HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2000
1. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 3 StR 6/00 - Beschluß v. 26. Oktober 2000 (OLG Oldenburg; AG Delmenhorst)

Anspruch auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers besteht für das gesamte Verfahren, auch, wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt; Keine Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein wegen Mittellosigkeit eines sprachunkundigen Angeklagten

§ 140 Abs. 2 Satz 1 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. c und e EMRK

Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK räumt dem der Gerichtssprache nicht kundigen Angeklagten (Beschuldigten) unabhängig von seiner finanziellen Lage für das gesamte Strafverfahren und damit auch für vorbereitende Gespräche mit einem Verteidiger einen Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers ein, auch wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 StPO oder des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gegeben ist. (BGHSt)

Einem Angeklagten ist daher nicht allein deswegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht und wegen seiner Mittellosigkeit nicht in der Lage ist, die Kosten für einen Dolmetscher aufzubringen. (BGHSt)


Entscheidung

BGH 5 StR 408/00 - Beschluß v. 25. Oktober 2000 (LG Hamburg)

Vorrang der Beiordnung eines benannten Rechtsanwalts auch bei vorheriger Bestellung eines anderen Pflichtverteidigers; Notwendige Verteidigung; Wahlverteidiger; Ablehnung des vom Angeklagten bezeichneten Verteidigers seines Vertrauens als Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren; Entpflichtung; Anfrage nach § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO; Verwirkung; Widerspruchslösung

§ 142 Abs. 1 Sätze 2 und 3 StPO; § 336 StPO; Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c MRK; Art 20 Abs. 1 GG; § 143 StPO

1. Einem zeitgerecht vorgetragenen Wunsch des Beschuldigten auf Beiordnung eines von ihm benannten Rechtsanwalts ist grundsätzlich auch dann zu entsprechen, wenn zuvor nach Unterlassen der gebotenen Anhörung ein anderer Pflichtverteidiger bestellt worden war. (BGHR)

2. Der Umstand, daß der Beschwerdeführer in dem Antrag von sich aus keinen Rechtsanwalt als gewünschten Pflichtverteidiger benannt hat, macht seine Anhörung nicht grundsätzlich entbehrlich; es ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, der Beschwerdeführer hätte sein Vorschlagsrecht gekannt, aber darauf verzichten wollen. (Bearbeiter)

3. Daß der Beschwerdeführer sein Begehren nicht unmittelbar zu Beginn der Hauptverhandlung nochmals vorgebracht hat, stellt seine Rügebefugnis hier nicht in Frage. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 5 StR 414/99 - Beschluß v. 12. Oktober 2000 (LG Berlin)

Zum Begriff der Offensichtlichkeit in § 349 Abs. 2 StPO; Gegenvorstellung; Rechtliches Gehör; Gleichheitsgrundsatz

§ 349 Abs. 2 StPO; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG

1. Zum Begriff der Offensichtlichkeit in § 349 Abs. 2 StPO. (BGHR)

2. Ohne Festlegung auf eine jeden Einzelfall erfassende Definition entspricht es ständiger Spruchpraxis, daß eine Revision auch dann durch Beschluß verworfen werden kann, wenn der jeweilige Spruchkörper einhellig die Auffassung vertritt, daß die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und daß auch die Durchführung der Hauptverhandlung keine neuen Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten läßt, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten. Eine Revision ist nicht erst dann offensichtlich unbegründet, wenn sich die Unbegründetheit dem Blick eines sachkundigen Beurteilers sofort aufdrängt. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 411/00 - Beschluß v. 19. Oktober 2000 (LG Münster)

Unzulässige Verfahrensrüge (Vollständiger Sachvortrag bei Ablehnung eines Beweisantrages auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens); Betonung generalpräventiver Gesichtspunkte bei der Strafzumessung; Beurteilung der Sachkunde durch das Gericht (Pflichtgemäßes Ermessen); BtM-Auswirkungen (erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit)

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 StPO; § 46 StGB; § 21 StGB

1. Wird die Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens mit der Behauptung beanstandet, der gehörte Sachverständige habe wesentliche Anknüpfungstatsachen und Unterlagen unberücksichtigt gelassen, so bedarf es deren vollständiger Mitteilung, um dem Revisionsgericht die Prüfung zu ermöglichen, ob die Einwände gegen die Sachkunde des gehörten Sachverständigen begründet sind.

2. Die Beurteilung der Sachkunde des Gutachters steht im pflichtgemäßen Ermessens des Tatrichters (BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 2 Sachkunde 1). Der Sachverständige hat dabei in eigener Verantwortung über die Heranziehung von Unterlagen und den Umfang seiner Erhebung zu entscheiden (BGHSt 44, 26, 33). Gegebenenfalls kann das Gericht zu weiterer Sachaufklärung gedrängt sein.

3. Bei der Beschaffungskriminalität eines Heroinabhängigen kann die Angst vor nahe bevorstehenden körperlichen Entzugserscheinungen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit begründen (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 7, 9, 11). Entscheidend kommt es dabei aber darauf an, ob die Tatbegehung maßgeblich von der Angst vor Entzugserscheinungen bestimmt gewesen ist.


Entscheidung

BGH 1 StR 325/00 - Beschluß v. 5. September 2000 (LG Mannheim)

Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für den Umfang der Aufklärungspflicht; Ablehnung eines Beweisantrages wegen fehlender Erforderlichkeit (Zeuge / Ladung im Ausland); Beweisantizipation; Beschleunigungsgrundsatz; Auskunftsverweigerungsrecht; Unerreichbarkeit eines Auslandszeugen; Videokonferenz; Kommissarische Vernehmung

§ 244 Abs. 2, Abs. 5 Satz 2 StPO; § 52 StPO; § 55 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 247a StPO

1. Zur Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für den Umfang der Aufklärungspflicht. (BGHR)

2. Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abgelehnt werden, wenn dessen Vernehmung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist, ohne daß die Erreichbarkeit dieses Zeugen geprüft werden müßte (BGHSt 40, 60, 62). Dabei ist es dem Tatrichter erlaubt und aufgegeben, das bisherige Ergebnis der Beweisaufnahme zugrunde zu legen. Das sonst im Beweisantragsrecht weitgehend herrschende Verbot einer Beweisantizipation gilt nicht (BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 2, 3, 6). (Bearbeiter)

3. Der Umfang der Aufklärungspflicht kann im Einzelfall wegen des Gebotes, das Verfahren beschleunigt und mit prozeßwirtschaftlich vertretbarem Aufwand zu erledigen, unterschiedlich weit sein. Gewicht der Strafsache sowie Bedeutung und Beweiswert des weiteren Beweismittels sind gegenüber den Nachteilen der Verfahrensverzögerungen abzuwägen, weshalb bei Anschuldigungen von Gewicht einer für den Schuldspruch relevanten weiteren Sachaufklärung eher Vorrang zukommt. Dies spielt vor allem bei schwer erreichbaren, weit entfernt wohnenden oder sich im Ausland aufhaltenden Zeugen ein Rolle. (Bearbeiter)

4. Aus dem Umstand, daß das Gericht sich um die Ladung eines Zeugen bemüht hat, kann nicht hergeleitet werden, daß sie sich aus Gründen der Aufklärungspflicht selbst gezwungen sah, den Zeugen zu hören. Der Vorsitzende und das Gericht sind - unbeschadet der Aufklärungspflicht - jederzeit befugt, auf die Ladung solcher Zeugen hinzuwirken oder im Freibeweis die Möglichkeit der Erreichbarkeit zu prüfen, bei denen ungewiß, ja sogar zweifelhaft ist, ob diese sachdienliche Angaben machen können (BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 5 und 6; BGH NStZ 1994, 554). Keineswegs bindet sich das Gericht damit selbst hinsichtlich der weiteren Beurteilung des Beweiswerts des Beweismittels und der Frage, ob dem Beweisantrag unter Würdigung des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme endgültig nachgegangen werden muß. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 257/00 - Urteil v. 21. September 2000 (LG Mosbach)

Anwesenheit; Entfernung des Angeklagten; Widerspruch eines Betreuers; Sexueller Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen; Sexuelle Handlungen; Teilaufhebung

§ 230 StPO; § 247 Satz 1 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; § 179 StGB; § 52 StPO; § 1896, § 1897 BGB

1. Eine Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 Satz 1 StPO kann nicht darauf gestützt werden, daß ein gemäß § 1897 BGB bestellter Betreuer der Vernehmung des Betreuten in Anwesenheit des Angeklagten widersprochen hat. (BGHSt)

2. Zur Vernehmung geistig behinderter Zeugen. (Bearbeiter)

3. § 247 Satz 1 StPO ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und sein Anwendungsbereich streng auf den Wortlaut des Gesetzes zu beschränken; der zeitweise Ausschluß des Angeklagten ist stets durch Gerichtsbeschluß anzuordnen, der sich nicht auf eine bloß förmliche Begründung beschränken darf. (Bearbeiter)

4. Bleibt wegen des Fehlens einer ausreichenden Begründung zweifelhaft, ob das Gericht von zulässigen Erwägungen ausgegangen ist, so ist der unbedingte Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO gegeben (BGHSt 22, 18, 20). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 5 StR 150/00 - Beschluß v. 7. November 2000 (LG Hamburg)

Öffentlichkeit des Verfahrens; Anordnung der Entfernung eines möglichen Zeugen; Verwirkung; Widerspruchslösung; Aufklärungspflicht; Aufklärungsrüge

§ 58 StPO; § 238 Abs. 1, 2 StPO § 338 Nr. 6 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

1. Für die Anwendung des § 58 StPO ist es unerheblich, ob der betroffene Zuhörer zu diesem Zeitpunkt bereits als Zeuge zur Hauptverhandlung geladen worden ist; ohne Bedeutung bleibt auch, ob er später tatsächlich gehört wird. Es genügt, daß der Zuhörer nach vorläufiger tatrichterlicher Auffassung als Zeuge in Betracht kommt (BGHSt 3, 386, 388).

2. Dabei steht nach § 238 Abs. 1 StPO zunächst dem zuständigen Vorsitzenden bei der Frage, ob ein Zuhörer als Zeuge in Betracht kommt, ein Beurteilungsspielraum zu. Dieser findet allerdings seine Grenze wenn der Ausschluß eines Zuhörers aufgrund sachwidriger Erwägungen angeordnet wurde. Das wäre etwa der Fall, wenn sich nachweisen ließe, daß der Vorsitzende unliebsame und kritische Zuhörer allein unter dem Vorwand aus der Hauptverhandlung entfernt hat, sie später möglicherweise noch als Zeugen hören zu wollen, solches aber zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch nicht einmal in Betracht gezogen hat.

3. Im übrigen liegt nahe, daß, vor der erhobenen Revisionsrügen bezüglich §§ 58, 338 Nr. 6 StPO entsprechende Beanstandungen nach § 238 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung unerläßlich gewesen wären.


Entscheidung

BGH 1 StR 458/00 - Beschluß v. 7. November 2000 (LG Heilbronn)

Verfahrensrüge; Verwertungsverbot bei vorheriger Vernehmung als Beschuldigter; Ermittlungsrichterin; Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrecht

§ 252 StPO; § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO

1. Das Gericht kann bei einer Aussageverweigerung in der Hauptverhandlung gemäß § 52 Abs. 1 Nr. StPO die früheren Angaben des Zeugen vor der Ermittlungsrichterin nicht mehr verwerten, wenn er diese Aussage damals nicht als Zeuge, sondern als Beschuldigter gemacht hatte (BGHSt 10, 186, 190; 42, 391, 398).

2. Daran ändert nichts, daß die Vernehmungsrichterin den Zeugen bei seiner Beschuldigtenvernehmung nicht nur als Beschuldigten, sondern auch "über Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrecht" belehrt und "mit besonderem Nachdruck vor Augen geführt" hat, daß er im Verfahren auch als Zeuge in Betracht komme" (vgl. BGHR StPO § 252 Verwertungsverbot 6).


Entscheidung

BGH 2 ARs 280/00 (2 AR 182/00) - Beschluß v. 18. Oktober 2000

Antrag einer Privatperson auf Bestimmung eines zuständigen Gerichts (Staatsanwaltschaft) durch den BGH in der Leuna - Elf - Aquitaine - Affäre; Unanfechtbarkeit des Beschlusses nach § 13a StPO

§ 13a StPO


Entscheidung

BGH 3 StR 426/00 - Beschluß v. 18. Oktober 2000 (LG Oldenburg)

Verschlechterungsverbot; Adhäsionsverfahren

§§ 358 Abs. 2; 403 ff. StPO

In dem erstmaligen Zuspruch eines Anspruchs auf Schmerzensgeld im Adhäsionsverfahren, nachdem die Sache auf die Revision des Angeklagten hin aufgehoben und zurückverwiesen wurde, liegt kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot.