HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2025
26. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Bei jedem Schritt und jedem Wort: Die Allgegenwärtigkeit digitaler Beweismittel und ihre Heimtücken

Von RA Dr. iur. h.c. Gerhard Strate, Hamburg[*]

Bevor ich mich den Besonderheiten der Beweisführung mit digitalen Beweismitteln[1] widme, sei hier zur Aufmunterung zunächst eine kleine literarische Betrachtung unserer akuten Alltagswelt (einschließlich der herkömmlichen Kriminalliteratur) vorangestellt:

Die Fernsehkrimis, die via "Tatort" bei uns noch laufen, sind nahezu durchweg an der Figur des Meisterermittlers orientiert und deshalb eigentlich obsolet. Denn die Figur des Meisterermittlers hat weitgehend ausgedient. Die geniale Logikanwendung eines Sherlock Holmes, Inspektor Columbos zermürbende Befragungstechnik oder Hercule Poirots Akribie sind heute nicht mehr notwendig, um aus wenigen verfügbaren Spuren die Lösung eines Falles herauszudestillieren. Ihre schillernde Persönlichkeit zerfällt zu Staub angesichts der wichtigsten Frage, die einen modernen Ermittler umtreibt: "Haben wir die Verbindungsdaten des Verdächtigen schon ausgelesen?" – An dieser Stelle folgt die erwartbare Antwort: "Anfrage beim Provider läuft!" Nicht selten wird die Auskunft von einem genervten Stöhnen begleitet, das die latente Überforderung des Ermittlers demonstrieren soll. Seine psychischen Probleme bilden fast immer den zweiten Erzählstrang des zeitgenössischen Krimis. Denn dank modernster Technik ist der eigentliche Kriminalfall schnell auserzählt: Die Ermittlungsarbeit besteht im Zusammenführen aller verfügbaren technischen Daten. Neben den Anruflisten sind dies für gewöhnlich Bilder aus Überwachungskameras und Dashcams, Blitzerfotos des Fluchtwagens, gehackte Festplatten, Chatprotokolle, Kreditkarten- und Kontodaten sowie Krankenakten, zur Not auch aus dem Bekanntenkreis des Verdächtigen. Hinzu kommen untrügliche DNA-Spuren, zügig ausgewertet von einem merkwürdigen Pathologen, dessen notorische Seltsamkeit sich wie ein denunziatorischer roter Faden durch sämtliche Drehbücher fast aller Serien zieht. Auch diese – für die verdienten Angehörigen des Berufsstands ärgerliche – Tendenz ist ein reiner Zeitfüller. Denn allein die Technik digitalen Dechiffrierens sorgt dafür, dass jeder Mensch heute auch in der Realität mit jedem Schritt und jedem Wort eine Datenspur von der Breite des Grand Canyons hinterlässt: Mit dem Fitnesstracker beim Training den eigenen Gesundheitszustand aufgezeichnet. Wo die Daten genau gespeichert werden? Wer weiß das schon! Ist das wichtig? Anschließend Kaffee und Kuchen, beiläufig genossen und gedankenlos mit Karte bezahlt. Sodann über die Smart-Home-App den eigenen Kühlschrankinhalt gecheckt, digitale Einkaufsliste abgerufen und daraufhin mit eingeschaltetem Smartphone zum Supermarkt gefahren. Kreditkartenabrechnung folgt. Wer sein Leben in die große Cloud der allzu Technikgläubigen verlagert, muss sich über die Folgen nicht wundern. "Ich habe aber doch nichts zu verbergen!", meinen rechtschaffene Zeitgenossen dazu oft. Spätestens wenn der eigene Kühlschrank seinen Inhalt direkt an die Krankenkasse verpetzt und daraufhin wegen Salami, Weißwein und Tiramisù die Beitragserhöhung ins Haus steht, werden sie anders darüber denken.

Doch Spaß beiseite: Die Allgegenwart digitaler Spuren, die mittlerweile jeder Mensch wie einen Schweif hinter sich herzieht, schafft für die Strafverfolgungsbehörden Erleichterung, ist aber auch eine Verführung. Denn die Nutzung dieser zurückgelassenen digitalen Spuren ist, selbst wenn sie nicht mehr unmittelbar präsent sind, sondern rekonstruiert werden müssen, immer auch ein Eingriff in Grundrechte. Das wird bei den Strafverfolgungsbehörden (und den Gerichten) immer wieder vergessen. Durchsuchungen bei dem Beschuldigten führen stets als Erstes zur Frage nach dem "Handy", dem Mobiltelefon (häufig sogar mehrere) des Beschuldigten. Handelt es sich bei dem "Handy" um ein Smartphone (also ein Mobiltelefon mit umfangreichen Computerfunktionen), so eröffnet dessen Datenspur den Zugriff auf die E-Mails, das Eindringen in zugangsgeschützte Bereiche im Internet und Chat-Rooms; durch die Feststellung der IP-Adresse wird das sog. IP-Tracking möglich gemacht, ebenso Funkzellenabfragen, die Erhebung von Standortdaten etc. etc.

Der Zugriff auf das Smartphone bei der Durchsuchung ist ein ganz einfacher Akt der Wegnahme und die Simplizität dieses Vorgangs verführt die Strafverfolgungsbehörden auch zu einem ebenso simplen Umgang mit den auf diesem Datenträger gespeicherten Daten. Die vorherrschende Einstellung im Umgang mit diesem Datenträger lässt sich in zwei Halbsätzen zusammenfassen: "Was wir haben, haben wir!" – und ebenso zeigt sich die Tendenz, nichts der Kenntnisnahme der Ermittler zu entziehen, und das auch dann und schon gar nicht, wenn der Prozess des digitalen Dechiffrierens bei genauerer Betrachtung einige blinde Flecken offenbart! Diese blinden Flecken hängen allerdings zusammen mit einigen Vorgaben unserer Strafprozessordnung, über die – als Ausprägungen des immer wieder lästigen Grundrechtskatalogs, vor allen Dingen des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sich herleitenden Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – gerne hinweggegangen wird.

Um sich seiner zu erinnern, sollen hier noch einmal einige Grundelemente unseres Durchsuchungs- und Beschlagnahmerechts vor Augen geführt werden:

Werden im Rahmen einer Durchsuchung "Papiere", d.h. Schriftgut wie Akten, Bilanzen, Dateien, Briefe, allgemeine Schriftstücke oder auch Datenträger (mit ausdruckbaren Dateien)[2] aufgefunden, so sind sie zunächst gemäß § 110 StPO durchzusehen, um eine Entscheidung darüber herbeizuführen, welche Unterlagen zurückzugeben sind und für welche andererseits die Voraussetzungen für eine Beschlagnahme (§ 94 StPO) gegeben sind. Ist, wie häufig, wegen des Umfangs der Papiere eine derartige Sichtung nicht sogleich an Ort und Stelle möglich, so können sie zur Durchsicht auf die Amtsstelle der Ermittlungsbehörde mitgenommen werden. Dabei ist besonders zu betonen, dass diese Sicherstellung von Schriftgut und elektronischen Datenträgern noch keine Beschlagnahme darstellt, sondern Teil der Durchsuchung ist[3].

Durchsuchung und Beschlagnahme sind getrennte Entscheidungsgegenstände[4]. Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO, bei dem die im Rahmen der Durchsuchung gefundenen und zur Ermittlungsbehörde verbrachten Gegenstände auf ihre Beweiseignung und Beschlagnahmefähigkeit überprüft werden, bewegt sich zwischen diesen Maßnahmen. Eine vorab mit dem Durchsuchungsbeschluss verbundene Anordnung der "Beschlagnahme" ist, soweit dabei noch keine genaue Konkretisierung der erfassten Gegenstände, sondern allein eine gattungsmäßige Umschreibung erfolgt, nur eine Richtlinie für die Durchsuchung[5]. Sie ersetzt die gesetzlich gebotene richterliche Beschlagnahme nach Abschluss der Durchsicht nicht. Das Verfahrensstadium der Durchsicht gemäß § 110 StPO

" … ist in jedem Fall der endgültigen Entscheidung über den Umfang der Beschlagnahme vorgelagert"[6]

Diese Entscheidung über den endgültigen Umfang der Beschlagnahme hat regelmäßig allein das zuständige Gericht zu treffen (§ 98 Abs. 1 Satz 1 StPO)[7]. Eine Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft kommt nur bei Gefahr im Verzuge in Betracht (§ 98 Abs. 1 Satz 1 StPO). Erst durch die richterliche Beschlagnahme werden die vorläufig gesicherten Urkunden und Dateien zu einem im Prozess verwendungsfähigen Beweisstück[9].

Ein Verständnis für den begrenzten Zweck des Sichtungsverfahrens und der Notwendigkeit, erst im Rahmen einer richterlichen Beschlagnahmeentscheidung über die Beweismittelqualität eines vorläufig gesicherten "Gegenstands" zu befinden, hat sich in der Strafjustiz noch nicht überall hin verbreitet. Erst kürzlich hat eine Kammer des Landgerichts Hamburg ein "verbreitetes Fehlverständnis" diagnostiziert, nachdem das Sichtungsverfahren in einer Strafsache selbst viereinhalb Jahre nach der Durchsuchung noch nicht mit einem Antrag auf Beschlagnahme der relevanten Unterlagen abgeschlossen worden war[10]. Von demselben Fehlverständnis geleitet war auch das Agieren einer Strafkammer am Landgericht Erfurt in dem dort anhängig gewesenen Verfahren gegen einen Amtsrichter, dem der Vorwurf der Rechtsbeugung gemacht wurde. Trotz mehrfacher Hinweise des Verteidigers auf die nicht erfolgte Beschlagnahme der in der Anklage benannten Beweismittel schloss die zuständige Strafkammer das Eröffnungsverfahren erst einmal am 14.08.2022 mit einer Zulassung der Anklage ab. Das weitere Insistieren des Verteidigers, dass eine Anklage auf der Basis bloß "gesichteter", aber nicht beschlagnahmter Dateien der Rechtslage nicht entsprach, führte schließlich dazu, dass das Landgericht mit Beschluss vom 13.03.2023, also ein halbes Jahr nach der Eröffnung des Hauptverfahrens, alle von der Staatsanwaltschaft in der Anklage benannten Dokumente dann doch kurzerhand beschlagnahmte. Zum Zeitpunkt der Anklagezulassung waren alle diese Dokumente noch gar keine Beweismittel ("amtlich verwahrte Beweisstücke" im Sinne des § 147 Abs. 1 StPO).

Und ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang anzusprechen: eigentlich sind nach Abschluss der Sichtung die für das Strafverfahren nicht benötigten "Gegenstände" an den Betroffenen der Durchsuchung zurückzugeben oder zu löschen. So auch unumwunden der 2. Senat des

Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 12.04.2005:

"Der begrenzte Zweck der Datenerhebung gebietet jedenfalls grundsätzlich die Löschung aller nicht zur Zweckerreichung erforderlichen kopierten Daten. Um Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Verfahrensrechte nicht fruchtlos bleiben zu lassen, gebietet das Grundgesetz in bestimmten Fällen ein Verwertungsverbot."[11]

Diese Vorgaben werden nicht immer ernst genommen. In einem Verfahren, in dem ein Polizeibeamter zunächst nur als Zeuge gehört worden war – später wurde gegen ihn auch wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz ermittelt; alle Verfahren wurden schließlich jedoch mangels Tatverdachts eingestellt – kam es zur Auslesung seines Mobiltelefons. Hierbei wurden Inhalte (Chatverläufe mit einem Kollegen) festgestellt, die nichts mit den ursprünglichen Ermittlungen zu tun hatten, wohl aber angeblich den Verdacht begründeten, der Polizeibeamte stehe mit seinen Überzeugungen nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Alle Widersprüche gegen die Verwertung dieser allein dem strafprozessualen Sichtungsverfahren entnommenen Gesprächsinhalte halfen nichts. Der Beamte wurde aus seinem Dienst entfernt. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht hielten diese Entscheidung[12]. Das Oberverwaltungsgericht sah in den fraglichen Chatverläufen einen "Zufallsfund", dessen Verwertung durch die strafprozessualen Normen nicht ausgeschlossen sei (im Hinblick auf die Vorschrift des § 49 Abs. 4 BeamtStG).

Leider wird das Bundesverfassungsgericht häufig nicht beim Wort genommen. In seinem Beschluss vom 16.06.2009 ist es unmissverständlich:

"Die Ermittlungsmethoden der Strafprozessordnung sind zwar im Hinblick auf die Datenerhebung und den Datenumfang weit gefasst. Der den Datenzugriff begrenzende Verwendungszweck ist aber unter Beachtung des Normzusammenhangs, in welchen die §§ 94 ff. StPO eingebettet sind (vgl. § 152 Abs. 2, § 155 Abs. 1, § 160, § 170, § 244 Abs. 2, § 264 StPO), hinreichend präzise vorgegeben. Die jeweiligen Eingriffsgrundlagen stehen unter einer strengen Begrenzung auf den Ermittlungszweck. Strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen sind nur zulässig, soweit dies zur Vorbereitung der anstehenden Entscheidungen im Hinblick auf die in Frage stehende Straftat nötig ist. Auf die Ermittlung anderer Lebenssachverhalte und Verhältnisse erstrecken sich die Eingriffsermächtigungen nicht (BVerfGE 113, 29 <52>; vgl. auch BVerfGE 115, 166 <191>)."[13]

Das ist im Ergebnis völlig klar: Die nur gesichteten, aber nicht für das Strafverfahren beschlagnahmten Unterlagen (und Dateien) dürfen mangels einer für ihre Erhebung bestehenden Eingriffsgrundlage nicht anderweitig Verwendung finden. Das ist eine Aussage, die an der unmittelbaren Bindungswirkung des §  31 Abs. 1 BVerfGG (jetzt Art. 94 Abs. 4 S. 1 GG) teilhat. Warum wird das ignoriert?

Wer sich schon längere Zeit mit der Justiz in allen ihren Facetten beschäftigt, hat gelernt, dass man – selbst in einem Rechtsstaat – immer nur ein bisschen, nie alles erreichen kann. Daran gewöhnen sollten wir uns aber nicht.


[*] Der Beitrag ist ein Vorabauszug aus der Festschrift zu Ehren des 70. Geburtstages von RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, der die HRRS als ständiger Mitarbeiter seit Jahrzehnten unterstützt. Auch der Herausgeber und die Redaktion der HRRS möchten Ralf Neuhaus auf diesem Wege herzlich für sein Engagement danken. Die von RA Lars A. Brögeler, Prof. Dr. Holm Putzke und Prof. Dr. Jörg Scheinfeld herausgegebene Festschrift wird im November 2025 im Verlag Nomos unter dem Titel "Strafverteidigung in Theorie und Praxis" erscheinen.

[1] Eine sehr instruktive Einführung in die "Digitale Forensik" findet sich bei Neuhaus/Artkämper/Weise, Kriminaltechnik und Beweisführung, 2. Aufl., S. 103 ff.

[2] Die Anwendung der §§ 94 ff. StPO auf Datenträger wurde erstmals vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 12.05.2005 gutgeheißen. Der Wortsinn des § 94 StPO gestatte es, als "Gegenstand" des Zugriffs auch nichtkörperliche Gegenstände zu verstehen (BVerfGE 113, 29, 50 = HRRS 2005 Nr. 549).

[3] Tsambikakis in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., Rdnr. 28 zu § 110.

[4] BVerfGK 1, 126, 133; BVerfGK 15, 225, 236.

[5] BVerfGK 1, 126, 133; BVerfGK 15, 225, 236.

[6] BVerfGE 113, 29, 56 = HRRS 2005 Nr. 549.

[7] Vgl. hierzu auch – den klaren Gesetzeswortlaut bekräftigend – LG Oldenburg in wistra 1987, 38 und OLG Jena in NJW 2001, 1290, 1293; so inzwischen auch OLG Koblenz in NZWiSt 2021, 386, 389 und BGH in NZWiSt 2022, 326; 328 = HRRS 2022 Nr. 240.

[8] OLG Jena a.a.O. 1294; ebenso Hegmann in Graf (Hrsg.), StPO, 5. Aufl., München 2025, Rdnr. 10 zu § 110.

[9] LG Hamburg, Beschluss vom 05.06.2025 – 616 Qs 14/25, S. 6.

[10] BVerfGE 113, 29, 58 = HRRS 2005 Nr. 549.

[11] Beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ist zur Zeit die Nichtzulassungsbeschwerde anhängig.

[12] BVerfGE 124, 43, 61 = HRRS 2009 Nr. 800 (meine Hervorhebung).