HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Rationalitätstendenzen im Revisionsrecht?

Anmerkungen zur aktuellen BGH-Rechtsprechung

von Rechtsanwalt Klaus-Ulrich Ventzke, Hamburg

Eines musste sich die revisionsgerichtliche Rechtsprechung noch nie vorhalten lassen: Berechenbarkeit. Im ohnehin nicht einfachen Verhältnis des Revisionsverteidigers zu seinem ob der Unwägbarkeiten des Revisionsverfahrens strapazierten Mandanten existieren jedenfalls zwei Gewissheiten: Zum einen die notorisch niedrige Erfolgsquote von Angeklagtenrevisionen, zum anderen die weitgehende Unberechenbarkeit der Entscheidungspraxis der Revisionsgerichte. Der kasuistische Charakter der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung, aber auch die virtuose Handhabung des spezifischen Revisionsverfahrensrechts der §§ 333 ff. StPO erklären diesen die Beratungspraxis nicht eben erleichternden Befund. Ob das Revisionsgericht eine Rüge als ordnungsgemäß (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) begründet ansieht, sich davon überzeugen lässt, dass ein Verfahrensmangel durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen wird (§§ 273 f. StPO), den Einfluß eines ordnungsgemaß gerügten Rechtsfehlers auf die tatrichterliche Entscheidung (nicht) ausschließt (§§ 337, 338 StPO) oder nunmehr ungeachtet aller tatrichterlichen Rechtsfehler nach seiner eigenen Einschätzung - der Gesetzgeber sprach sogar eher verniedlichend von bloßer "Meinung" (vgl. Hirtz/Sommer, 1. Justizmodernisierungsgesetz, 2004, S. 99) - eine tatrichterliche Entscheidung im Rechtsfolgenausspruch als angemessen bewertet (§ 354 Abs.1a StPO), all dies steht - salopp formuliert - revisionspraktisch in den Sternen.

Schon deshalb verdienen Bemühungen in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung Beachtung, die darauf zu zielen scheinen, dieses Defizit - mit nachhaltigen Folgen für die tat- und revisionsgerichtliche Praxis - wenigstens etwas zu kompensieren. Diese Tendenzen betreffen das "eigentliche" Revisionsrecht (1.), aber auch - im Rahmen der sachlichrechtlichen Prüfung - das Beweisrecht (2.).

1. Auffällig ist, dass die Innovationsfreude des Bundesgerichtshofs beim Kreieren neuer Rügebarrieren im Rahmen der Anwendung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, die aus revisionsrichterlicher Sicht eindrucksvoll von Kutzer (StraFo 2000, 326 ff.) kritisiert worden war, möglicherweise auch im Hinblick auf zur Entscheidung in diesem Jahr anstehende Verfassungsbeschwerdeverfahren (2 BvR 656/99, 657/99, 683/99) gedämpft wirkt. Die neueren Entscheidungen bewegen sich insoweit auf gewohnten Bahnen und erwecken den Eindruck, dass die entsprechenden Zweifel an der Vollständigkeit und Schlüssigkeit des Rügevorbringens ohne weiteres vorauszusehen waren (z.B. BGH, 5 StR 306/03 vom 24.6.2004, S. 11 - 13, 2 StR 456/03 vom 18.8.2004, S. 12/13, 5 StR 218/04 vom 19.8.2004, S.9). Allerdings dürfte durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz begründeter Innovationsbedarf entstehen: Die Neufassung der Ausnahmetatbestände zu § 250 S. 2 StPO, insbesondere die Regelungen der §§ 251 Abs.1 Nr. 3, 256 Abs. 1 Nrn. 1b), 5 StPO, gestattet einen nicht unerheblichen Aktentransfer in die Beweisaufnahme unabhängig vom Konsens der Verfahrensbeteiligten (vgl. Hirtz/Sommer a.a.O. S. 90 f., 93 ff). Will der in der Hauptverhandlung dieser Beweisgewinnung durch Surrogate auch in Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 d EMRK widersprechende Angeklagte diesen Mangel beanstanden, so ist er regelmäßig auf die Aufklärungsrüge verwiesen, muß also gemäß § 344 Abs. S. 2 StPO konkret vortragen, welches Ergebnis die von ihm vermisste Beweisaufnahme gehabt hätte (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 47. Auflage, § 244, Rn. 80 ff.). Der Beschwerdeführer, der den Verfahrensfehler indes gerade darin sieht, dass ihm wie allen anderen Prozeßbeteiligten der unmittelbare Zugriff auf das wahrnehmungsnächste Beweismittel in der Hauptverhandlung mit allen damit einhergehenden Handlungsmöglichkeiten verwehrt wurde, steht mithin vor dem aus dem Beweisantragsrecht bekannten (Meyer-Goßner a.a.O. Rn. 20) Dilemma, die Rüge zu unterlassen oder gleichsam ins Blaue hinein ein Beweisergebnis herbeizuphantasieren. Sachlich geboten wäre es deshalb, eine Rüge zuzulassen, die "nur" konkreten Sachvortrag dazu erfordert, aus welchem Grunde - gerade wegen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und des Konfrontationsrechts des Art. 6 Abs. 3 d EMRK - eine bestimmte Beweissurrogation mit § 244 Abs. 2 StPO nicht zu vereinbaren war. Eine Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH (2 StR 262/04 vom 4.8.2004, S. 3/4)

könnte insoweit exemplarisch sein: Kommt es in einer Betäubungsmittelsache, in der Aussage gegen Aussage steht, darauf an, ob die Einlassung des Angeklagten zutrifft, die Unkosten des Auslandsaufenthaltes entgegen der Einlassung des Mitangeklagten nicht mit dem Kurierlohn, sondern mit seiner Kreditkarte bestritten zu haben, und wurden bei seiner Festnahme "zwei Kreditkarten sichergestellt und aktenmäßig erfasst" (a.a.O. S. 3), so ist es mit der Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO schlechterdings nicht zu vereinbaren, wenn der Tatrichter es unterlässt, "durch Einholung entsprechender Auskünfte bei den Kreditinstituten die Einlassung des Angeklagten" (a.a.O. S. 3) zu überprüfen. Soll eine derartige Rüge wirklich daran scheitern, dass der Angeklagte oder sein Verteidiger nicht die Details der Bankauskünfte antizipieren und vortragen (können)?

Die Aufmerksamkeit der Revisionsgerichte hatte sich in der letzten Zeit einer neuen "Baustelle" zugewandt, der Relativierung der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (vgl. die Nachweise bei Ventzke StV 2004, 300 ff.). Der Kreativität bei der Handhabung des Freibeweisverfahrens waren dabei offenkundig keine Grenzen gesetzt. So konnte sich der 2. Strafsenat des BGH (2 StR 492/03 vom 5.5.2004, S. 6) in einem Fall nicht davon überzeugen, dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft einen bestimmten klärungsbedürftigen Verfahrensvorgang tatsächlich wie rechtlich zutreffend erfasst hatte. Zweifel an der maßgeblich von diesem Senat (2 StR 504/00 vom 8.8.2001; dazu: Fezer NStZ 2002, 272 f.) propagierten Relativierung der revisionspraktischen Bedeutung der §§ 273, 274 StPO hat nunmehr erstmals vorsichtig der 3. Strafsenat des BGH (3 StR 202/04 vom 11.8.2004, S. 4/5) angemeldet. Das betrifft sowohl die Frage, unter welchen Voraussetzungen von einer Lückenhaftigkeit des Protokolls gesprochen werden darf, als auch das Problem der Rügeverkümmerung durch Änderung des Protokolls nach Erhebung einer entsprechenden Verfahrensrüge. Mit Recht weist der Senat darauf hin, dass eine weitgehende Relativierung der Beweiskraft des Protokolls dem Normzweck widerstreiten würde, "die Prüfung der wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrensgangs der Tatsacheninstanz durch das Revisionsgericht zu formalisieren und daher auf die aus der Sitzungsniederschrift ersichtlichen Verfahrensvorgänge zu beschränken" (a.a.O. S.5).

Schließlich konnte die revisionsgerichtlich dekretierte Änderung der Klassifizierung einer Rüge weg von der Sachrüge hin zur Verfahrensrüge Unbill für den Beschwerdeführer bedeuten (vgl. nur Meyer-Goßner a.a.O. § 337, Rn. 8 m.w.N.). Von einer derartigen (unangekündigten) Umwidmung war nach einer Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH (StV 1997, 408/409) auch die Rüge überlanger Verfahrensdauer i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK betroffen. Einleuchtend war diese Rechtsprechung nie: Was sprach dagegen, von dem Tatrichter in den Urteilsgründen eine kurz ausfallende Mitteilung dazu zu verlangen, aus welchem Grunde seit der Tat bzw. der sich aus den Aktenzeichen ergebenden verfahrensmäßigen Erfassung des Tatvorwurfs durch die jeweiligen Strafverfolgungsbehörden der sich ebenfalls ohne weiteres dem Urteil zu entnehmende Zeitraum verstrichen war, bis es zu seiner Entscheidung gekommen war (vgl. anschaulich BGH 3 StR 71/04 vom 27.7.2004, S. 4/5)? Und zudem ließ die revisionsgerichtliche Rechtsprechung die Teilnehmer der tatgerichtlichen Hauptverhandlung ratlos zurück, wenn es um die Beantwortung der Frage ging, auf welchem Wege diese im Strengbeweisverfahren festzustellenden Strafzumessungstatsachen (so auch jetzt noch BGH, 2 ARs 33/04 vom 26.5.2004, S. 6 ff.) in die Beweisaufnahme einzuführen sind. Schon deshalb ist der sorgfältig begründete Anfragebeschluß des 5. Strafsenats des BGH (5 StR 376/03 vom 13.11.2003, S. 7 ff.) uneingeschränkt zu begrüßen. Das gilt insbesondere, soweit der Senat (a.a.O. S. 10/11) ausdrücklich der Frage nachgeht, ob das bisherige Verständnis der Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO mit dieser Rüge zu vereinbaren ist, und hierbei in Erinnerung ruft, dass diese Kriterien "abstrakt (zu) beschreiben" (a.a.O. S. 11) sein müssen, um dem Beschwerdeführer die notwendige Rechtssicherheit zu vermitteln. Vorsichtige Distanz zur bisherigen Rechtsprechung verrät auch der im Anfrageverfahren ergangene Beschluß des 3. Strafsenats des BGH (3 ARs 5/04 vom 12.8.2004, S. 4). Bedauerlich wäre es allerdings, wenn die Entscheidung dieser revisionsverfahrensrechtlichen Frage auch von einer in den Beschlüssen des 2. Strafsenats (a.a.O. S. 6 u.) und des 3. Strafsenats (a.a.O. S. 5) anklingenden Geringschätzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK beeinflusst würde. Bei der Umwidmung derartiger Rügen - etwa zum Unterbleiben der Aufklärung der persönlichen Verhältnisse eines hierzu in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten (vgl. BGH StV 1998, 636) - schien jedenfalls unterschwellig die Annahme entsprechender Mitwirkungsobliegenheiten des Angeklagten eine Rolle zu spielen, wie sie auch der sog. Widerspruchslösung inhärent ist (Meyer-Goßner a.a.O. § 136, Rn. 25 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass der 5. Strafsenat des BGH (5 StR 566/03 vom 18.2.2004, S. 4) unlängst die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Tatrichters in Erinnerung gebracht hat, "offensichtliche, durch einen gerichtlichen Hinweis ohne weiteres zu beseitigende Missverständnis(se) des Verteidigers zu beseitigen" (vgl. auch BGH, 5 StR 23/04 vom 18.2.2004, S. 3).

2. Im Bereich der Sachrüge versucht die Rechtsprechung des BGH seit längerem, für bestimmte Problemzonen der tatgerichtlichen Beweisführung gleichsam beweisregelähnliche Leitlinien oder Prüfungsschemata zu entwickeln, Bemühungen, die teilweise unmittelbar mit der Auslegung der entscheidungsrelevanten Vorschriften des materiellen Strafrechts einhergehen. Hierdurch wird nicht nur das revisionsgerichtliche Prüfprogramm durchschaubarer, sondern den Beteiligten der tatgerichtlichen Hauptverhandlung - allerdings unter der Voraussetzung, daß sie die Rechtsprechung überhaupt zur Kenntnis nehmen - eine gewisse Verhaltenssicherheit vermittelt.

So hat der Bundesgerichtshof im wesentlichen - soweit anhand der mit Gründen versehenen Entscheidungen rekonstruierbar (vgl. zum Problem Barton StraFo 1998, 325 ff.) - konsequent (vgl. aber Dahs NStZ 2004, 451 f.)

seine materiellrechtlichen Maßstäbe für die Behandlung typischer Beweiskonstellationen in der Beweiswürdigung des schriftlichen Urteils (vgl. dazu Nack StraFo 2001, 1 ff.) beibehalten und fortentwickelt. Wie wenig mancher Tatrichter offenbar willens und in der Lage ist, etwa die Rechtsprechung zur Beweislage "Aussage gegen Aussage" ernstzunehmen, verdeutlicht ein Beschluß des 4. Strafsenats des BGH (4 StR 120/04 vom 13.7.2004; S. 3 ff.): Widersprüche in der Glaubhaftigkeitsbegutachtung, unterschiedliche Täterbenennungen in einem einschlägigen Parallelverfahren und ein inhaltlich verknüpfter Teilfreispruch - all dies hatte den Tatrichter nicht zu einer über Bekenntnisse hinausgehenden Beweiswürdigung zur Glaubhaftigkeit der Angaben der einzigen Belastungszeugin veranlasst. Nicht ohne Grund dürfte deshalb der 5. Strafsenat des BGH in zwei neueren Entscheidungen diejenigen Grundsätze in Erinnerung gerufen haben, die bei der "Glaubhaftigkeitsbeurteilung gerade bei Aussagen im Bereich des Betäubungsmittelsstrafrechts" (5 StR 71/04 vom 7.7.2004, S. 4) insbesondere dann zu beherzigen sind, wenn die Beweisführung auf die Aussage von Zeugen gestützt wird, die ihrerseits "in ein Geflecht illegalen Rauschgifthandels (…) verstrickt (sind und) deren Motivation möglicherweise auf eigene Vorteile oder auf die Abwehr weiterer Beschuldigungen ausgerichtet war" (5 StR 267/04 vom 4.8.2004, S. 3). Derselbe Senat (5 StR 242/04 vom 2.9.2004, S. 6) hat es zudem als einen Sachmangel angesehen, wenn in der Beweiswürdigung nicht mitgeteilt wird, wie ein Zeuge "auf die - gebotenen - Nachfragen geantwortet hat". Das nimmt dem Tatrichter die Möglichkeit, durch eine gezielt lückenhafte Aussagewürdigung in den schriftlichen Urteilsgründen entsprechende Revisionsangriffe wegen des sog. Rekonstruktionsverbots (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 261, Rn. 38a) ins Leere laufen zu lassen. Muß er im Urteil demnach die Aussage mitteilen oder aber einräumen, die gebotenen Fragen unterlassen zu haben, so werden sonst verfahrensrechtlich kaum greifbare Beweisführungsmängel (Meyer-Goßner a.a.O. § 244, Rn. 82) auf die Sachrüge hin beachtlich.

Der BGH setzt seine verdienstvollen Bemühungen fort, die Qualität der Behandlung psychodiagnostischer Sachverständigengutachten in der Tatsacheninstanz zu verbessern. Nur so ist es zu verstehen, dass der 1. Strafsenat des BGH in einem Beschluß gemäß § 349 Abs.2 StPO (1 StR 293/04 vom 3.8.2004, S. 4/5) noch einmal fast leitsatzartig diejenigen - gerade erst in einer Grundsatzentscheidung aus diesem Jahr (1 StR 346/03 vom 21.1.2004) entwickelten - Prüfungsschritte zusammengefasst hat, die der Tatrichter bei der besonders schwierigen Frage zu bedenken hat, ob eine Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit geeignet ist, eine Anwendung der §§ 20, 21 StGB zu rechtfertigen. Von ungemein praktischer Relevanz wird schließlich sein, wie sich die durch zwei Entscheidungen des 5. Strafsenats des BGH (5 StR 591/03 und 5 StR 93/04 jeweils vom 17.8.2004) weiter vorangetriebene, an der Bildung von Fallgruppen ausgerichtete Neuorientierung der Rechtsprechung zur Strafrahmenverschiebung bei alkohol- bzw. drogenbedingter Einschränkung der Schuldfähigkeit - z.B. auf die Gutachtenpraxis, aber auch das Strafniveau - auswirken wird.

Insgesamt bestätigt diese Skizze den Eindruck, der durch das Ansteigen der Anfrage- und Vorlageverfahren nahegelegt wird. Die revisionsgerichtliche Rechtsprechung des BGH bildet gegenwärtig keinen monolithischen Block, sondern befindet sich (auch in Grundsatzfragen) in Bewegung. Verteidiger haben allen Grund, sich aktiv - und in der gehörigen Form (BGH, 3 StR 98/04 vom 30.3.2004, S.3) - an dieser Fortentwicklung zu beteiligen.