HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2002
3. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 2 StR 60/02 - Urteil vom 26. Juni 2002 (LG Meiningen)

BGHR; Schöffen; Besetzungseinwand; notwendiger Inhalt der Verfahrensrüge wegen falscher Besetzung (Zulässigkeit); gesetzlicher Richter; Auslosung der Schöffen.

§ 338 Nr. 1 Buchst. b StPO; § 222 b Abs. 2 Satz 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 77 GVG, § 45 GVG

Beginnt eine Hauptverhandlung nach begründetem Besetzungseinwand neu, so sind die für den Tag des neuen Sitzungsbeginns ausgelosten Schöffen zur Mitwirkung berufen. Das gilt auch dann, wenn die neue Hauptverhandlung an einem Tag beginnt, der von Anfang an als (Fortsetzungs-)Sitzungstag bestimmt war. In einem solchen Fall setzt die Zulässigkeit einer auf § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO gestützten Rüge nicht stets die namentliche Mitteilung der ordnungsgemäßen Schöffenbesetzung voraus. (BGHR)


Entscheidung

BGH 1 StR 177/02 - Beschluss vom 9. Juli 2002 (LG Nürnberg-Fürth)

Vereidigungsverbot (versuchte Strafvereitelung); Verwirkung von Verfahrensrügen; Beruhen; Mord (Habgier); kein Verwertungsverbot bei Telefonüberwachungen trotz späterer Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechtes.

§§ 258, 22 StGB; § 60 Nr. 2 StPO; § 337 StPO; § 211 StGB; § 100a StPO; § 52 StPO; § 252 StPO

Eine Beschränkung der Verwertbarkeit von Erkenntnissen, die aus einer Maßnahme gemäß § 100 a StPO herrühren, kann im Hinblick auf ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO - ebenso wie die Unzulässigkeit der Anordnung einer solchen Maßnahme - nur aus einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung ergeben, die es jedoch nicht gibt.


Entscheidung

BGH 1 StR 82/02 - Urteil vom 30. Juli 2002 (LG München I)

Glaubhaftigkeitsbeurteilung (Beweiswürdigung; ermittlungsrichterliche Zeugenvernehmung; Fragerecht); Aufklärungspflicht (Aufklärungsrüge; Unerreichbarkeit); Strafzumessung (verhältnismäßige Bestrafung von Mittätern).

Art. 6 III lit. d EMRK; § 244 Abs. 2 StPO; § 168c Abs. 3 und Abs. 5 StPO; § 261 StPO; § 46 StGB

1. Die Grundsätze von BGHSt 46, 93 (siehe auch EGMR EuGRZ 2002, 37) kommen bei der tatrichterlichen Glaubhaftigkeitsbeurteilung erst dann zur Anwendung, wenn der Tatrichter die Schuldfeststellung auf die Angaben des Ermittlungsrichters stützt (vgl. BGHSt 46, 93 - Leitsatz). Reichen dem Tatrichter hingegen die Bekundungen des Belastungszeugen vor dem Ermittlungsrichter - in der Gesamtschau mit dem übrigen Ergebnis der Beweisaufnahme - zur Überzeugung nicht aus, hat er also trotz dieser Beweismittel vernünftige Zweifel an der Schuld, dann gelten die allgemeinen Grundsätze für die tatrichterliche Glaubhaftigkeitsbeurteilung.

2. Der Gesichtspunkt, dass gegen Mittäter verhängte Strafen auch in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen sollen, darf bei der Strafzumessung durchaus Berücksichtigung finden (BGH wistra 2001, 57).


Entscheidung

BGH 2 StR 43/02 - Urteil vom 19. Juni 2002 (LG Mainz)

Beschleunigungsgrundsatz (angemessene Frist; Beginn; Umstände des Einzelfalles; zeitweiser Stillstand; Ausnutzen von Verteidigungsrechten); Strafzumessung.

Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK; § 46 Abs. 2 StGB

1. Nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK hat auch ein nicht inhaftierter Angeklagter das Recht auf eine Behandlung seiner Sache innerhalb angemessener Frist; diese beginnt, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis gesetzt wird und endet mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens.

2. Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden. Dabei ist auf die gesamte Dauer von Beginn bis zum Ende der Frist abzustellen und es sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen neben dem eigenen Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen für den Beschuldigten zu berücksichtigen (BVerfG NJW 1992, 2472, 2473; BGH NStZ 1999, 313; EGMR EuGRZ 2001, 299, 301; 1983, 371, 380). Eine gewisse Untätigkeit während eines bestimmten Verfahrensabschnitts führt daher nicht ohne weiteres zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK, sofern die angemessene Frist insgesamt nicht überschritten wird (BGH NStZ 1999, 313; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 15).

3. Soweit sich die Dauer des Zwischenverfahrens durch die intensive Wahrnehmung prozessualer Rechte durch den Verteidiger verlängert hat, lässt sich daraus keine rechtsstaatswidrige Verzögerung herleiten.


Entscheidung

BGH 3 StR 203/02 - Beschluss vom 25. Juli 2002 (LG Oldenburg)

Anrechnung von in den Niederlanden erlittener Auslieferungshaft auf die erkannte Freiheitsstrafe; unzulässige Verfahrensrüge (Unerreichbarkeit des Zeugen; Beweisantrag); audiovisuelle Vernehmung (keine Prüfung von Amts wegen bei fristgerechter Erhebung einer Verfahrensrüge).

§ 51 Abs. 4 Satz 2 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 247 a StPO

Die fristgerecht erhobene Rüge, die Strafkammer sei bei der Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung der Zeugin rechtsfehlerhaft von deren Unerreichbarkeit ausgegangen, gibt dem Revisionsgericht keinen Anlass, von Amts wegen zu überprüfen, ob die Voraussetzungen des § 247 a StPO für eine audiovisuelle Vernehmung vorlagen und eine solche tatsächlich hätte durchgeführt werden können. Vielmehr hat der Beschwerdeführer entsprechend § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO innerhalb der Revisionsbegründungsfrist alle für eine Überprüfung erforderlichen Verfahrenstatsachen vorzutragen.


Entscheidung

BGH 3 StR 151/02 - Beschluss vom 13. Juni 2002 (LG Düsseldorf)

Unzulässigkeit der Revision (volle Verantwortung des Verteidigers für die Revisionsbegründungsschrift; Distanzierung von Rügen des Revisionsführers).

§ 345 Abs. 2 StPO

Bestehen durchgreifende Zweifel daran, dass der Verteidiger die volle Verantwortung für den Inhalt der Begründung übernommen hat, so ist die Revisionsbegründungsschrift trotz Unterzeichnung durch den Verteidiger unwirksam. Zweifel an der vollen Verantwortung des Verteidigers können sich insbesondere daraus ergeben, dass er Rügen ausdrücklich als solche des Revisionsführers bezeichnet, sie in indirekter Rede wiedergibt oder sich sonst distanzierender Formulierungen bedient.


Entscheidung

BGH 4 StR 28/02 - Urteil vom 27. Juni 2002

Bestechlichkeit (Vorteil; Orientierung am Rechtsgut; Vorteilsbewusstsein; Vorsatz); umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO; Aufklärungsrüge; sachliche Reichweite der Unterbrechungshandlung (Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde; Durchsuchung).

§ 332 StGB; § 55 StPO; § 245 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO; § 78 Abs. 1 StGB; § 78 c Abs. 1 Nr. 4 StGB; § 16 StGB; § 15 StGB

1. Die tatsächliche Beurteilung der Verfolgungsgefahr gemäß § 55 StPO ist eine Ermessensentscheidung des Tatrichters, die das Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen hat, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind (BGHSt 10, 104, 105; 43, 321, 326).

2. Zwar ist in § 55 StPO nur von der Auskunftsverweigerung auf einzelne Fragen die Rede. Jedoch kann ein Zeuge die Auskunft dann insgesamt verweigern, wenn seine Aussage mit seinem etwaigen strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass eine Trennung nicht möglich ist (BGH StV 1987, 328, 329; BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 1).

3. Das entscheidende Kriterium für die sachliche Reichweite der Unterbrechungshandlung ist der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde, dessen Bestimmung sich maßgeblich danach richtet, was mit der richterlichen Handlung bezweckt wird (vgl. BGHR StGB § 78 Abs. 1 Tat 3; § 78 c Abs. 1 Nr. 4 Durchsuchung 1 m.w.N.).

4. Ein Ermessensbeamter, der sich einen Vorteil versprechen läßt oder einen solchen annimmt, macht sich nur dann der Bestechlichkeit schuldig, wenn er sich durch sein Verhalten ausdrücklich oder stillschweigend bereit zeigt, bei seiner zukünftigen Entscheidung nicht ausschließlich sachliche Gesichtspunkte walten zu lassen, sondern der Rücksicht auf den Vorteil Raum zu geben. Bei der Prüfung, ob eine Unrechtsvereinbarung dieser Art vorliegt, ist zu bedenken, dass nicht jeder aus Anlass oder bei Gelegenheit einer Diensthandlung gewährte Vorteil zu dem Zweck gegeben sein muss, das weitere dienstliche Verhalten des Amtsträgers in unerlaubter Weise zu beeinflussen, sondern dass er seinen Grund in den Regeln des sozialen Verkehrs und der Höflichkeit haben kann (BGHSt 15, 239, 251 f.).

5. Die Unrechtsvereinbarung muss derart ausgelegt werden, dass sie das geschützte Rechtsgut der Bestechungstatbestände (Vertrauens der Öffentlichkeit in die Lauterkeit der Amtsführung BGH NStZ 1985, 497, 499 m.w.N.; BGHR StGB § 332 Abs. 1 Satz 1 Vorteil 6; NStZ 2001, 425, 426) vom Verhalten des Verpflichteten gefährdet.

6. Ein Ermessensbeamter handelt dann vorsätzlich im Sinne des § 332 StGB, wenn er sich bewusst ist, er erwecke durch sein Tun nach außen hin den Anschein der Käuflichkeit und im Zeitpunkt des Sichversprechenlassens gewillt war, den versprochenen Vorteil auch anzunehmen (vgl. BGH NJW 1989, 914, 916).


Entscheidung

BGH 4 StR 178/02 - Beschluss vom 18. Juni 2002

Nebenklagebefugnis (geringe Möglichkeit der Verurteilung wegen einer Katalogtat).

§ 300 StPO; § 397 a Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO

Für die Nebenklagebefugnis reicht die - wenn auch nur geringe - Möglichkeit aus, dass der Angeklagte wegen einer nebenklagefähigen Katalogtat verurteilt wird (vgl. BGH NStZ 2000, 552, 553; BGH NJW 1999, 2380).


Entscheidung

BGH 2 BJs 9/02-3 - Beschluss vom 6. August 2002 (Haftprüfung)

Fortdauer der Untersuchungshaft; Haftprüfung; Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung; terroristische Vereinigung; organisatorischer Zusammenschluss; Gruppenwille; Anfangsverdacht; dringender Tatverdacht.

§ 129a StGB; 112 StPO Abs. 1 und 3 StPO; § 152 Abs. 2 StPO

1. Ein dringender Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) liegt nicht schon dann vor, wenn für die Täterschaft des bestreitenden Beschuldigten eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht. Vielmehr müssen Beweise vorhanden sein, durch die der Beschuldigte mit großer Wahrscheinlichkeit überführt werden kann (Bestätigung von BGH NJW 1992, 1975, 1976).

2. Eine Gruppierung kann nur dann als Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB angesehen werden, wenn es sich um einen auf gewisse Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei Personen handelt, die bei Unterordnung des Willens des einzelnen unter den Willen der Gesamtheit terroristische Anschläge planen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich als einheitlicher Verband fühlen.

3. Als Mitglied einer terroristischen Vereinigung kommt nur derjenige in Betracht, der sich in deren organisierte Willensbildung einordnet und in subjektiver Hinsicht zumindest damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass der Zweck oder die Tätigkeit der Gruppierung auf die Begehung von Katalogtaten nach § 129 a Abs. 1 Nr. 1 - 3 StGB gerichtet sind.


Entscheidung

BGH 2 ARs 178/02 - Beschluss vom 24. Juli 2002 (AG Bremen, AG Osterholz-Scharmbeck)

BGHR; Zuständigkeit für die Vollstreckung von Erzwingungshaft (zur Tatzeit jugendlicher, nunmehr heranwachsender Betroffener).

§ 97 Abs. 1 JGG; § 82 Abs. 1 JGG

Die Zuständigkeit für die Vollstreckung von Erzwingungshaft liegt auch im Verfahren gegen Heranwachsende beim Jugendrichter, § 97 Abs. 1 OWiG iVm § 82 Abs. 1 Satz 1 JGG. § 97 OWiG stellt Jugendliche und Heranwachsende gleich und enthält auch keine Unterscheidung hinsichtlich der Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenrecht. Maßgebend ist allein das Alter des Betroffenen im Zeitpunkt der Begehung der Ordnungswidrigkeit. (BGHR)


Entscheidung

BGH 4 StR 104/02 - Urteil vom 25. Juli 2002 (LG Essen)

Fehlerhafte Beweiswürdigung bei Freispruch (Darstellungspflicht; Widersprüche; Wechsel der Aussagen von Belastungszeugen; Glaubhaftigkeitsbeurteilung; Vermutung eines mit dem Angeklagten abgestimmten veränderten Aussageverhaltens); Betäubungsmittelhandel (Bewertungseinheit).

§ 261 StPO; § 52 StGB; § 29 BtMG

1. Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss der Tatrichter zunächst darlegen, welchen Sachverhalt er als festgestellt erachtet (st. Rspr.; BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 7 m.w.N.). Die Wiedergabe allein der Bekundungen der vernommenen Zeugen genügt der Begründungspflicht nicht (BGHR aaO m.w.N.).

2. Weichen Belastungszeugen, auf deren Aussage die Anklage gestützt ist, in der Hauptverhandlung in wesentlichen Punkten von ihrer früheren Tatschilderung ab und hängt die Entscheidung allein davon ab, ob diesen Zeugen zu folgen ist, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH StV 1998, 250). Dies hat nicht nur für den Fall der Verurteilung, sondern auch für den des Freispruchs des Angeklagten zu gelten (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 14. März 2002 - 4 StR 583/01).


Entscheidung

BGH 2 StR 120/02 - Beschluss vom 19. Juni 2002 (LG Erfurt)

Zulässigkeit des Rechtsmittels (keine Beschwer des Angeklagten bei unterlassener Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt).

§ 64 StGB; § 333 StPO

Richtet sich - bei rechtskräftigem Schuld- und Strafausspruch - die Revision des Angeklagten allein gegen die Nichtanordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB fehlt es an einer die Zulässigkeit des Rechtsmittels begründenden Beschwer fehlt (vgl. BGHSt 28, 327, 330; 38, 4, 7; BGHR StGB § 64 Ablehnung 1; Beschl. vom 4. April 1985 - 5 StR 224/85; offen gelassen etwa in dem Beschluss vom 28. November 1996 - 1 StR 494/96). Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest.