HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2003
4. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

EGMR Nr. 39339/98 - Urteil v. 8. April 2003 (M.M. v. Niederlande, 2. Kammer)

Einschaltung von Privaten / Privatpersonen in die Strafverfolgung (Tatprovokation; Ermittlung; Eigenverantwortlichkeit des Privaten; Verantwortlichkeit des Staates; Zurechnung; maßgeblicher Beitrag; Umgehungsverbot; hypothetische Formen der Beweisermittlung); Recht auf Achtung des Privatlebens / der ungestörten Korrespondenz (Telekommunikationsüberwachung; Telefonüberwachung; Hörfalle; Verhältnismäßigkeit; legitimes Ziel; notwendig in einer demokratischen Gesellschaft).

Art. 8 EMRK; Art. 1 EMRK

1. Der Umstand, dass Private hinsichtlich ihrer Mitwirkung bei der Strafverfolgung eigenverantwortlich handeln, schließt die Anwendung der Garantien der EMRK (hier: Art. 8 EMRK) nicht aus. Soweit ein maßgeblicher Beitrag der staatlichen Behörden zum Vorgehen der Privatperson vorliegt, unterliegt die Einschaltung Privater den Anforderungen der EMRK. Die EMRK darf nicht so ausgelegt werden, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden der Vertragsstaaten in Form der Einschaltung von Privatpersonen umgangen werden kann.

2. Ein Beitrag des Staates, der zur Zurechnung von Privathandlungen führt, liegt insbesondere dann vor, wenn überführende Telefongespräche durch staatliche Behörden angeregt werden und/oder ein Aufnahmegerät für diese Gespräche zur Verfügung gestellt wird.

3. Der maßgebliche Beitrag darf nicht erst dann bejaht werden, wenn die Eigenverantwortlichkeit der Privatperson ausgeschaltet ist. Allein die Möglichkeit, dass die Privatperson die Aufnahme eines Telefongesprächs auch ohne die Mitwirkung der Behörden hätte durchführen können, führt nicht zur Unbeachtlichkeit einer tatsächlich erfolgten Mitwirkung der staatlichen Behörden.

4. Ein durch die dem Staat zurechenbare Einschaltung von Privatpersonen in die Strafverfolgung erfolgender Eingriff verletzt Art. 8 EMRK, es sei denn er basiert auf einem Gesetz im Sinne der EMRK, verfolgt ein gemäß Art. 8 II EMRK legitimes Ziel und ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig (verhältnismäßig im Sinne des Art. 8 EMRK).


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 397/02 - Beschluss vom 6. März 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG)

Willkürverbot (sachfremde Erwägungen; objektive Kriterien; Verkennung der Rechtslage in krasser Weise; nicht vertretbare Rechtsansicht); Ausländerrecht (Duldung; Abschiebung; Abschiebungshindernis; fehlender Identitätsnachweis; willkürliche Verwaltungspraxis); Gesetzlichkeitsprinzip (keine Letztentscheidungskompetenz der Verwaltung über die Strafbarkeit; Bestimmtheitsgrundsatz; Verwaltungsakzessorietät); omissio libera in causa.

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ; § 55 Abs. 1 AuslG; § 55 Abs. 2 AuslG; § 13 StGB

1. Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen (vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.). Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die Gerichte bei der Anwendung des sog. einfachen Rechts Verfassungsrecht verletzt haben. Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht erstreckt sich dabei - ohne sich freilich darauf zu beschränken - auch auf eine Überprüfung, ob das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Recht auf eine willkürfreie Entscheidung beachtet ist.

2. Willkürlich ist ein Richterspruch dann, wenn er unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 59, 98 103; 74, 102 127; stRspr). Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung noch nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird. Das durch die Anwendung von Strafrechtsnormen berührte Freiheitsrecht des betroffenen Ausländers und der verfassungsrechtliche Schuldgrundsatz wirken dabei auf die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG ein.

3. Die Strafgerichte dürfen sich hinsichtlich § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht mit der Feststellung begnügen, der Ausländer sei nicht im Besitz einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG. Die Duldung ist eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Insofern dient § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht der Strafbewehrung eines Verwaltungsakts und bindet den Strafrichter nicht an die unterlassene oder verspätet getroffene Entscheidung einer Verwaltungsbehörde (vgl. BVerfGE 80, 244, 256).

4. Da der Ausländer auch zu dulden ist, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat (vgl. BVerwGE 111, 62 64 f.), ist keine Konstellation vorstellbar, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte. Ist als Folge des tatsächlichen bzw. rechtlichen Hindernisses die Duldung aber erteilt, scheidet eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 2 Nr. 1 AuslG mangels einer der gesetzlichen Voraussetzungen aus. Zugleich steht mit der Erteilung einer Duldung - auch wenn sie förmlich nicht rückwirkend gewährt wird - regelmäßig fest, dass der Abschiebung des Ausländers von Anfang seiner Ausreisepflicht an ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis entgegengestanden hat.

5. Die Strafgerichte sind von Verfassungs wegen gehalten, selbstständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Kommen sie zu der Überzeugung, die Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus.