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HRR-Strafrecht
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2000
1. Jahrgang
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Glaubwürdigkeit; Beweiswürdigung; Überzeugungsbildung; Unbeteiligter Zeuge; Aussageanalyse; Zeugenpsychologie - § 261 StPO; § 48 StPO
von Karsten Koch, Richter am Amtsgericht Offenbach am Main
"Der Angeklagte hat die Tat bestritten. Seine Angaben werden jedoch widerlegt durch die Aussage des unbeteiligten Zeugen, der glaubhaft bekundet hat, ..."- das ist eine Formulierung, wie man sie täglich in zahllosen Urteilen findet. Die Aussage des unbeteiligten Tatzeugen gilt in der Praxis der Gerichte als eines der am sichersten erscheinenden Beweismittel und war dies eigentlich auch für mich in meinen jetzt mehr als 26 Jahren als Staatsanwalt und Strafrichter. Eine Erfahrung der letzten Woche hat jedoch mein Weltbild erschüttert und lässt mich nachträglich an vielem zweifeln, was ich in diesen Jahren beurteilt, beantragt und entschieden habe.
Was ist passiert? Warum zweifle ich plötzlich an meiner von mir bis dahin so hoch geschätzten Fähigkeit, Aussagen von Zeuginnen und Zeugen zu analysieren und herauszufinden, was glaubwürdig und glaubhaft ist und was nicht?
Es war eigentlich ein ganz normales Strafverfahren. Es gab einen Vorfall im Straßenverkehr (kein Unfall), an dem ein PKW-Fahrer und ein Fußgänger beteiligt waren. Und es gab vier völlig unbeteiligte erwachsene Zeugen (alle um die 50 Jahre alt), die diesen Vorfall beobachtet hatten. Vier leitende Angestellte (Abteilungsleiter) einer Bank, die gemeinsam auf dem Weg zu einem Tagungslokal waren. Drei von Ihnen hatten bereits eine Straße überquert und warteten gemeinsam auf den vierten, der noch auf der anderen Straßenseite stand. Das zu beobachtende Geschehen spielte sich ca. 15 bis 20 Meter von den drei Männern ab, die die Straße bereits überquert hatten, der vierte wartete ca. 15 bis 20 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite auf das Umschalten der Fußgängerampel. Alle vier standen mit Blickrichtung zum Ort des Geschehens, ihre Sicht war nicht durch irgendwelche Gegenstände oder andere Umstände beeinträchtigt.
Unmittelbar nach dem Vorfall wurden die vier Zeugen angesprochen und gefragt, ob sie den Vorfall beobachtet hätten und bereit wären, darüber als Zeugen auszusagen. Alle vier bejahten das und setzten dann ihren Weg fort. Wegen der unmittelbar bevorstehenden Tagung sprachen sie dann nicht mehr über ihre Beobachtungen. Am nächsten Tag schrieben sie - jeweils unabhängig voneinander - auf, was sie beobachtet hatten. Diese schriftlichen Darstellungen gelangten auch alsbald zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten.
Schon auf Grund dieser schriftlichen Äußerungen war es schwer zu glauben, dass es sich hierbei tatsächlich um vier Zeugen ein und desselben Vorganges handeln sollte. Zwar berichteten alle ein Geschehen, bei dem einen PKW und ein Fußgänger eine Rolle spielten. Darüber hinaus gab es allerdings recht wenig Gemeinsamkeiten in der Darstellung dessen, was sich abgespielt hatte und von den Zeugen beobachtet worden war.
Vor der Hauptverhandlung war ich der festen Überzeugung, die Widersprüche würden sich im Verlaufe der Vernehmungen schon aufklären und es wäre sicher möglich, am Ende der Verhandlung zu verlässlichen Feststellungen zu kommen. Schließlich hatte ich ja - und wann hat man das schon? - vier absolute unbeteiligte Augenzeugen. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass es neben diesen vier Darstellungen des Geschehens noch zwei weitere gab: die des Fußgängers (Anzeigeerstatters) und die des Autofahrers (Angeklagten).
Aus dieser Alltagssituation des Strafrichters heraus entwickelte sich dann eine Verhandlung, wie sie lehrreicher nicht hätte sein können.
Ich nehme das Ergebnis vorweg: Feststellungen konnten eigentlich gar keine getroffen werden. Das einzige, woran kein Zweifel bestand, war, dass der angeklagte Autofahrer und der Fußgänger an dem Vorfall beteiligt waren. Was sich allerdings tatsächlich abgespielt hatte, war auch mit Hilfe der vier Augenzeugen nicht aufzuklären. Bislang hatte ich (nach meiner - bis dahin möglicherweise falschen - Überzeugung zu Recht) darauf vertraut, dass es mit den bekannten Instrumenten der Aussageanalyse ganz gut möglich sei, aus einer Aussage das herauszufiltern, was von dem erlebten Geschehen richtig und zuverlässig im Gedächtnis abgespeichert worden ist. Schließlich hatte ich dieses Instrumentarium in den vielen Jahren meiner Berufserfahrung häufig genug angewendet und war fest davon überzeugt, damit immer einigermaßen richtige Ergebnisse gefunden zu haben.
Letzte Woche hat mich mein gesamtes Erfahrungswissen im Stich gelassen. Jeder der Zeugen schilderte den Vorfall so, wie er dies bereits am nächsten Tag schriftlich getan hatte. Die sorgfältige Untersuchung der Aussagen auf die bekannten Glaubwürdigkeitszeichen der Motivation und die Realitätskriterien half mir ebenfalls nicht weiter. Es war wie verhext: Alle Zeugen waren in gleicher Weise glaubwürdig und alle Aussagen waren in gleicher Weise glaubhaft. Ich habe jedem der Zeugen ganz am Ende der Vernehmung die jeweils anderen Versionen vorgetragen. Darauf bekam ich von jedem die freundliche und überzeugend vorgetragenen Antwort, wenn einer das beobachtet habe, müsse er wohl "in einem anderen Film" gewesen sein.
Natürlich wurde der Angeklagte - auf Antrag der Staatsanwaltschaft - freigesprochen. Aber das ist nicht das Problem. Was mich seitdem umtreibt ist die Frage: Was wäre eigentlich passiert, wenn es nur einen "unbeteiligten Augenzeugen" gegeben hätte und wenn dieser Zeuge die Darstellung des Anzeigeerstatters bestätigt hätte? Wäre dann der Angeklagte nicht selbstverständlich verurteilt worden mit der üblichen Begründung, der Zeuge habe dies und jenes glaubhaft ausgesagt und es gebe nicht den geringsten Anlass, an der Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln?
Um es auf den Punkt zu bringen: Jede einzelne der vier unterschiedlichen Aussagen erschien mir für sich betrachtet so glaubhaft, dass ich wahrscheinlich guten Gewissens eine Verurteilung darauf gestützte hätte.
Wir alle wissen, wie problematisch es ist, Feststellungen nur auf die Aussagen von Zeugen zu stützen. Aber wir alle tun das trotzdem jeden Tag. Und wir haben dabei regelmäßig auch ein gutes Gewissen - jedenfalls dann, wenn wir uns auf die Aussage eines unbeteiligten Augenzeugen stützen, an dessen Beobachtungsfähigkeit und dessen Fähigkeit, ein Erlebnis einigermaßen zutreffend zu schildern, eigentlich kein Zweifel besteht. Und natürlich haben wir alle genug psychologische Erfahrung und wissen, wie man mit den Mitteln der Aussageanalyse herausfinden kann, was an einer Aussage richtig ist und was nicht. Oder ist das vielleicht eben doch nur ein frommer Wunsch?
Trotzdem: Ich werde mich jetzt noch einmal sehr intensiv mit den Problemen der Aussageanalyse und der Zeugenpsychologie beschäftigen. Denn ich kann nur hoffen, dass ich immer noch nicht genug davon verstehe.