HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2001
2. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 474/00 - Urteil v. 7. Februar 2001 (LG Berlin)

Sterbehilfe; Einfuhr und Überlassung eines Betäubungsmittels; Suizid; Betäubungsmittelüberlassung mit leichtfertiger Todesverursachung; Teleologische Reduktion; Verwarnung mit Strafvorbehalt (Ermessensreduktion); Sterbebegleitung; (Natrium-) Pentobarbital; Selbstbestimmung; Menschenwürde; Patientenautonomie; Vermeidbarer Verbotsirrtum; Eigenverantwortung; Vorangegangenes pflichtwidriges Tun (Ingerenz); Garantenstellung; Volksgesundheit

§ 34 StGB; § 35 StGB; § 59 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG; § 212 StGB; § 17 Satz 1 StGB; § 13 Abs. 1 StGB; § 59c StGB; Art. 1 GG

1. Die Einfuhr und die Überlassung eines Betäubungsmittels sind nicht dadurch gerechtfertigt oder entschuldigt, daß der Täter einem unheilbar schwerstkranken Betäubungsmittelempfänger, dem er nicht persönlich nahesteht, zu einem freien Suizid verhelfen will. (BGHSt)

2. Das Überlassen eines Betäubungsmittels zum freien Suizid an einen unheilbar Schwerstkranken, der kein Betäubungsmittelkonsument ist, erfüllt nicht den Tatbestand der Betäubungsmittelüberlassung mit leichtfertiger Todesverursachung gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG. (BGHSt)

3. Im besonderen Einzelfall kann sich das Ermessen des Tatrichters derart verengen, daß allein eine Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt, so daß das Revisionsgericht auf diese Sanktion erkennen kann. Eine rechtskräftig verhängte Geldstrafe kann gemäß § 55 StGB in eine Verwarnung mit Strafvorbehalt einbezogen werden. (BGHSt)

4. Die - theoretisch gegebene - Teilnahme an der Selbsttötung eines vollverantwortlich Handelnden mangels einer Haupttat ist nach ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs straflos. (Bearbeiter)

5. Die sog. "indirekte Sterbehilfe" ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 42, 301, 305) zulässig. Dabei wird unter indirekter Sterbehilfe verstanden, daß die ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation beim tödlich Kranken nicht dadurch unzulässig wird, daß sie als unbeabsichtigte, aber unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann. Soweit eine solche Medikation den Tatbestand eines Tötungsdeliktes durch bedingt vorsätzliche Verursachung eines früheren Todes verwirklicht, ist das Handeln des Arztes nach § 34 StGB gerechtfertigt, sofern es nicht - ausnahmsweise - dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten widerspricht. (Bearbeiter)

6. Die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung unterfällt grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn das mit der Gefährdung vom Opfer bewußt eingegangene Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche Gefährdung veranlaßt, ermöglicht oder fördert, macht sich danach nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts strafbar (st. Rspr. des Bundesgerichtshofs seit BGHSt 32, 262). Dabei hat der Bundesgerichtshof darauf abgestellt, daß derjenige, der sich an einem Akt der eigenverantwortlich gewollten und bewirkten Selbstgefährdung beteiligt, an einem Geschehen teilnimmt, welches - soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht - kein tatbestandsmäßiger und damit kein strafbarer Vorgang ist (BGHSt 32, 262, 265). Das Gesetz bedroht nur die Tötung oder Verletzung eines anderen mit Strafe. Die Strafbarkeit des sich Beteiligenden wegen Körperverletzung oder Tötung beginnt erst dort, wo dieser kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende. (Bearbeiter)

7. § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG ist nach den Grundsätzen der Rechtsprechung zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung teleologisch zu reduzieren. Das Merkmal der Leichtfertigkeit im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG wird durch den Bundesgerichtshof dahin interpretiert, daß leichtfertig handelt, wer die Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs des Geschehens "aus besonderem Leichtsinn oder aus besonderer Gleichgültigkeit" außer acht läßt (BGHSt 33, 66, 67). Solches ist bei einer besonderen Fallgestaltung, in der die Empfängerin des Betäubungsmittels in jeder Hinsicht selbstverantwortlich handelte, nicht gegeben (vgl. BGH NJW 2000, 2286). Insoweit erfaßt der Vorwurf der Leichtfertigkeit - ausnahmsweise - nicht "erst recht" auch vorsätzliches Handeln. (Bearbeiter)

8. Eine Verantwortlichkeit des Angeklagten unter dem Gesichtspunkt des vorausgegangenen rechtswidrigen gefährdenden Tuns setzt jedenfalls voraus, daß in dem Zeitpunkt, als der Suizident durch den Eintritt der Bewußtlosigkeit die Kontrolle über das Geschehen verlor, noch eine Möglichkeit zur Rettung des Lebens bestand (vgl. BGH NStZ 1984, 452). (Bearbeiter)

9. Eine bei einer Verwarnung vorbehaltene Geldstrafe kann mit einer zuvor unbedingt verhängten Geldstrafe im Wege der Verwarnung als Gesamtsanktion zusammengeführt werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 424/00 - Beschluß v. 7. November 2000 (LG Dortmund)

Tateinheit bei mittelbarer Täterschaft; Tatmehrheit (Anlagebetrug); Betrug; Handlung

§§ 52, 53 StGB; § 263 StGB; § 25 Abs. 1 2. Alt StGB

Für die Frage des Vorliegens einer oder mehrerer Handlungen im Sinne der §§ 52, 53 StGB kommt es auch bei mittelbarer Täterschaft auf den eigenen Tatbeitrag der Angeklagten an. Hierdurch werden gegebenenfalls an sich selbständige Vertragsabschlüsse, die sich die Angeklagten als mittelbare Täter zurechnen lassen müssen, zur Tateinheit verbunden (vgl. BGHR § 52 Abs. 1 Handlung, dieselbe 26, 29).


Entscheidung

BGH 5 StR 579/00 - Urteil v. 6. Februar 2001 (LG Leipzig)

Minder schwerer Fall des Totschlages; Extensiver Notwehrexzeß; Furcht; Vermeidbarer Verbotsirrtum; Tatprovokation

§ 212 StGB; § 33 StGB; § 32 StGB; § 17 Satz 2 StGB; § 213 StGB

Die Angst des Angeklagten muß bei § 33 StGB einen hohen Störungsgrad von Furcht und Schrecken erreichen (BGHR StGB § 33 - Furcht 2, 4).

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 4 StR 315/00 - Urteil v. 18. Januar 2001 (LG Münster)

Eingehungsbetrug; Vermögensschaden in Form entwerteter Arbeitskraft

§ 263 StGB

1. Die Arbeitskraft eines Menschen als solche, das heißt seine Fähigkeit, durch den Einsatz geistiger oder körperlicher Kräfte Leistungen von wirtschaftlichem Wert zu erbringen, stellt noch keinen Vermögensbestandteil dar. Jedoch kann die Möglichkeit, die eigene Arbeitskraft zur Erbringung von Dienstleistungen einzusetzen, zum Vermögen im Sinne des § 263 StGB gehören, wenn solche Leistungen üblicher Weise nur gegen Entgelt erbracht werden (BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögen 1; BGH NStZ 1998, 85).

2. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Erbringung der persönlichen Arbeitsleistung Gegenstand einer (entgeltlichen) Vertragsbeziehung, in aller Regel eines Dienst-, Arbeits- oder Werkvertrages, zwischen Täter und Opfer ist. Täuscht der Täter in einem solchen Fall bei Abschluß des Vertrages über seine Fähigkeit, die vereinbarte Vergütung zu zahlen, so gelten die allgemeinen Regeln über den Eingehungsbetrug. Der Vermögensschaden des Opfers ist darin begründet, daß es nunmehr über seine Arbeitskraft - sei es unmittelbar, sei es in Form des Abschlusses von Dienstverträgen - nicht mehr frei zu eigenem Nutzen verfügen kann (RGSt 68, 380). Hierbei ist es unbeachtlich, ob der Betroffene die Möglichkeit gehabt hätte, seine Arbeitskraft anderweitig gewinnbringend einzusetzen.


Entscheidung

BGH 4 StR 474/00 - Beschluß v. 28. November 2000 (LG Halle)

Zweierbande; Bandenraub; Gefestigter Bandenwille (übergeordnetes Bandeninteresse); Verwenden eines gefährlichen Werkzeuges (Treten mit beschuhten Füßen)

§ 250 Abs. 2 StGB

Das Treten mit "beschuhten Füßen" (UA 16) kann nur dann als "Verwenden" eines "gefährlichen Werkzeugs" im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB angesehen werden, wenn die Tritte im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (vgl. BGH NStZ 1999, 616, 617).


Entscheidung

BGH 4 StR 499/00 - Beschluß v. 21. Dezember 2000 (LG Saarbrücken)

Niedrige Beweggründe (Ausschließende nachvollziehbare Gründe); Mord; Totschlag; Motivbündel

§ 211 Abs. 2 StGB; §§ 15, 16 StGB; § 212 StGB

1. Beweggründe zu einem Tötungsverbrechen sind "niedrig", wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen; die Beurteilung dieser Frage hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu erfolgen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 35, 116, 127).

2. Gefühlsregungen wie Rache, aber auch Wut, Haß und Eifersucht, kommen nach der Rechtsprechung nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen. Das ist am ehesten der Fall, wenn diese Gefühlsregungen jeglichen nachvollziehbaren Grundes entbehren (BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 8, 16, 22).

3. Daß der Angeklagte dem Tatopfer "das Lebensrecht abgesprochen" hat, ist Gegenstand jeden vorsätzlichen Tötungsdelikts und rechtfertigt deshalb die Einstufung der Beweggründe als "niedrig" für sich nicht. Nichts anderes ergibt sich daraus, daß der Angeklagte nach dem ersten Schuß das Opfer noch erfolgte und ihm einen weiteren tödlichen Schuß versetzte; soweit dies lediglich seinen unbedingten Tötungswillen belegt.