HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2001
2. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 2 StR 498/00 - Urteil v. 23. März 2001 (LG Köln)

BGHSt; Dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten; Verfahrenseinstellung; Übergang in ein Sicherungsverfahren; Maßregelanordnung; Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus; Verfahrenshindernis; Anschlußbefugnis

§ 413 StPO; § 416 StPO; § 71 StGB; § 63 StGB; § 231 a StPO; § 206 a StPO; § 260 Abs. 3 StPO

1. Ergibt sich im Laufe einer Hauptverhandlung die dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, ist das Verfahren einzustellen. Ein Übergang entsprechend § 416 StPO in ein Sicherungsverfahren mit dem Ziel der Anordnung einer Maßregel nach § 71 StGB ist nicht zulässig. (BGHSt)

2. Der § 416 StPO betrifft nur den Wechsel vom Sicherungsverfahren in ein Strafverfahren, wenn sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Schuldfähigkeit des Beschuldigten ergibt. (Bearbeiter)

3. Das Sicherungsverfahren ist eine Art objektives Verfahren (BGHSt 22, 185, 186), das dazu dient, die Allgemeinheit vor gefährlichen, aber schuldunfähigen oder verhandlungsunfähigen Straftätern zu schützen (BGHSt 22, 1, 2 ff.). Es unterscheidet sich von seiner Ausgestaltung her wesentlich vom Strafverfahren. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 2 StR 59/01 - Beschluß v. 23. März 2001 (LG Kassel)

Unzulässige Bezugnahmen in den Urteilsgründen

§ 267 Abs.1 StPO

1. Jedes Strafurteil aus sich heraus verständlich sein. Auf mit dem früheren Urteil aufgehobene, also nicht mehr existente Feststellungen darf nicht verwiesen werden.

2. Eine Bezugnahme wird auch nicht dadurch zulässig, daß sie mit dem Hinweis verbunden wird, die neue Hauptverhandlung habe zu denselben Feststellungen geführt.


Entscheidung

BGH 3 StR 25/01 - Beschluß v. 30. März 2001

Beiordnung eines Rechtsanwalts zum Nebenkläger erstreckt sich nicht auf die Geltendmachung von vermögensrechtlichen Ansprüchen im Adhäsionsverfahren

§ 404 Abs. 5, § 397 a Abs. 1 StPO; § 97 Abs. 1 Satz 4, § 102 Abs. 2 BRAGO

Wird dem Nebenkläger gemäß § 397 a Abs. 1 StPO ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt, so erstreckt sich die Beiordnung nicht auch auf das Adhäsionsverfahren. Der Rechtsanwalt ist daher nicht befugt, für den Nebenkläger vermögensrechtliche Ansprüche gegen den Angeklagten im Adhäsionsverfahren einzuklagen und seine diesbezüglichen Gebühren gegen die Staatskasse geltend zu machen, es sei denn er wurde dem Nebenkläger im Rahmen der Gewährung von Prozeßkostenhilfe gemäß § 404 Abs. 5 Satz 2 StPO, § 121 Abs. 2 ZPO gesondert für das Adhäsionsverfahren beigeordnet. (BGH)


Entscheidung

BGH 5 StR 495/00 - Urteil v. 5. April 2001 (LG Zwickau)

Lebenslange Freiheitsstrafe; Besondere Schwere der Schuld; Verfahrensrügen anhand von Fehlern der Verteidigung; Tatrichterliche Beweiswürdigung; Überzeugungsbildung; Aufklärungspflicht; Aufklärungsrüge; Anhörung eines weiteren (psychiatrischen oder psychologischen) Sachverständigen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten; Steuerungsfähigkeit; Zweifelsgrundsatz

§ 211 StGB; §§ 57a, 57b StGB; § 337 StPO; § 137 StPO; § 261 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 20 StGB; § 21 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Die Gerichte müssen sich abgesehen von einem etwaigen Extremfall eine inhaltliche Kontrolle der Führung einer Strafverteidigung grundsätzlich versagen (vgl. dazu nur BGHSt 39, 310, 314).

2. Soweit Aufklärungsrügen an einer ausführlichen Auswertung des Akteninhalts aufgrund veränderter Verteidigungstaktik orientiert sind, unterliegen sie von vornherein Vorbehalten.

3. Hinsichtlich der Einholung von Sachverständigengutachten muß nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO durch eine Benennung von Wertungen oder Umschreibung von Beweisthemenkreisen nicht erfüllte präzise Bezeichnung der Tatsachen erfolgen, die mit der vermißten Beweiserhebung hätten bewiesen werden sollen (vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 - Aufklärungsrüge 1, 4, 6, 9).


Entscheidung

BGH 4 StR 579/00 - Beschluß v. 3. April 2001 (LG Bremen)

Nötigung; Beweisantrag; Bedeutungslosigkeit; Fehlerhafte Annahme der Verschleppungsabsicht; Bedeutungslosigkeit

§ 240 StGB; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO

1. Der Beschluß, durch den ein Beweisantrag gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO mit der Begründung abgelehnt wird, die Beweisbehauptung sei für die Entscheidung ohne Bedeutung, muß es den Prozeßbeteiligten ermöglichen, sich auf die Gründe der Ablehnung der beantragten Beweiserhebung einzustellen, und das Revisionsgericht in die Lage versetzen, die Ablehnung als rechtsfehlerfrei oder rechtsfehlerhaft beurteilen zu können. Der Ablehnungsbeschluß muß deshalb nicht nur ergeben, ob das Gericht die Beweistatsache aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen als bedeutungslos ansieht, sondern muß diese Wertung auch begründen (vgl. BGH NStZ 2000, 267).

2. Der Umstand, daß die Verteidigerin den Beweisantrag früher hätte stellen können, reicht regelmäßig für sich genommen zur Annahme von Verschleppungsabsicht nicht aus (vgl. BGHSt 21, 118, 123). Der Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung setzt zudem voraus, daß neben dem Gericht auch der Antragsteller selbst keinerlei günstige Auswirkungen des Beweisergebnisses auf den Prozeßverlauf erwartet, er vielmehr mit seinem Antrag ausschließlich die Verzögerung des Prozesses bezweckt (BGH NStZ 1998, 207), und daß durch die beantragte Beweiserhebung eine nicht nur unerhebliche Verzögerung eintreten würde.


Entscheidung

BGH 4 StR 53/01 - Beschluß v. 25. April 2001 (LG Berlin)

Zulässigkeit der Revision trotz wirksamer Rechtsmittelzurücknahme (Unrichtige richterliche Auskunft); Widerruf der Strafaussetzung wegen des Ablaufs der Jahresfrist

§ 302 StPO; § 344 StPO; § 56g Abs. 2 Satz 2 StGB; § 56f StGB

1. Eine Rechtsmittelrücknahme ist ebenso wie der Rechtsmittelverzicht als Prozeßhandlung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. BGHSt 45, 51, 53). Sie ist jedoch ausnahmsweise dann unwirksam, wenn sie durch Drohung, durch Täuschung oder auch nur durch eine versehentlich unrichtige richterliche Auskunft veranlaßt wurde (vgl. BGHSt 45, 51, 53).

2. Ein Widerruf der Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB ist zwar nicht zeitlich unbegrenzt möglich; maßgeblich sind jedoch allein die Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere der Umstand, ob ein Verurteilter darauf vertrauen durfte, daß die Strafaussetzung nicht mehr widerrufen werden würde.


Entscheidung

BGH 5 StR 604/00 - Beschluß v. 4. April 2001 (LG Berlin)

Unzulässige Revision des Nebenklägers (Nähere Begründung); Verstoß gegen Verwertungsverbot des § 252 StPO; Unmittelbarkeitsgrundsatz; Vorhalt; Darlegung bei der Verfahrensrüge

§ 349 Abs. 1 StPO; § 344 Abs. 1 StPO; § 252 StPO; § 250 StPO; § 261 StPO

1. Stützt ein Beschwerdeführer die Rüge der Verletzung von § 252 StPO darauf, in Wahrheit seien nicht die Bekundungen der richterlichen Verhörsperson zur Grundlage der Verurteilung gemacht worden, sondern die Angaben des Zeugnisverweigerungsberechtigten bei der Polizei, wird man regelmäßig die Mitteilung des wesentlichen Inhalts der betreffenden Vernehmung in der Revisionsrechtfertigung verlangen müssen. Dies gilt indessen nicht, wenn sich der wesentliche Inhalt dieser Niederschrift aus den Urteilsgründen ergibt (BGHSt 36, 384, 385).

2. Es ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, den Ermittlungsrichter zeugenschaftlich über die von dem Zeugnisverweigerungsberechtigten gemachten Aussagen zu vernehmen, sofern eine richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren stattgefunden hat (BGHSt 11, 338, 339 f.; 36, 384, 385 f.). Auch dürfen dem Richter, der die Vernehmung durchgeführt hat, die Vernehmungsprotokolle - notfalls durch Vorlesen - als Vernehmungsbehelf vorgehalten werden (st. Rspr.; BGH NJW 2000, 1580). Gleiches gilt für die jeweils im richterlichen Vernehmungsprotokoll in Bezug genommenen Protokolle über die vorangegangenen polizeilichen Vernehmungen (BGH NJW 2000, 1580). Grundlage der Feststellung des Sachverhalts kann indessen nur das in der Hauptverhandlung erstattete Zeugnis des Richters über den Inhalt der früheren Aussage des jetzt die Aussage verweigernden Zeugen sein, nicht aber der Inhalt der Vernehmungsniederschrift selbst (BGHSt 11, 338, 340). Es genügt insbesondere nicht, wenn der Richter lediglich erklärt, er habe die Aussage richtig aufgenommen (BGHSt 11, 338, 341); verwertbar ist nur das, was - gegebenenfalls auf den Vorhalt hin - in die Erinnerung des Richters zurückkehrt (BGHSt 21, 149, 150).


Entscheidung

BGH 1 StR 90/01 - Beschluß v. 3. April 2001 (LG Regensburg)

Besorgnis der Befangenheit; Ablehnungsantrag; Unmittelbarkeit bei Ausschlußgründen; Absoluter Revisionsgrund; Bedrohung; Androhung einer Sprengstoffexplosion; Verletzter Richter

§ 24 StPO; § 22 Nr. 1 StPO; § 338 Nr. 3 StPO; § 241 StGB; § 308 StGB

Verletzt im Sinne von § 22 Nr. 1 StPO ist ein Richter nur dann, wenn er durch die abzuurteilende Tat unmittelbar betroffen ist; die strafbare Handlung muß sich als Eingriff in Rechte seiner Person erweisen (BGHSt 1, 299; im Fall bei Bombendrohung gegen das Gericht abgelehnt).


Entscheidung

BGH 1 StR 112/01 - Beschluß v. 24. April 2001 (LG Stuttgart)

Rechtsmittelverzicht; Begriff der Verhandlungsunfähigkeit; Freibeweis; In dubio pro reo; Zweifelsgrundsatz

§ 302 Abs. 1 StPO; § 261 StPO

Diese Verhandlungsfähigkeit wird in der Regel nur durch schwere körperliche oder seelische Mängel ausgeschlossen; auf die Geschäftsfähigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts kommt es nicht an (BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 3, 16). Ob Verhandlungsunfähigkeit in diesem Sinne vorlag, ist im Wege des Freibeweises zu prüfen; der Grundsatz "In dubio pro reo" gilt hier nicht (BGH aaO).


Entscheidung

BGH 3 StR 342/00 - Urteil v. 30. März 2001 (Hanseatisches OLG Hamburg)

Prozessualer Tatbegriff; Strafklageverbrauch; Mitgliedschaft in einem verbotenen Verein; Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung; Verwertung von nach dem G10 - Gesetz erlangten Erkenntnissen aus Telefonüberwachung

§ 264 Abs.1 StPO; § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG; § 129a StGB; §§ 2 Abs. 1, 7 Abs. 3 Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz (G10)

1. Die für die Organisationsdelikte der §§ 129, 129 a StGB entwickelten Grundsätze zum Strafklagenverbrauch gelten auch für das Organisationsdelikt des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG (Fortführung von BGHSt 43, 312). (BGH)

2. Erkenntnisse aus personenbezogenen Überwachungsmaßnahmen nach § 2 G 10 können unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Verfolgung eines Beschuldigten verwendet werden, gegen den sich die Anordnung nicht richtete, sofern die Erkenntnisse den Verdacht einer der in § 7 Abs. 3 G 10 genannten Katalogtaten betreffen. (BGH)


Entscheidung

BGH 3 StR 50/01 - Beschluß v. 21. März 2001 (LG Lübeck)

Vergewaltigung; Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anforderung an die Darlegung der einzelnen Handlungen nach Tatzeit und Geschehensablauf bei serienmäßiger Begehung)

§ 177 Abs.2 Nr.1; § 176 StGB

1. In Fällen des serienmäßigen Kindesmißbrauchs, in denen dem Angeklagten eine Vielzahl erst nach Jahren aufgedeckter sexueller Übergriffe zur Last gelegt wird, sind an die Individualisierung der einzelnen Mißbrauchshandlungen nach Tatzeit und Geschehensablauf keine überspannten Anforderungen zu stellen.

2. Jedoch darf eine unzureichende Konkretisierung auch nicht dazu führen, daß ein Angeklagter unangemessen in seiner Verteidigung beschränkt wird.


Entscheidung

BGH 1 StR 58/01 - Beschluß v. 3. April 2001 (LG Heidelberg)

Umfassende Beweiswürdigung; Beweisaufnahme; Zulässigkeit der Verfahrensrüge (Darlegung der Beweiserheblichkeit einer nicht gewürdigten Teilaussage); Negativtatsachen

§ 261 StPO; § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Die Revision kann grundsätzlich nicht mit der Behauptung gehört werden, das Tatgericht habe sich mit einer bestimmten Aussage einer Beweisperson nicht auseinandergesetzt, wenn diese Aussage sich nicht aus dem Urteil selbst ergibt. Denn es ist allein Sache des Tatrichters, die Ergebnisse der Beweisaufnahme festzustellen und zu würdigen; der dafür bestimmte Ort ist das Urteil. Was in ihm über das Ergebnis der Verhandlung zur Schuld- und Straffrage festgehalten ist, bindet das Revisionsgericht und ist Grundlage der sachlich-rechtlichen Nachprüfung des Urteils (BGHSt 21, 149, 151; BGH NJW 1992, 2840, 2841).

2. Allerdings kann mit einer Verfahrensrüge beanstandet werden, das Tatgericht habe sich mit einer gemäß § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO wörtlich niedergeschriebenen, verlesenen und genehmigten Aussage nicht auseinandergesetzt, obwohl deren Würdigung geboten gewesen sei (§ 261 StPO; BGHSt 38, 14).

3. Der Tatrichter muß nur die zum Zeitpunkt der Urteilsfällung wesentlichen beweiserheblichen Umstände in den Urteilsgründen erörtern. Ob der Inhalt einer Aussage zu diesem Zeitpunkt beweiserheblich war, läßt sich aber nur aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Beweiswert der Beweismittel beurteilen. Ein Widerspruch zwischen den Bekundungen eines Zeugen oder den Aussagen verschiedener Beweispersonen kann sich durch eine einfache Erklärung eines der Zeugen oder durch sonstige Beweismittel für Verfahrensbeteiligten zweifelsfrei gelöst haben, so daß kein Anlaß für seine Darlegung in den Urteilsgründen mehr bestand (vgl. BGH NJW 1992, 2838, 2840). Wegen der im Gesetz vorgeschriebenen Anforderungen an eine Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) muß deshalb auch die Darlegung verlangt werden, daß sich durch den weiteren Gang der Hauptverhandlung die Beweiserheblichkeit des betreffenden Beweismittels oder des entsprechenden Aussageteils, dessen Würdigung vermißt wird, nicht verändert hat.