HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2003
4. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Ablehnung eines Beweisantrages infolge Prozessverschleppungsabsicht wegen des Versuchs der Aufdeckung einer rechtswidrigen Verfahrensabsprache mit dem tatbeteiligten wesentlichen Belastungszeugen?

Bemerkungen zum Begründungsstil bzw. der Veröffentlichungspraxis des BGH anhand BGH 1 StR 68/03 - Beschluss vom 12. März 2003 (aufgenommen in BGHR), einer "Leitentscheidung" zur Prozessverschleppungsabsicht des § 244 III 2 StPO.

Von Wiss. Ass. Karsten Gaede[*]

I. Einleitung

Wenn neuere Entscheidungen des BGH in Strafsachen eingeschätzt und eingeordnet werden sollen, bedarf dies der wohlabgewogen Betrachtung der Entscheidungen und einer weiteren Aufarbeitung der vorergangenen Entscheidungen sowie des einschlägigen Schrifttums. Der erste Eindruck sollte nicht zwangsläufig entscheidend sein, sondern der späteren begründeten Korrektur zugänglich bleiben. Bisweilen führt aber gerade ein anfangs noch diffuser Eindruck dazu, offene Fragen und Einwände gegen BGH-Entscheidungen durch eine nähere Analyse aufspüren zu können. Zwei zur Veröffentlichung in BGHR bzw. BGHSt vorgesehene Entscheidungen haben den Verfasser in ein bleibendes Erstaunen versetzt. Die jeweils in der Mai-Ausgabe der HRR-Strafrecht publizierten Entscheidungen des ersten Senates BGH 1 StR 403/02 - Urteil vom 12. Februar 2003 (BGHSt - bei www.hrr-strafrecht.de) und BGH 1 StR 68/03 - Beschluss vom 12. März 2003 (BGHR - bei www.hrr-strafrecht.de) erweisen sich als Beispiele für eine bemerkenswert unterschiedliche Begründungskultur des BGH (bzw. der Berichterstatter?). Die nähere Untersuchung führt - freilich die vorhandenen einschlägigen Quellen in so kurzer Zeit nach der Veröffentlichung nicht ausschöpfend - zu Kritik an der Begründungspraxis des BGH. Auch in der Sache kann die BGH-Entscheidung die Praxis nur dann auf zustimmungswürdige Weise anleiten, wenn scheinbar vergessene Auslegungsprinzipien der Prozessverschleppungsabsicht erinnert werden und der Blick für Fallbesonderheiten geschärft wird, die zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung führen müssen.

II. Prozessverschleppungsabsicht wegen des Versuchs der Aufdeckung einer illegalen Verfahrensabsprache mit dem tatbeteiligten wesentlichen Belastungszeugen?

Der BGH hat in dem hier veröffentlichten Fall BGH 1 StR 68/03 - Beschluss vom 12. März 2003 den Beweisantrag auf Vernehmung von Mitgliedern des erkennenden Gerichts als Zeugen zum Beleg einer nicht aufgedeckten - und damit im Fall ihrer Existenz rechtswidrigen (vgl. BGHSt 43, 195 ff) - Absprache mit einem tatbeteiligten Belastungszeugen wegen Prozessverschleppungsabsicht abgelehnt. Der nach § 349 II StPO ergangene Beschluss zeichnet sich dadurch aus, dass er vom eigentlichen Sachverhalt und damit von den Umständen und Rahmenvoraussetzung für die Entscheidung des BGH wenig Preis gibt: Selbstverständlich überrascht dies den Beobachter der Revisionspraxis nicht. Doch der Beschluss wurde durch den BGH zur Veröffentlichung vorgesehen worden. Er findet Eingang in BGHR. Die zu erwartende prägende Wirkung der Entscheidung lässt sich auch daran ablesen, dass der Strafverteidiger den Beschluss - freilich unbearbeitet - umgehend auf seiner Homepage als eine Art "Entscheidung des Monats" veröffentlicht hat. Die gerade im Zuge der Missbrauchsdiskussion im Strafverfahren viel beachtete Frage, wie die Prozessverschleppungsabsicht auszulegen ist (man denke hier etwa an BGHSt 38, 111 ff; vgl. m.w.N. zum Überblick Beulke, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2002, Rn 126a), sichert der Entscheidung ein zusätzlich reges Interesse und eine rechtspolitische Wirkung.

Doch kann diese BGHR-Entscheidung wirklich leitend wirken, wenn Folgendes - wie geschehen - unklar geblieben ist: War die Aussage des tatbeteiligten Belastungszeugen das wesentliche oder gar einzige Beweismittel bei der Verurteilung des Revisionsführers? Inwiefern konnte der Verurteilte die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen und vor allem seiner Aussage unter diesen Umständen hinreichend angreifen, so wie es ihm Art. 6 III lit. d EMRK zugesteht (vgl. dazu etwa Unterpertinger v. Österreich, Series A, Nr. 110, § 31; Kostovski v. Niederlande, Series A, Nr. 166, § 41; Windisch v. Österreich, Series A, Nr. 186, § 26; und aus jüngerer Zeit P.S. v. Deutschland, 20.12.2001, §§ 21 ff.; Visser v. Niederlande, 14.2.2002, § 43; zu diesem Recht vgl. jüngst auch Wohlers, Festschr. Trechsel, 2002, S. 813 ff)? Inwiefern gab es denn tatsächliche Anzeichen für eine (rechtswidrige) Absprache? Hatte das Gericht vielleicht nur einen "aufs Geratewohl" gestellten Beweisantrag zu bescheiden (eine der BGH-Rechtsprechung bekannte Figur vgl. m.w.N. BGH 3 StR 28/03 - Beschluss vom 11. März 2003 bei http://www.hrr-strafrecht.de).

Man könnte sich fehlende Ausführungen noch durch die Annahme eines dahingehend unproblematischen Sachverhaltes erklären, indem man tatsächlich an einen anhaltslosen Versuch der Verschleppung durch die bloße Behauptung einer Absprache glaubt. Letzteres erscheint angesichts der angestellten umfangreicheren freibeweislichen und strengbeweislichen Ermittlungen des Gerichts jedoch gerade fernliegend. Die Unklarheit über den Sachverhalt wirft im Ergebnis letztlich erhebliche Zweifel hinsichtlich der Tragweite und der Belastbarkeit der "BGHR-Leitentscheidung" auf. Es handelt sich daher um ein kritikwürdiges Vorgehen, das erneut die Problematik der weiten Auslegung des § 349 II StPO und seiner Ausdehnung auf rechtlich problematische und für die Rechtsfortbildung bedeutende Fälle zeigt (vgl. bereits Ventzke StV 1999, 190, der auf die "nur eingeschränkt nachvollziehbaren Wege der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung" hinweist und in StV 2000, 249, 252 hervorhebt, dass derartige Beschlüsse sogar in BGHSt Eingang gefunden haben; Naucke StV 1985, 187, 188; vgl. auch LR-Hanack, 25. Aufl. 1998, § 352 Rn 5, Fn. 4: "ratio decidendi der Entscheidungen oft schwer erkennbar", was er bereits zu § 349 IV bemerkt).

Dies gilt umso mehr, als eine weitere Stütze für eine zutreffende Einordnung dieser Entscheidung fehlt: Der BGH legt nicht einmal die vollständigen Voraussetzungen der Verschleppungsabsicht dar. Mit keinem Wort wird die grundsätzlich enge Auslegung dieser sensiblen Generalklausel (vgl. etwa BGHSt 29, 149, 151: "strenge Auslegung"; Kühne, Strafprozeßrecht, 5. Aufl. 1999, Rn 785) als Ausgangsbasis benannt, schon gar nicht wird sie auf diese Art und Weise betont. Es wird einzig - insoweit in Übereinstimmung mit der bisherigen Praxis (vgl. etwa m.w.N. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl 2003, § 244 Rn 67 f.; zuletzt BGH 1 StR 2/01 - Beschluss vom 7. März 2001 bei http://www.hrr-strafrecht.de) dargelegt, dass der BGH hinreichende tatsächliche Indizien sieht, der Verteidigung die Prozessverschleppungsabsicht zu attestieren. Tatsächlich erfordert die Prozessverschleppungsabsicht aber in den Worten des gleichen Senates (vgl. BGH 1 StR 2/01 - Beschluss vom 7. März 2001 bei http://www.hrr-strafrecht.de; ebenso jüngst auch BGH 4 StR 579/00 - Beschluss vom 3. April 2001 bei http://www.hrr-strafrecht.de; vgl. auch Beulke, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2002, Rn 446) kumulativ das Folgende:

"Ein Beweisantrag kann wegen Verschleppungsabsicht abgelehnt werden (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO), wenn

  • die verlangte Beweiserhebung geeignet ist, den Abschluß des Verfahrens wesentlich hinauszuzögern,
  • sie zur Überzeugung des Gerichts nichts Sachdienliches zugunsten des Angeklagten erbringen kann,
  • der Antragsteller sich dessen bewußt ist und mit dem Antrag ausschließlich die Verzögerung des Verfahrensabschlusses bezweckt wird."

Noch präziser hieß es beim BGH im Anschluss an eine ebenfalls die Strenge der zu erfüllenden Voraussetzungen betonenden Entscheidung vor nicht all zu langer Zeit (vgl. BGH 4 StR 579/00 - Beschluss vom 3. April 2001 bei http://www.hrr-strafrecht.de Rn 13):

"Der Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung setzt zudem voraus, daß neben dem Gericht auch der Antragsteller selbst keinerlei günstige Auswirkungen des Beweisergebnisses auf den Prozeßverlauf erwartet, er vielmehr mit seinem Antrag ausschließlich die Verzögerung des Prozesses bezweckt (BGH NStZ 1998, 207)" (jew. Hervorhebungen des Verfassers).

Damit sind nicht geringe Anforderungen gestellt. Der BGH hat hingegen in dem für BGHR vorgesehenen und damit als Leitfall für den betroffenen Fallbereich fungierenden Beschluss keinen Abgleich mit seiner Rechtsprechung vorgenommen und die Betonung der hohen Anforderungen nicht für nötig befunden, sondern letztlich deutlich seine Bereitschaft bekundet, derartige Ablehnungen von Beweisanträgen zu möglichen Verfahrensabsprachen entschieden zu sanktionieren. Die mit diesem Vorgehen angedeutete Absicht entgeht aufmerksamen Beobachtern der Praxis des BGH freilich nicht. Mehr noch muss vor allem hervorgehoben werden, dass der BGH offenbar auch nicht bedacht hat, inwiefern die hinsichtlich konsensualer Elemente veränderte Gerichtspraxis in der Fallgruppe einer Absprache mit einem parallel abgeurteilten tatbeteiligten Belastungszeugen ein besonderes Vorgehen erforderlich sein könnte. Wenn sich der BGH hier mit einer knappen und mangels Kenntnis des weiteren Sachverhalts im Ergebnis - gerade für die Orientierung suchende Praxis - äußerst schwer abschätzbaren Begründung begnügt, so ist dies ungenügend. Diese mangelnde Transparenz ist bei § 349 II StPO allgemein bedauerlich, bei einer Aufnahme in BGHR ist sie nicht nur ein gleichsam ästhetisches Manko, sondern eine der Verantwortung des BGH für die Rechtsfortbildung unangemessene Vorgehensweise. Drei Punkte sollen hier herausgegriffen werden, die bei der Fortwirkung der BGHR-Entscheidung stets mit bedacht werden sollten:

1. Es darf nicht verkannt werden, dass die Auslegung der Prozessverschleppungsabsicht weiterhin an "strenge" Voraussetzungen geknüpft bleiben muss. Es besteht gerade angesichts des wachsenden menschenrechtlichen Hintergrundes der Verteidigungsrechte (vgl. als Beispiel für die dynamische und nationale Garantien zum Teil übertreffende Auslegung der EMRK durch den EGMR Allan v. Großbritannien, bei http://www.hrr-strafrecht.de = übersetzt in StV 2003, 256 m. Anm. Gaede) kein Anlass, von dieser Auslegung durch missverständliche und letztlich auf das Wirkungspotential der Entscheidung bezogen mangelhaft begründete "Leitentscheidungen" abzurücken.

2. Der BGH lehnt es ausdrücklich ab, dass es in das "Belieben eines Prozessbeteiligten gestellt" wird, "Mitglieder des erkennenden Gerichts als in der Sache berufene gesetzliche Richter für Vorgänge in einer gesondert geführten Verhandlung gegen einen anderen Tatbeteiligten als Zeugen zu benennen und sie damit gemäß § 22 Nr. 5 StPO von der Ausübung des Richteramts auszuschließen mit der weiteren Konsequenz, dass die Hauptverhandlung ausgesetzt und in anderer Besetzung neu begonnen werden muss". Dieser Grundsatz mag gerade für den Normalfall dann stimmen, wenn ein nicht nach konsensualen Erledigungsmöglichkeiten suchendes Gericht dem Angeklagten gegenübersteht. Ein solches Gericht schafft keine Situationen, die für die Beurteilung des Falles derart von Bedeutung sein können, dass eine Zeugenvernehmung der Richter überhaupt relevant wird. Hier ist grundsätzlich kein Anhalt geschaffen, der zu einem unabweisbaren Bedarf nach einer förmlichen Vernehmung von Gerichtsmitgliedern in der Hauptverhandlung führen könnte.

Falls es im Einzelfall anders ist, hat auch der BGH eigentlich die Notwendigkeit eines Vorgehens nach den Förmlichkeiten der StPO erkannt (vgl. BGHSt 45, 354 ff., die der BGH insofern eigenartigerweise gerade zitiert). Wenn es aber heute die legitime Praxis ist, konsensuale Verfahrenserledigungen gerade auch außerhalb der Hauptverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit anzustreben (vgl. etwa BGHSt 43, 195: Erlaubnis zu Vorgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung; krit. dazu Schünemann ZStW 114 (2002), 1, 56f, der zu Recht gerade den verdeckt bleibenden Vorgang der Absprachekommunikation selbst als normativ relevant betont), wodurch auch das unkontrollierte Zugehen auf parallel abgeurteilte tatbeteiligte Belastungszeugen möglich ist, die sodann zum eigenen Vorteil aussagen, verändert sich die Situation grundlegend (vgl. zur Anerkennung des Problems beim Geständnis eines formellen Mitangeklagten zutreffend BGH StV 2003, 264 ff. mit Anm. Weider). Der Angeklagte ist an diesen offenbar vorentscheidenden Gesprächen mit dem weiteren Tatbeteiligten unbeteiligt und es besteht die Gefahr der Benachteiligung des schweigenden bzw. bestreitenden Tatbeteiligten (vgl. zu dieser Gefahr weiterführend Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, 2003, S. 240 ff). Dadurch ist er dem Parallelverfahren, auf das er selbst keinen Einfluss gewinnen kann, in diesem Punkt ausgeliefert: Es droht ihm insbesondere eine die Wirklichkeit der Tat zu seinen ungunsten verfälschende, für das Gericht im Ergebnis überzeugende Darstellung, die zur Grundlage seiner Verurteilung wird. Die BGHR-Entscheidung lässt mit keinem Wort erkennen, dass sie diese besondere Situation erkannt und gewürdigt hat.

Der Angeklagte muss demnach in einem Fall wie in dem vom BGH nun entschiedenen damit rechnen, dass die über ihn Richtenden ohne seine Beteiligung nach den Grundsätzen des BGH legitim auf eine ihn überführende Absprache mit dem gesondert abgeurteilten tatbeteiligten Belastungszeugen hinwirken und diesem für eine schnelle Erledigung beider Verfahren Angebote machen, deren Inhalt häufig im Dunklen verbleibt. Es stellt sich in diesem Kontext nicht mehr als eine verdrängenswerte rein hypothetische Möglichkeit dar, dass die Richter auch darüber hinaus die praktisch entgegen den BGH-Vorgaben unaufgedeckt und unter Abforderung eines Rechtsmittelverzichts ablaufenden Absprachen (vgl. für diese weit verbreitete Einschätzung etwa Schmitt GA 2001, 412 ff, 425 f: "Akzeptanz der höchstrichterlichen Vorgaben bei den Tatgerichten äußerst gering"; Schünemann ZStW 114 [2002], 1, 54 m.w.N.; auch Weider StV 2003, 266, 267: "unverhohlene Weigerung") auch weiterhin verdecken wollen, falls sie es nicht unter dem Zwang der formalen Hauptverhandlung offenbaren müssen. Es mindert zwar in der Tat die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlich erfolgten aber praxisgemäß verschwiegenen Absprache, wenn weitere im Parallelverfahren Beteiligte diese Absprache bereits verneint haben. Gibt es aber Anhaltspunkte für eine verdeckte Absprache, kann in einer solchen Lage gerade nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Angeklagten zum Vertrauen auf die Redlichkeit der typisch verdeckt agierenden Beteiligten gezwungen ist. Im Gegenteil stellen sich hier gerade massive Befangenheitsprobleme, insbesondere dann, wenn es Anhaltspunkte für eine verdeckte Absprache gibt. Das Prozessrecht muss dem Angeklagten in dieser veränderten Situation die Möglichkeit bieten, diese offenbar nach wie vor verdeckten Verfahrensstrukturen tatsächlich offen zu legen, damit aus ihnen keine unfairen Konsequenzen für den sein Schweigerecht wahrnehmenden Angeklagten erwachsen können.

Vielleicht könnte man der Verteidigung auf Basis einer im Sinne der StPO von 1877 gelebten Prozesspraxis vorhalten, die offenbar nicht auf eine konsensuale Verfahrensbeendigung ausgerichtet war, dass eine verdeckte Absprache "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" ausgeschlossen werden kann, wenn Beteiligte das Bestehen einer solchen - gerade auf die Verschwiegenheit bedachten - Absprache bestritten haben. Vor dem Hintergrund der heutigen Praxis kann man nicht erwarten, dass der Angeklagte die Möglichkeit einer solchen für ihn nachteiligen Praxis selbst "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" vernünftiger weise ausschließen muss, so dass er nur noch an der Prozessverschleppung interessiert sein kann (im Ergebnis wie hier auch Weider StV 2003, 266, 268). Vielmehr darf er einen solchen nicht mehr völlig fern liegenden Zweifel am Gericht mit den ihm gestatteten Rechten ausräumen. Dies gilt gerade dann, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der ihm menschenrechtlich und grundgesetzlich zustehende faire Prozess gerade auf die aktive und effektive Mitwirkung über eigene Rechte wie etwa das Beweisantragsrecht gerichtet ist (vgl. zum nach Einfluss im Verfahren strebenden Recht des fairen Verfahrens etwa BVerfGE 39, 238, 243; 38, 105, 111; 65, 171 ff; zur EMRK vgl. Foucher v. Frankreich, Rep. 1997-II, § 34; Bulut v. Österreich, Rep. 1996-II, § 47; Lanz v. Österreich, 31.1.2002, §§ 57 ff.).

In diesem Zusammenhang muss es gerade nicht jedem Verteidiger fraglos einsichtig sein, dass eine Aufrechterhaltung des Beweisantrages auf die förmliche Vernehmung der möglicherweise beteiligten Richter "prozessfremde Zwecke" verfolgt. Wenn "prozessfremde" Formen gewählt werden, sollten wenigstens die Möglichkeiten, diese mit prozessimmanenten Rechten zu disziplinieren, der Verteidigung nicht aus der Hand geschlagen werden. Es ist ein - je nach tatsächlichem Sachverhalt der Entscheidung - vom BGH noch nicht ausreichend gesehenes - oder nur durch die Kürze des Beschlusses verdrängtes - Folgeproblem der Absprachenpraxis aufgeworfen, das in einem fairen Verfahren nicht allein mit der Unterstellung der Prozessverschleppungsabsicht gelöst werden kann.

3. Die so für den Fall der Anhaltspunkte für eine verdeckte Absprache - sie können sich etwa aus dem Verlauf und der Art und Weise des Parallelprozesses ergeben (vgl. auch Weider StV 2003, 266, 267) - angemahnte restriktive Auslegung der Prozessverschleppungsabsicht ist besonders dann unabweisbar, wenn die Aussage eines wesentlichen Belastungszeugen betroffen ist. Ein Urteil darf hier nur dann auf die Aussagen von Belastungszeugen gestützt werden, wenn das Konfrontationsrecht gemäß Art. 6 III lit. d EMRK effektiv gewährt worden ist. Das Konfrontationsrecht fordert dabei eine Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen wirksam anfechten zu können und es wurde in anderem Zusammenhang gerade auch das Recht auf den Zugang zu den zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen bzw. seiner Aussage nötigen Informationen anerkannt (vgl. am Beispiel der Identität des Zeugen Kostovski v. Österreich, Series A, Nr. 166, § 42; Windisch v. Österreich, Series A, Nr. 168, § 28). Überdies besteht die Pflicht, Absprachen mit tatbeteiligten Belastungszeugen zu offenbaren (vgl. Miehsler/Vogler, IntKomm EMRK, Art. 6 Rn. 370; Frowein/Peukert, 2. Aufl. 1996, Art. 6 Rn. 111 m.w.N.), was nach der konkreten und wirksamen Auslegung der EMRK bedeuten muss, dass auch der Beweis einer solchen verfahrensentscheidenden Absprache nicht verhindert werden darf (vgl. zu dieser Auslegungsmaxime beispielhaft Kostovski v. Niederlande, Series A, Nr. 166, § 44 und aus jüngerer Zeit Öcalan v. Türkei, 12.3.2003, § 153 bei http://www.hrr-strafrecht.de).

Wenn der Angeklagte hier einen tatsächlichen Anhaltspunkt für die verabredete Zusammenarbeit des Belastungszeugen mit den Strafverfolgungsbehörden aufweisen kann - der bei der BGH-Entscheidung gerade eher nahe liegt -, dürfen dem Angeklagten nicht die Grundlagen für eine wirksame Anfechtung einer solchen Aussage genommen werden. Die praktisch im Ergebnis kategorische Verweigerung einer förmlichen Vernehmung der etwaig beteiligten Richter in einer solchen Fallgruppe könnte im Einzelfall zu einer Verletzung des Art. 6 EMRK Anlass geben. Dabei sollte bedacht werden, dass sich Art. 6 EMRK keineswegs in der in Deutschland bereits stärker wahrgenommenen Fallgruppe des Konfrontationsrechtes erschöpft. Vielmehr ist auch im europäischen Maßstab die Unparteilichkeit des Gerichts garantiert, die zudem im Strafverfahren gerade am Eindruck des Angeklagten zu messen ist (vgl. zu dieser Teilgarantie des Art. 6 EMRK vgl. Fey v. Österreich, Series A, Nr. 255-A, § 30: "the courts ... must inspire confidence ... above all ... in the accused"; zu dieser st.Rspr. auch Öcalan v. Türkei, 12.3.2003, § 114 bei http://www.hrr-strafrecht.de). Der EGMR könnte - im Gegensatz zum BGH (vgl. den vierten Leitsatz der BGHR-Entscheidung bei http://www.hrr-strafrecht.de) daran Anstoß nehmen, dass Anhaltspunkte für ein verdecktes Zugehen auf den tatbeteiligten Belastungszeugen bestehen und die betroffenen Richter selbst über den Entzug eines Verteidigungsrechts mitentscheiden haben. Mehr noch kann der EGMR gerade auch wegen der vorherrschenden Gesamtbetrachtung zu Art. 6 EMRK eine Kombination aus den Bedenken hinsichtlich Art. 6 III lit. d EMRK und den im Grunde nicht geringeren Bedenken gegenüber der Unparteilichkeit der betroffenen Richter wählen (vgl. beispielhaft dazu Unterpertinger v. Österreich, Nr. 110, §§ 28 ff.; Barberà u.a. v. Spanien, Nr. 146, §§ 67 ff., 89): Er könnte die - bis heute in Straßburg noch vergleichsweise wenig thematisierte - Absprachenpraxis damit an rechtsstaatliche Voraussetzungen binden, die offenbar - blickt man auf die tatsächliche Praxis - bislang in Deutschland noch wenig verwirklicht scheinen. Im Ergebnis könnte für den hier diskutierten Sonderfall gerade die unerwünschte zwingende Folge des Ausschlusses der betroffenen Richter eine menschenrechtlich zwingende Konsequenz des auch bei Absprachen zu verwirklichenden fairen Verfahrens darstellen: Richter, die auf einen gesondert abgeurteilten tatbeteiligten Belastungszeugen ohne Beteiligung des Angeklagten zugehen, um durch seine Aussage das Verfahren des Angeklagten einer verurteilenden Erledigung zuzuführen, sind als befangen abzulehnen.

III. Begründungslust und Begründungsflucht im Allgemeinen

Stellt man die voranstehenden Erwägungen zum Beschluss und zur Auslegung des § 244 III 2 StPO selbst nochmals in einen größeren Zusammenhang, lohnt hier der Seitenblick auf die beispielhafte geradezu fulminante Entscheidung des gleichen Senates BGH 1 StR 403/02 - Urteil vom 12. Februar 2003, die ebenfalls in der Mai-Ausgabe veröffentlicht ist. In diesem - freilich auch nicht gemäß § 349 II entschiedenen - Verfahren befasst sich der erste Senat mit spürbarer Freude an Rechtsfortbildung gründlich mit Fragen zur "Notwehr gegen Erpresser". Wenn das Urteil selbst auch inhaltliche Kritik auf sich ziehen dürfte, zeigt es doch exemplarisch etwa mit dem die Tiefe der wissenschaftlichen Durchdringung signalisierenden Zitat einer rechtsvergleichenden Arbeit aus dem Jahre 1909 (!), wie unterschiedlich die Aufbereitung von Fragen, die für die Rechtspraxis und für die Rechtsfortbildung von Bedeutung sein können, beim BGH ausfallen kann. Ständig spürt der Leser des Urteils, dass sich der BGH in geradezu übertriebenem Maße der rechtsfortbildenden Verantwortung des Gerichts bewusst ist.

Der Verweis auf ein weiteres Urteil stellt sicher keine fundierte Aufarbeitung der Begründungspraxis des BGH im Allgemeinen dar. Der BGH zeigt hier aber beispielhaft die Bereitschaft, Probleme anzusprechen und sich der Suche nach Lösungen offen und nicht nur verdeckt über eine kryptische Begründungspolitik zu stellen. Es besteht kein Grund, diese Bereitschaft bei anderen Rechtsproblemen vermissen zu lassen. Etwaige rechtspolitische Motive hinter der bewusst knapp gewählten Begründung wären bedenklich und dem höchsten deutschen Fachgericht in Strafsachen eigentlich nicht würdig. Dies gilt im Besonderen bei solch sensiblen menschenrechtlich bedeutsamen prozessualen Fragen wie der Prozessverschleppungsabsicht, jedoch auch darüber hinaus. Ganz allgemein sollte über die hier geäußerten Bedenken hinsichtlich der Prozessverschleppungsabsicht bzw. der Beurteilung der Befangenheit hinaus, der bereits geäußerten Kritik an der schwankenden Begründungstechnik der Revisionsgerichte einschließlich des BGH (vgl. Naucke StV 1985, 177, 178; LR-Hanack, 25. Aufl. 1998, § 356 Rn 5), jedenfalls dann Gehör geschenkt werden, wenn das Gericht selbst durch die Auswahl zur Veröffentlichung seinem Beschluss (rechtspolitisch) richtungsweisende Wirkung beimisst. Auch dem Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit ist in diesen Fällen letztlich gerade dann nicht gedient, wenn weitere Einzelfälle infolge einer mangels Einschätzbarkeit missverstandenen BGH-Entscheidung falsch entschieden werden. Darüber hinaus gilt auch hier, dass die zumindest in den geschriebenen Ausführungen nicht reflektierte und damit im Ergebnis als unbedeutend abgetane Prüfung des Problems anhand Art. 6 EMRK dem heutigen Erkenntnisstand zum Wert dieser ergänzenden Prüfung nicht mehr entspricht (vgl. anhand eines anderen Beispieles aus jüngerer Zeit Allan v. Großbritannien bei http://www.hrr-strafrecht.de = übersetzt in StV 2003, 256 m. Anm. Gaede).


[*] Anregungen und Kritik gerade auch zur Einbeziehung der tatsächlichen Absprachenpraxis sind unter karsten.gaede@strate.net willkommen!