HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2003
4. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

EGMR Nr. 41444/98 - Urteil vom 2. Oktober 2003 (Hennig v. Österreich)

Recht auf eine Verhandlung in angemessener Frist (Gesamtbetrachtung; Organisationspflicht; konkrete Prüfung der Komplexität / Schwierigkeit; Wirtschaftsstrafverfahren; Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnitten: Differenzierung nach Verfahrensstadien; Beschleunigungsgrundsatz).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG

1. Die Angemessenheit der Dauer von Strafverfahren muss im Lichte der besonderen Fallumstände unter Berücksichtigung der in der ständigen Rechtsprechung des EGMR niedergelegten Kriterien gewürdigt werden. Diese sind im Besonderen die Komplexität des Falles, das Prozessverhalten des Beschwerdeführers und der relevanten staatlichen Behörden sowie die persönliche Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer.

2. Die zu würdigende Periode beginnt in Strafverfahren, sobald eine Person strafrechtlich angeklagt ist. Dies kann auch schon vor der Überstellung des Falles an das Tatgericht der Fall sein. Anklage im Sinne des Art. 6 EMRK ist im allgemein die offizielle Mitteilung an den Angeklagten darüber, dass er von den zuständigen staatlichen Stellen wegen der Begehung einer Straftat verfolgt wird. Eine Anklage liegt auch dann vor, wenn der Verdächtige bereits durch ein Verfahren tatsächlich substantiell betroffen worden ist.

3. Ein Verfahren, das Teil einer im Allgemeinen komplexen Untersuchung von Wirtschaftsstraftaten ist, kann nicht pauschal als komplex bezeichnet werden. Auch ein mit komplexen Untersuchungen im Zusammenhang stehendes Verfahren ist insbesondere dann nicht komplex, wenn der Beschwerdeführer selbst die erforderlichen Informationen zur Bewältigung des zudem auf wenige Transaktionen beschränkten konkreten Verfahrens gegeben hat.

4. Auch eine gewisse Komplexität des Falles reicht allein nicht hin, die erhebliche Dauer eines Strafverfahrens zu rechtfertigen. Der EGMR ist sich der Schwierigkeiten bewusst, welche den Vertragsstaaten bei der Führung von Wirtschaftsstrafverfahren begegnen. Art. 6 I EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten, ihre Justiz so einzurichten, dass die Gerichte allen Anforderungen dieser Vorschrift entsprechen können, einschließlich der Verpflichtung, innerhalb angemessener Frist zu entscheiden.

5. Ist in einem Fall festzustellen, dass das Verhalten staatlicher Stellen in den Ermittlungsstadien des Verfahrens übermäßige Verzögerungen bewirkt hat,

kann eine Verletzung des Art. 6 I 1 EMRK nicht allein durch die zügige Durchführung des Verfahrens vor dem Gericht verneint werden. Treten derartige Verzögerungen auf und ist der Fall weder komplex, noch durch im Verhältnis zu den staatlich begründeten Verzögerungen nennenswerte Verzögerungen seitens des Beschwerdeführers gekennzeichnet, liegt eine Verletzung vor.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 911/03 - Beschluss v. 27. August 2003 (2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG)

Verfassungsbeschwerde (Grundsatz der erweiterten Subsidiarität: Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung); Beschränkung des Fragerechts des Nebenklägers (Beanstandung der Sachleitung des Vorsitzenden; Herbeiführung der Entscheidung des Gerichtes); rechtliches Gehör für den Nebenkläger vor einer Verfahrenseinstellung / Grundsatz des fairen Verfahrens; Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers (kein grundrechtlich geschützter Anspruch auf Strafverfolgung eines Dritten).

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 93a BVerfGG; § 93b BVerfGG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 153a Abs. 2 StPO; § 397 Abs. 1 StPO, § 238 Abs. 2 StPO; § 400 StPO.

1. Wird das Fragerecht des Nebenklägers im Prozess beschränkt, so ist wegen des Grundsatzes der erweiterten Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) eine Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör und des Grundsatzes des fairen Verfahrens nur dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt hat (§§ 397 Abs. 1, 238 Abs. 2 StPO).

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es verfassungsrechtlich geboten, dem Nebenkläger die Möglichkeit zu eröffnen, sich nach Maßgabe der strafprozessualen Vorschriften vor einer Verfahrenseinstellung rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl. BVerfGE 14, 320, 323).

3. Die Entscheidung des Gesetzgebers, die grundsätzlich selbstständige Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers dahingehend zu beschränken, dass sie sich nicht auf den Rechtsfolgenausspruch oder Ermessenseinstellungen erstrecken kann, bewegt sich im verfassungsrechtlich unangreifbaren Rahmen. Das Grundgesetz kennt keinen grundrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung eines Dritten durch den Staat (BVerfGE 14, 320, 323).