HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2003
4. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 4 StR 267/02 - Urteil vom 23. Januar 2003 (LG Dessau)

Notwehrexzess (Notwehrlage; Beweiswürdigung hinsichtlich der Annahme eines Putativnotwehrexzesses); Notwehrhandlung (Einschränkung bei Provokation; Gebotenheit; Verteidigungswille; Gesamtbetrachtung bei zeitlich aufeinander folgenden, wechselseitigen Angriffen).

§ 32 StGB; § 33 StGB; § 261 StPO

1. § 33 StGB begründet Straffreiheit nur für denjenigen, der als rechtswidrig Angegriffener in Überschreitung seiner Notwehrbefugnisse den Angreifer aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken verletzt oder gar tötet; er setzt mithin das Bestehen einer Notwehrlage voraus (vgl. BGH NStZ 1987, 20; StV 1997, 291, 292 m.w.N.).

2. Bei zeitlich aufeinander folgenden, wechselseitigen Angriffen der Beteiligten bedarf es zur Prüfung der Notwehrlage einer Gesamtbetrachtung unter Einschluss des der Tathandlung vorausgegangenen Geschehens; derjenige kann sich nicht auf ein Notwehrrecht berufen, der zuvor einen anderen rechtswidrig angegriffen hat, so dass dieser seinerseits aus Notwehr handelt (vgl. BGHSt 39, 374, 376 f.).

3. Auf den so genannten Putativnotwehrexzess ist § 33 StGB nicht anwendbar (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 203, 204 m.w.N.).


Entscheidung

BGH 3 StR 414/02 - Beschluss vom 7. Januar 2003 (LG Düsseldorf)

Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; aktives Tun; Unterlassen; Garantenstellung des Wohnungsinhabers (Kenntnis; Billigung; besondere Umstände).

§ 29a BtMG; 27 StGB; § 13 StGB

Allein die Billigung der Lagerung und des Verkaufs von Betäubungsmittel aus einer gemeinsamen Wohnung heraus erfüllt die Voraussetzungen strafbarer Beihilfe eines Wohnungsinhabers zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln durch seinen Untermieter nicht. Ebenso wenig begründet es ohne weiteres eine Strafbarkeit, wenn gegen das Handeltreiben des Untermieters nicht vorgegangen wird, da eine Garantenstellung des Wohnungsinhabers grundsätzlich nicht besteht (Bestätigung von BGH NStZ 1999, 451).


Entscheidung

BGH 4 StR 25/03 - Beschluss vom 11. Februar 2003 (LG Stralsund)

Versuchter Totschlag; Rücktritt (fehlgeschlagener Versuch; Wechsel vom Tötungs- zum Verletzungsvorsatz).

§ 15 StGB; § 16 StGB; § 22 StGB; § 24 Abs. 1 StGB; § 212 StGB

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der Täter vom Versuch eines Tötungsdelikts auch nach Scheitern seines Versuchs, das Opfer durch Verwendung des zunächst eingesetzten Tatmittels zu töten, strafbefreiend zurücktreten, wenn er die Möglichkeit der Fortsetzung des Tötungsversuchs mit anderen Mitteln erkannt, sich aber gleichwohl dazu entschlossen hat, sein Opfer nur noch körperlich zu verletzen (BGHSt 34, 53, 58; vgl. zum Wechsel von Tötungs- und Verletzungsvorsatz im übrigen BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 47).


Entscheidung

BGH 2 StR 149/02 - Urteil vom 18. Dezember 2002 (LG Trier)

Tateinheit (Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter; Tatmehrheit; Idealkonkurrenz; natürliche Handlungseinheit, rechtliche Handlungseinheit); Darlegung.

§ 52 StGB; § 53 StGB; § 267 StPO

Die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter, namentlich von Leben und körperlicher Integrität, stellt sich regelmäßig auch dann als Mehrheit selbständiger Taten dar, wenn die Angriffe zeitnah aufeinander folgen oder auf derselben Motivation des Täters beruhen. Dennoch können Verletzungshandlungen gegen mehrere Personen nach § 52 Abs. 1 StGB zu einer Handlung im Rechtssinn verbunden sein, wenn sie in einer Ausführungshandlung zusammenfallen oder sich überschneiden. Zudem kommt eine Bewertung als natürliche Handlungseinheit und damit als eine Tat im Rechtssinne in Betracht, wenn mehrere Handlungen so miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Beurteilung ihren Unrechts- und Schuldgehalt nicht zutreffend erfassen würde. Das ist zwar bei Handlungen, welche sich nacheinander gegen verschiedene Personen richten, in der Regel nicht der Fall, kann aber gegeben sein, wenn Angriffe auf mehrere Opfer zeitgleich und wechselweise erfolgen (BGH NStZ 1985, 217; BGH StV 1998, 72).


Entscheidung

BGH 1 StR 474/02 - Beschluss vom 25. Februar 2003 (LG Stuttgart)

Tateinheit (Mord; Brandstiftung; gleichartige Idealkonkurrenz; quantitative Steigerung des Angriffsobjekts); Beweiswürdigung (fehlendes Alibi).

§ 52 Abs. 1 StGB; § 306a StGB

1. Gleichartige Idealkonkurrenz scheidet aus, wenn der Tatbestand auf die Verletzung von sog. Gesamtheiten abstellt, also eine "quantitative Steigerung des Angriffsobjekts" schon einschließt und nicht etwa höchstpersönliche Rechtsgüter betroffen sind. Dann verletzt dieselbe Handlung das Strafgesetz auch nicht bereits deshalb "mehrmals", weil verschiedene Rechtsgutsträger geschädigt sind.

2. Ein fehlendes Alibi ist nicht als Indiz für die Täterschaft des Angeklagten zu werten (vgl. BGHSt 41, 153; BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 13). Sogar eine widerlegte Alibibehauptung oder ein unterbliebener Alibibeweisantritt trotz sich aufdrängender Möglichkeit dazu darf nicht ohne weiteres zu Lasten des Angeklagten gewertet werden (vgl. dazu weiter BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 11, 30).

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 363/02 - Urteil vom 25. Februar 2003 (LG Hamburg)

Vorteilsannahme (Drittmittel; nebenamtliche Tätigkeiten; hochschulrechtliches Verfahren; Transparenzgebot; Vorteil in Form der Übertragung von Nebentätigkeiten; Anzeichen einer Beeinflussung); Amtsträger.

§ 331 StGB; § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB

1. Ein Vorteil im Sinne des § 331 StGB kann auch in der Übertragung von Nebentätigkeiten liegen, die der Angeklagte nicht zu beanspruchen hatte und die daher prinzipiell als Gegenleistung für Entscheidungen im Bereich der Herzschrittmacherauswahl in Betracht kommt (vgl. BGHSt 31, 264, 279 f.).

2. Zu einem sich von den vom BGH jüngst grundsätzlich entschiedenen Fällen durch fehlende Anzeichnen einer Entscheidungsbeeinflussung unterscheidenden Fall der Drittmitteleinwerbung an Hochschulen.

3. Mit der - durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz verschärften - Strafvorschrift des § 331 StGB soll auch dem Hervorrufen eines bösen Anscheins möglicher "Käuflichkeit" von Amtsträgern begegnet werden. Die Sensibilität der Rechtsgemeinschaft bei der Erwägung der Strafwürdigkeit der Entgegennahme von Vorteilen durch Amtsträger ist, auch in Fällen der vorliegenden Art, mittlerweile deutlich geschärft. Mithin wird in derartigen Fällen künftig Amtsträgern vor der Annahme jeglicher Vorteile, die in Zusammenhang mit ihrer Dienstausübung gebracht werden können, die strikte Absicherung von Transparenz im Wege von Anzeigen und Einholungen von Genehmigungen auf hochschulrechtlicher Grundlage abzuverlangen sein. Die Gewährleistung eines derartigen Verhaltens obliegt namentlich auch der besonderen Verantwortung der jeweiligen Vorgesetzten.


Entscheidung

BGH 3 StR 437/02 - Beschluss vom 30. Januar 2003 (LG Kleve)

Vorsätzliche Unterlassung der Konkursantragstellung (Überschuldung; Zahlungsunfähigkeit); tatsächlicher Zusammenhang zwischen Krise und der verspäteten Bilanzerstellung; Betrug (Vermögensschaden); Unterlassungsdelikt (Tatmacht).

§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG a.F.; § 64 Abs. 1 Satz 1 und 2 GmbHG a.F.; § 283 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. b StGB; § 283 b StGB; § 254 HGB

1. Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen die Schulden nicht mehr deckt. Um sie zu ermitteln, bedarf es eines Überschuldungsstatus in Form einer Vermögensbilanz, die über die tatsächlichen Werte des Gesellschaftsvermögens Auskunft gibt (vgl. BGHR StGB § 283 Abs. 1 Überschuldung 1 und 2). Ohne Bedeutung sind hingegen beispielsweise die steuerrechtlichen Abschreibungswerte (vgl. § 254 HGB). Zum Nachweis der Überschuldung herangezogene Jahresbilanzen müssen erkennen lassen, nach welchen Maßstäben die dort aufgeführten Wirtschaftsgüter bewertet worden sind.

2. Die Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel durch eine stichtagsbezogene Gegenüberstellung der fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten sowie der zu ihrer Tilgung vorhandenen oder herbeizuschaffenden Mittel festzustellen (BGHR GmbHG § 64 Abs. 1 Zahlungsunfähigkeit 1). Allerdings können auch wirtschaftskriminalistische Beweisanzeichen wie Häufigkeit der Wechsel- und Scheckproteste oder fruchtlose Pfändungen den sicheren Schluss auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit erlauben (BGHR aaO). Derartige Feststellungen dürfen nicht so allgemein gehalten, dass die Zeitpunkte, zu denen die beiden Gesellschaften tatsächlich zahlungsunfähig wurden und die Frist nach § 64 Abs. 1 Satz 1 GmbHG aF jeweils zu laufen begann, nicht erkennbar werden. Hat danach die Summe der Erträge die Summe der Aufwendungen überstiegen, bedarf der Nachweis von Zahlungsunfähigkeit durch wirtschaftskriminalistische Beweisanzeichen besonders eingehender Darlegung.

3. § 283 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. b StGB ist ein echtes Unterlassungsdelikt; eine Strafbarkeit entfällt daher, wenn der Täter aus fachlichen oder finanziellen Gründen zur Erstellung einer Bilanz nicht in der Lage war (vgl. BGHSt 28, 231, 233; BGH NStZ 1998, 192, 193).

4. Die Stundung einer bestehenden Forderung bzw. die Rücknahme eines Zwangsvollstreckungsantrags begründet nur dann einen Vermögensschaden, wenn dadurch eine Verschlechterung der konkret gegebenen Vollstreckungsaussicht eintritt. Das ist nicht der Fall, wenn der Schuldner schon im Zeitpunkt der Stundung kein pfändbares Vermögen mehr hat.