HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2004
5. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 1 StR 368/03 - Beschluss vom 5. November 2003 (LG Landshut)

BGHR; Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden (geordnete Zeugenbefragung; sachfremdes Beweisthema; begründungslose Zurückweisung und spätere Beanstandung); Würde des Zeugen (faires Verfahren; Rechtsstaatsprinzip); Strafzumessung (strafschärfende Berücksichtigung von rechtsfeindlichem Verhalten: Abgrenzung von zulässigem Verteidigungsverhalten; zu missbilligende Einstellung).

Art. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 46 Abs. 2 StGB; Art. 6 EMRK; § 238 StPO

1. Zur Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden. (BGHR)

2. Die Leitungsbefugnis des Vorsitzenden umfasst auch die Befugnis, die sachgerechte Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen zu gewährleisten und insbesondere für die sachgerechte Ausübung des Fragerechts (§ 240 Abs. 2, § 241a StPO) durch die Verfahrensbeteiligten Sorge zu tragen (BGHSt 16, 67, 70 f.). Er muss sicherstellen, dass der Zeuge zur Sache im Zusammenhang vortragen kann, Angriffe abwehren, die mit dem Anspruch des Zeugen auf angemessene Behandlung und Ehrenschutz unvereinbar sind und nicht erforderliche Fragen nach entehrenden Tatsachen sowie unzulässige, ungeeignete und nicht zur Sache gehörende Fragen zurückweisen. (Bearbeiter)

3. Wird die Vernehmung eines Zeugen oder Sachver-

ständigen durch den Vorsitzenden von einem Verfahrensbeteiligten unter anderem durch extensive Antragstellung, wiederholte Beanstandungen, Herbeiführung von Gerichtsbeschlüssen und Anträgen auf wörtliche Protokollierung fortwährend unterbrochen, so braucht der Vorsitzende derartige Anträge nicht sofort entgegenzunehmen und zu bescheiden. In einem solchen Fall kann er vielmehr die Befragung des Zeugen oder Sachverständigen ungestört zu Ende führen und dem Verfahrensbeteiligten statt dessen aufgeben, etwaige Beanstandungen erst nach Abschluss seiner Befragung vorzutragen. Über derartige Beanstandungen und Anträge kann dann insgesamt befunden werden. (Bearbeiter)

4. Fragen an einen Zeugen oder Sachverständigen zu einem sachfremden Beweisthema kann er durch eine Entscheidung zu diesem Thema insgesamt zurückweisen (vgl. BGHSt 13, 252, 254; 21, 334, 360). Werden dazu gleichwohl weitere Fragen gestellt, so umfassen die erstmalige Zurückweisung und der erstmalige Gerichtsbeschluss nach § 238 Abs. 2 StPO auch deren Zurückweisung. Solche Fragen darf der Vorsitzende durch Bezugnahme auf den Gerichtsbeschluss ohne weitere Begründung zurückweisen. Einer erneuten Entscheidung durch das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO bedarf es in solchen Fällen nicht mehr. (Bearbeiter)

5. Verhalten, das eine rechtsfeindliche Einstellung offenbart, ist nicht von der zulässigen Verteidigung des Angeklagten umfasst. Es darf strafschärfend berücksichtigt werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 2 BGs 315/2003 - Beschluss vom 15. Dezember 2003

BGHR; Verteidigungsrecht (Laptop des Verteidigers in der Untersuchungshaft; freier Verkehr / Kontaktrecht; Gepflogenheiten; Einlasskontrolle); Beschränkungen in der Untersuchungshaft (Wirkung gegen Dritte; Besonderheiten beim Verteidiger).

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 119 Abs. 3 StPO; § 148 StPO; § 137 StPO

1. Einem Verteidiger, der die für die Mandantengespräche erforderlichen Unterlagen auf einem Notebook eingespeichert hat, kann regelmäßig die Mitnahme eines solchen Geräts (ohne Netzwerkkarte und Zusatzgeräte) zu Unterredungen mit seinem Mandanten in der Justizvollzugsanstalt nicht verwehrt werden. (BGH)

2. Die Benutzung moderner elektronischer Hilfsmittel durch einen Verteidiger im Rahmen von Mandantengesprächen, beinhaltet grundsätzlich keine größere Missbrauchsgefahr als dies bei Mitnahme der erforderlichen Aktenstücke der Fall ist. Einer inhaltlichen Kontrolle sind die Verteidigerunterlagen stets entzogen, gleichgültig, ob sie in Schrift- oder in elektronisch gespeicherter Form mitgeführt werden. Wie im Falle mitgeführter Aktenkopien ist eine in geeigneter Form durchgeführte Untersuchung des Notebooks vor dem Besuch des Beschuldigten auf nicht der Verteidigung dienende Gegenstände zulässig. (Bearbeiter)

3. Die in § 119 Abs. 3 StPO bestehende Möglichkeit, dem Untersuchungsgefangenen Beschränkungen aufzuerlegen, die auch Dritte betreffen können, gilt grundsätzlich nicht für den Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger. Vielmehr gestattet § 148 StPO dem Untersuchungsgefangenen - unbeschränkten - schriftlichen und mündlichen Verkehr mit seinem Verteidiger. Dies beinhaltet auch die Befugnis des Verteidigers, alle Unterlagen, die er für eine Unterredung mit dem Untersuchungsgefangenen benötigt oder die er mit ihm im Rahmen der Verteidigung zu erörtern hat, in die Haftanstalt mitnehmen zu können, ohne diese Unterlagen einer inhaltlichen Kontrolle unterwerfen zu müssen. (Bearbeiter)

4. Hingegen kollidiert eine Untersuchung u.a. der mitgeführten Verteidigerunterlagen vor dem Besuch auf nicht der Verteidigung dienende Gegenstände - etwa Waffen und Ausbruchswerkzeuge - nicht mit § 148 StPO; sie schränkt die Verteidigung nicht unzulässig ein (vgl. BGH NJW 1973, 1656). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 270/03 - Urteil vom 6. November 2003 (LG Münster)

Einlassung des Abgeklagten (Beweiswürdigung; Glaubwürdigkeit; Einlassungswechsel; Zweifelssatz; in dubio pro reo); unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge.

§ 29 BtMG; § 30 BtMG; § 261 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK

An die Bewertung der Einlassung des Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Der Tatrichter hat sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGHR StPO § 261 Einlassung 6 m.w.N.). Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich eines Wechsels der Einlassung.


Entscheidung

BGH 5 StR 458/03 - Beschluss vom 12. November 2003 (LG Göttingen)

Klärende Feststellung der Wirksamkeit der Rücknahme der Revision durch förmliche Entscheidung des Rechtsmittelgerichts (Schriftlichkeit: handschriftliche Unterzeichnung eines eigenhändig geschriebenen Schriftstücks, Urheberschaft des Angeklagten; Unwiderruflichkeit trotz fehlender Erwartungen: Veranlassung durch die Justiz).

§ 302 Abs. 1 StPO

Eine Rücknahmeerklärung ist unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr. vgl. nur BGHR StPO § 302 Abs. 1 Rücknahme 5 m.w.N.). Grundsätzlich ist auch eine auf Irrtum beruhende Rücknahmeerklärung nicht anfechtbar. Dass der Angeklagte mit seiner Prozesshandlung Erwartungen verknüpft hat, die - nach dem Vortrag seines Wahlverteidigers - nicht von der Justiz veranlasst worden waren, führt nicht ausnahmsweise zur Zulässigkeit der Anfechtung.


Entscheidung

BGH 4 StR 454/03 - Beschluss vom 18. November 2003 (LG Dessau)

Wirksame Rechtsmittelrücknahme durch den Wahlverteidiger (Ermächtigung im Rahmen der üblichen Strafprozessvollmacht).

§ 302 Abs. 2 StPO

Einer wirksamen Rechtsmittelrücknahme steht es nicht entgegen, dass die Ermächtigung zur Rechtsmittelrücknahme nur im Rahmen der üblichen Strafprozessvollmacht erteilt worden ist. Bei einem erst für die Durchführung des Revisionsverfahrens beauftragten Wahlverteidiger handelt es sich insoweit um eine ausdrückliche Ermächtigung im Sinne des § 302 Abs. 2 StPO (BGH NStZ 1998, 531, 532).


Entscheidung

BGH 3 StR 136/03 - Beschluss vom 9. Oktober 2003 (LG Lübeck)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Beginn der Frist zur Urteilsergänzung; Erlass des Beschlusses zur Wiedereinsetzung; Eingang der Akten beim für die Urteilsergänzung zuständigen Gericht).

§ 267 Abs. 4 Satz 3 StPO; § 275 Abs. 1 StPO

Der Senat neigt der Auffassung zu, dass die Frist zur Ergänzung des Urteils nach § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO erst dadurch in Gang gesetzt wird, dass die Akten nach Erlass des Wiedereinsetzungsbeschlusses bei dem für die Urteilsergänzung zuständigen Gericht eingehen.