HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2003
4. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 1 StR 483/02 - Urteil vom 25. März 2003 (LG Hechingen)

BGHSt; Mord (Heimtücke; Einschränkung der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord nur bei außergewöhnlichen Umständen - Subsidiarität; Familientyrannenfälle); entschuldigender Notstand (gegenwärtige Gefahr; Dauergefahr; andere Abwendbarkeit der Gefahr; Verursachung der Gefahr: Ehe; Irrtum über den entschuldigenden Notstand).

§ 32 StGB; § 35 StGB; § 211 StGB; § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 211 StGB

1. Tötet ein Angehöriger heimtückisch handelnd einen äußerst gewalttätigen "Familientyrannen", von dem eine Dauergefahr (im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB) für die Familienmitglieder ausgeht, so hat der Tatrichter grundsätzlich die weiteren Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes zu prüfen. Bei der Prüfung der anderweitigen Abwendbarkeit der Gefahr (§ 35 Abs. 1 StGB) ist regelmäßig vom Täter zu verlangen, dass er zunächst die Hilfe Dritter, namentlich staatlicher Stellen in Anspruch nimmt.

2. Für die Straffindung ist eine etwaige obligatorische Milderung nach § 35 Abs. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB der Milderung wegen Vorliegens außergewöhnlicher Umstände beim Heimtückemord (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB analog, gemäß BGHSt 30, 105) vorgreiflich. (BGHSt)

3. Das Ergebnis der Abwägung zu § 34 StGB würde selbst dann nicht zugunsten der Tötung des "Familientyrannen" ausfallen, wenn eine zugespitzte Situation mit akuter Lebensgefahr für einen Familienangehörigen vorliegt ("keine Abwägung leben gegen Leben"). (Bearbeiter)

4. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Gefahr im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht (vgl. nur BGHSt 18, 271). Dazu zählt auch eine Dauergefahr, bei der ein länger andauernder gefahrdrohender Zustand jederzeit in einen Schaden umschlagen kann (BGH NJW 1979, 2053, 2054). (Bearbeiter)

5. Gegenwärtig ist die Gefahr dann, wenn sich die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nach einem objektiven Urteil aus der ex-ante-Sicht so verdichtet hat, dass die zum Schutz des bedrohten Rechtsguts notwendigen Maßnahmen sofort eingeleitet werden müssen, um den Eintritt des Schadens sicher zu verhindern. Bei einer Dauergefahr ist eine solche Verdichtung der Gefahr dann anzunehmen, wenn der Schaden jederzeit eintreten kann, auch wenn die Möglichkeit offen bleibt, dass der Schadenseintritt noch einige Zeit auf sich warten lässt (BGH NJW 1979, 2053, 2054; vgl. auch BGHSt 5, 371, 373). (Bearbeiter)

6. Eine "Verursachung der Gefahr" im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 StGB kommt in "Tyrannenfällen" nicht allein deshalb in Betracht, weil die Angeklagte über Jahre hinweg trotz der Misshandlungen und Beleidigungen bei ihrem Ehemann ausgeharrt hatte. Die Ehe mit dem Opfer als solche ist bei einem entsprechenden Gewicht der langdauernden, wiederkehrenden Misshandlungen kein Rechtsverhältnis, aufgrund dessen der Angeklagten die Hinnahme der Gefahr weiterer, auch heftiger körperlicher Attacken zuzumuten gewesen wäre. (Bearbeiter)

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 448/02 - Urteil vom 8. April 2003 (LG Potsdam)

BGHR; Haushaltsuntreue (durch zweckentsprechende Subventionsgewährung unter Verstoß gegen Vergaberichtlinien); Subventionsbetrug durch einen gemeinnützigen Verein (Betrieb / Unternehmen; fingiertes Unternehmen); Beweiswürdigung (Freispruch; in dubio pro reo).

§ 264 StGB; § 266 StGB; § 261 StPO

1. Möglichkeit der "Haushaltsuntreue" auch bei zweckentsprechender Subventionsgewährung unter Verstoß gegen Vergaberichtlinien. (BGHR)

2. Subventionsbetrug durch gemeinnützigen Verein. (BGHR)

3. Zwar begründet nicht jeder Verstoß gegen haushaltsrechtliche Vorschriften einen Vermögensnachteil (vgl. BGHSt 43, 293, 297). Aber auch wenn der Mitteleinsatz den vorgegebenen Zwecken entspricht und die durch Einsatz öffentlicher Mittel erzielte Gegenleistung gleichwertig ist, kann ein Vermögensnachteil und somit auch Haushaltsuntreue gegeben sein. Abgesehen von dem Fall, dass durch eine Haushaltsüberziehung eine wirtschaftlich gewichtige Kreditaufnahme erforderlich wird, kommt dies dann in Betracht, wenn die Dispositionsfähigkeit des Haushaltgesetzgebers in schwerwiegender Weise beeinträchtigt wird und er durch den Mittelaufwand insbesondere in seiner politischen Gestaltungsbefugnis beschnitten wird (BGH aaO). (Bearbeiter)

4. Die haushaltsrechtliche Regelung, grundsätzlich nur nicht begonnene Projekte durch Subventionen zu fördern, stützt die Gestaltungsfreiheit des öffentlichen Subventionsgebers. Dieser kann so bei der Vergabe von Haushaltsmitteln unbeeinflusst durch einen vorherigen, möglicherweise wirtschaftlich riskanten Einsatz von Mitteln durch den Subventionsantragsteller die Subventionswürdigkeit eines Projekts, insbesondere auch im Vergleich zu anderen förderungswürdigen Projekten und unter Berücksichtigung der Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Fördermittel, sachlich prüfen. Dem Grundsatz der Förderung lediglich nicht begonnener Projekte kommt daher nicht nur formelle, sondern auch materielle Bedeutung zu. Wer aber die (materiellen) Voraussetzungen für die Leistung einer Subvention nicht erfüllt, hat auf sie keinen Anspruch; wie nahe sein Handeln dem gesetzgeberischen Motiv sonst kommt, ist ohne Bedeutung. Wird die zuständige staatliche Stelle durch Täuschung veranlasst, den in Wahrheit nicht bestehenden Anspruch zu erfüllen, so wird dadurch die Staatskasse in Höhe der unberechtigten Leistung geschädigt (vgl. BGHSt 19, 37, 44 f.; 31, 93, 95 f.). (Bearbeiter)

5. Unter Betrieb oder Unternehmen ist die nicht nur vorübergehende Zusammenfassung mehrerer Personen unter Einsatz von Sachmitteln in gewissem räumlichen Zusammenhang unter einer Leitung zur Erreichung eines bestimmten, nicht stets wirtschaftlichen Zweckes zu verstehen. Auf die rechtliche Form und die Absicht der Gewinnerzielung kommt es dabei nicht an. Auch ein eingetragener Verein wie der Förderverein D /M e.V. kann deshalb Betrieb oder Unternehmen sein. (Bearbeiter)

6. § 264 StGB kann auch anwendbar sein, wenn eine an sich nur für Betriebe und Unternehmen bestimmte Subvention im Einzelfall für ein fingiertes Unternehmen erschlichen wird. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StR 446/02 - Urteil vom 27. März 2003 (LG Oldenburg)

BGHR; sexuelle Nötigung (schutzlose Lage bei Umständen, die in der Person des Opfers begründet liegen; beschränkter Schutz der sexuellen Selbstbestimmung); Beweiswürdigung (lückenlose Gesamtwürdigung bei Aussage gegen Aussage).

§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 261 StPO

1. Zur schutzlosen Lage aufgrund von Umständen, die in der Person des Opfers begründet sind. (BGHR)

2. Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der schutzlosen Lage kann auf die Auslegung des Merkmals der hilflosen Lage in § 237 StGB aF zurückgegriffen werden. Danach liegt eine schutzlose Lage vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maß vermindert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist (BGHSt 44, 228, 231 unter Hinweis auf BGHSt 22, 178 f.; 24, 90, 93; BGHSt 45, 253, 256). (Bearbeiter)

3. Die schutzlose Lage beruht regelmäßig auf äußeren Umständen. Wie von der Rechtsprechung bereits zu § 237 StGB aF entschieden, befindet sich das Opfer in einer hilflosen Lage, wenn es sich dem Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (BGHSt 44, 228, 232 unter Hinweis auf BGHR StGB § 237 hilflose Lage 1). Der Täter muss die schutzlose Lage erkannt und sich zunutze gemacht haben (BGHSt 45, 253, 257; vgl. BGH, Urt. vom 7. November 2002 - 3 StR 274/02). (Bearbeiter)

4. Eine schutzlose Lage des Opfers kann sich daneben auch aus in seiner Person liegenden Umständen einschließlich der in § 179 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB genannten Beeinträchtigungen ergeben. Die Erfassung der früher unter § 237 StGB aF fallenden Taten schöpft den Anwendungsbereich der neuen Tatbestandsvariante nicht aus, nachdem das (einschränkende) Tatbestandsmerkmal des "Entführens" nicht übernommen worden ist. (Bearbeiter)

5. In einem solchen Fall sind aber an die Feststellung der schutzlosen Lage erhöhte Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist, dass das Opfer Widerstandshandlungen gegenüber dem Täter unterlässt, weil es andernfalls Körperverletzungshandlungen oder gar Tötungshandlungen durch den Täter befürchtet. Die Angst des Opfers vor der "Zerstörung seiner Ehe" durch den Täter ist nicht geeignet, eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu schaffen (Bearbeiter).

6. Eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Ausnutzens einer schutzlosen Lage dahin, dass es auch Fälle erfasst, in denen das Erstarren, also der Verzicht auf möglichen Widerstand, allein darauf beruht, dass das Opfer Nachteile nichtkörperlicher Art befürchtet, würde § 177 StGB die innere Stimmigkeit nehmen und Handlungen unterschiedlichsten Unrechtsgehalts mit derselben Strafe bedrohen. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StE 2/02-5 (1) StB 3/03 - Beschluss vom 22. April 2003

Bildung einer kriminellen Vereinigung ("Landser-Fall"; Organisationsstruktur bei einer Musikgruppe; hinreichender Tatverdacht).

§ 129 StGB; § 203 StPO

1. Eine Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 1 StGB ist ein auf Dauer angelegter organisatorischer Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame kriminelle Ziele verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, daß sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen (st. Rspr.).

2. Hinreichender Tatverdacht ist zu bejahen, wenn bei vorläufiger Tatbewertung (BGHSt 23, 304, 306) auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (BGH NJW 1970, 1543, 1544). Hierbei wird ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt, als dies beim dringenden Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 oder § 126 a Abs. 1 StPO der Fall ist.

3. Es bleibt für die Prüfung des dringenden Tatverdachts durch den Senat offen, ob an der Rechtsprechung festgehalten werden kann, dass bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen einen Beschluss des erstinstanzlich tätig werdenden Oberlandesgerichts, durch den die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt wird, der vom Oberlandesgericht angelegte - rechtlich unbedenkliche - Maßstab tatrichterlicher Überzeugungsbildung nicht außer Betracht gelassen werden kann (BGHSt 25, 39).


Entscheidung

BGH 5 StR 508/02 - Beschluss vom 27. März 2003 (LG Mannheim)

Betrug (Vermögensschaden; Kausalität; Risikoerhöhung; Schadensermittlung; wirtschaftlicher Betrachtung; Sicherheiten); Kreditbetrug (Unternehmen).

§ 263 StGB; § 265b StGB

§ 265b Abs. 1 Satz 1 StGB verlangt, dass die Kreditgewährung für einen Betrieb oder ein Unternehmen erfolgt sein muss. Dies erfordert, dass bei wirtschaftlicher Betrachtung der Kreditnehmer ein solches Unternehmen sein muss, das - nach der Legaldefinition des § 265b Abs. 3 Nr. 1 StGB - einen nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb hat.


Entscheidung

BGH 3 StR 420/02 - Urteil vom 10. April 2003 (LG Oldenburg)

Gefährliches Werkzeug (Beisichführen, Verwenden, Eignung zur Zufügung erheblicher Verletzungen); sonstiges Werkzeug (Beisichführen, Verwenden).

§ 177 Abs. 3 StGB; § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB

Der Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB setzt nicht voraus, dass der Täter das Werkzeug oder Mittel schon von vornherein bei sich führt, um es bei der Tat zur Verhinderung oder Überwindung des Widerstands des Opfers einzusetzen. Vielmehr ist es ausreichend, dass der Täter das Tatmittel zu irgendeinem Zeitpunkt der Tatbegehung einsatzbereit bei sich hat, wofür es auch genügt, wenn er es erst am Tatort ergreift (BGH NStZ 1999, 242, 243).