverbot; Beweiserhebungsverbot; "Fall Gäfgen").

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 3 EMRK; § 136a StPO; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG

1. Die Anwendung von Folter macht die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs und zerstört grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen.

2. Grundrechtsverletzungen außerhalb der strafverfahrensrechtlichen Hauptverhandlung, führen nicht zwingend dazu, dass auch das auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung beruhende Strafurteil gegen Verfassungsrecht verstößt.

3. Strebt ein Beschwerdeführer hinsichtlich aus der Verfassung abgeleiteter strafprozessualer Verwertungsverbote eine andere Rechtsfolge als die Fachgerichte an, so muss er darlegen, dass die von ihm geltend gemachte Folge verfassungsrechtlich zwingend sei. In derartigen Konstellationen hat er deshalb unter Berücksichtigung der Rechtsansicht der angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen die Frage zu behandeln, welche Folgerungen sich aus dem Verfahrensverstoß im Ermittlungsverfahren für die Verwertbarkeit der dabei gewonnenen Erkenntnisse in der Hauptverhandlung und im Urteil ergeben.


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 1034/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. November 2004 (OLG München/LG München I)

Durchsuchung (Verhältnismäßigkeit; mildestes Mittel; gerichtliche Aufklärungspflicht); Durchsuchungsbeschlusses (Begrenzungsfunktion; inhaltliche Anforderungen; Einzelfall des Ausreichens einer pauschalen Nennung des Tatvorwurfes); Schweigerecht des Angeklagten (nemo tenetur se ipsum accusare; Teilschweigen; Verwertung; freie richterliche Beweiswürdigung;); Beschwerdebefugnis (Betroffenheit in eigenen Rechten).

Art. 13 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 102 StPO; § 103 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO

1. Ein Durchsuchungsbeschluss in dem als Tatvorwurf lediglich der pauschale und zeitlich nicht eingeschränkte Verdacht der Steuerhinterziehung genannt wird genügt jedenfalls dann seiner verfassungsrechtlich gebotenen Begrenzungsfunktion, wenn er im Rahmen einer Hauptverhandlung in Anwesenheit sämtlicher, an der Maßnahme Beteiligter angeordnet wurde und zum Auffinden von Beweismitteln im Zusammenhang mit dem der Hauptverhandlung zugrunde liegenden Tatvorwurf dient.

2. Eine Aufforderung an den Betroffenen, bestimmte Beweismittel vorzulegen kann dann gegenüber der Anordnung einer Durchsuchung das mildere, gleich geeignete Mittel darstellen, wenn das Gericht im Hinblick auf ein teilweises Schweigen aus einer etwaigen Nichtbefolgung der Aufforderung verwertbare Schlüsse ziehen kann.