HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2023
24. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

106. BGH 6 StR 296/21 - Beschluss vom 3. November 2022 (LG Stendal)

BGHSt; „Verfüllung der Tongrube Möckern“; Erkrankung des Ergänzungsschöffens, Höchstdauer einer Unterbrechung der Hauptverhandlung, Hemmung des Fristenlaufs; Beweiserhebungsverbot, Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Verwendung einer nicht geeichten Waage durch einen Sachverständigen, Kontrollwiegungen); Strafzumessung (straffreie Lebensführung des Angeklagten).

§ 228 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO; § 229 Abs. 3 aF StPO; § 192 Abs. 2 GVG; § 261 StPO

1. Ein Ergänzungsrichter oder -schöffe ist auch vor seinem Eintritt in das Quorum (§ 192 Abs. 2 GVG) eine zur Urteilsfindung berufene Person im Sinne von § 229 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO (BGHSt).

2. Ein unter Verwendung einer nicht geeichten Waage erstelltes Gutachten führt nicht dazu, dass es im Rahmen der Überzeugungsbildung überhaupt nicht verwertet werden kann. Vielmehr hat das Tatgericht in freier Beweiswürdigung festzustellen, ob die – gleich auf welchem Weg erlangten – Messergebnisse zutreffen, wobei eine tatsächliche Vermutung bei Verwendung einer geeichten Waage für die Richtigkeit des Ergebnisses spricht. (Bearbeiter)


Entscheidung

24. BGH 3 StR 310/21 – Beschluss vom 19. Oktober 2022 (LG Dresden)

Verständigung (Verbot verfahrensübergreifender „Gesamtlösungen“; Rechtsmittelrücknahme in anderem Verfahren als Inhalt der Verständigung; „bedingte Verständigung“).

§ 154 StPO; § 257c StPO; § 302 StPO; § 55 StGB

1. Das Gesetz schließt grundsätzlich „verfahrensübergreifende Gesamtlösungen“ aus, mithin Zusicherungen oder Absprachen über sonstige Prozesshandlungen, die ein anderes Strafverfahren betreffen. So ist etwa die Verständigung über die Einstellung nicht verfahrensgegenständlicher Taten nach § 154 StPO nicht zulässig.

2. Es ist für sich gesehen nicht zu beanstanden, wenn das Gericht mit seinem Verständigungsvorschlag die künftige Rechtskraft einer anderen Entscheidung mit deren gegebenenfalls einbeziehungsfähigen Vorstrafe in den Blick nimmt, weil bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (§ 55 Abs. 1 StGB) die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe grundsätzlich zwingend geboten ist.


Entscheidung

65. BGH 2 StR 142/21 - Urteil vom 23. November 2022 (LG Frankfurt am Main)

Gegenstand des Urteils (prozessualer Tatbegriff: Maßstab, Kognitionspflicht des Tatgerichts, Nämlichkeit der Tat, Divergenz der Angaben zu Tatzeit und Tatort im Anklagesatz und im Urteil); Zurückweisung eines Beweisantrags (audiovisuelle Vernehmung von Zeugen: nicht-Durchführbarkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen, einzelfallbezogene Prüfung des Beweiswerts der zu erwartenden Aussage, Eignung der Person, verfügbaren technischen Möglichkeiten, hinreichende Gewähr für seine aussagekräftige Einvernahme, Überzeugung des Gerichts von völliger Untauglichkeit einer Aussage, Beitragen zur Sachaufklärung, besonders wichtiges Beweismittel, strenge Maßstäbe, Zurücktreten des Beweiswertes, bisherige Beweisaufnahme, zeitlich und organisatorischer Aufwand, Nachteile durch Verzögerung des Verfahrens, Vernehmung durch den kommissarischen Richter im Wege der Rechtshilfe, Vernehmung eines Zeugen unmittelbar vor dem erkennenden Gericht, Beitragen zur Wahrheitsfindung, pflichtgemäßes Ermessen, eingeschränkte Revisibilität, Unerreichbarkeit eines im Ausland lebenden Zeugen bei Weigerung, kein Erzwingen des Erscheinens möglich); Beweiswürdigung (Inhalt eines Schriftstücks: Erörterung in der Hauptverhandlung, Inhalt unstreitig, kein Beruhen des Urteils auf dem nicht-Verlesen).

§ 264 StPO; § 247a StPO; § 251 StPO; § 244 StPO; § 261 StPO

1. Es kann und darf eine audiovisuelle Vernehmung nicht angeordnet werden, wenn sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht durchführbar ist. Auch ist bei der einzelfallbezogenen Prüfung des Beweiswerts der zu erwartenden Aussage zu berücksichtigen, ob sich der Zeuge seiner Person nach für diese Art der Beweisaufnahme eignet und ob die verfügbaren technischen Möglichkeiten eine hinreichende Gewähr für seine aussagekräftige Einvernahme bieten.

2. Nach § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 StPO kann ein Beweisantrag auf Vernehmung eines im Ausland lebenden und für eine Vernehmung in der Hauptverhandlung unerreichbaren Zeugen auch dann zurückgewiesen werden, wenn der Zeuge zwar für eine im Wege der Rechtshilfe zu bewirkende und grundsätzlich mögliche kommissarische oder audiovisuelle Vernehmung zur Verfügung steht, das Gericht aber aufgrund der besonderen Beweislage schon vorweg zu der Überzeugung gelangt, dass eine aus einer solchen Vernehmung gewonnene Aussage völlig untauglich ist, zur Sachaufklärung beizutragen und die Beweiswürdigung zu beeinflussen.

3. Allerdings ist bei besonderen Beweiskonstellationen, namentlich wenn es sich bei dem benannten Zeugen um ein besonders wichtiges Beweismittel handelt, die Beurteilung von dessen Beweistauglichkeit eher an den strengen Maßstäben auszurichten, die sonst allgemein für die Bewertung eines Beweismittels als völlig ungeeignet anerkannt sind; ein geminderter oder zweifelhafter Beweiswert kann bei einem besonders wichtigen Entlastungszeugen nicht mit völliger Ungeeignetheit gleichgesetzt werden.

4. In diesen Fällen kann aber eine Ungeeignetheit im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 StPO in Betracht kommen, wenn der Beweiswert einer lediglich kommissarischen oder audiovisuellen Vernehmung des Zeugen vor dem Hintergrund des Ergebnisses der bisherigen Beweisaufnahme und des zeitlichen und organisatorischen Aufwands der Ladung und Vernehmung mit den damit verbundenen Nachteilen durch die Verzögerung des Verfahrens in einer Weise zurücktritt, dass jeglicher Erkenntniswert für die Sachaufklärung sicher ausgeschlossen werden kann. Eine Vernehmung durch audiovisuelle Vernehmung oder durch den kommissarischen Richter im Wege der Rechtshilfe ist nämlich nicht sinnvoll, sondern nutzlos und überflüssig – insoweit ist der Zeuge dann ein ungeeignetes Beweismittel –, wenn durch die Verlesung der Niederschrift über die kommissarische Vernehmung oder die audiovisuelle Vernehmung das Beweisergebnis nicht beeinflusst werden kann, weil von vornherein abzusehen ist, dass nur die Vernehmung vor dem erkennenden Gericht die nach Sach- und Beweislage erforderliche Ausschöpfung des Beweismittels gewährleistet.

5. Ob nur eine Vernehmung eines Zeugen unmittelbar vor dem erkennenden Gericht zur Wahrheitsfindung beizutragen vermag, hat der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden. Diese Entscheidung, bei der die wechselseitigen Interessen aller Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen, gegeneinander abzuwägen und miteinander in Ausgleich zu bringen sind und die notwendig eine gewisse Vorauswürdigung des Beweismittels erfordert, unterliegt nur in eingeschränktem Umfang der revisionsrechtlichen Überprüfung. Sie kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nur bei Widersprüchen, Unklarheiten, Verstößen gegen Denk- und Erfahrungssätze oder damit vergleichbaren Mängeln vom Revisionsgericht beanstandet werden.

6. Gegenüber einer audiovisuellen Vernehmung stellt die unmittelbare Befragung eines Zeugen die Regel dar; die audiovisuelle Vernehmung weist im Vergleich zu einer unmittelbaren Einvernahme gewisse Defizite auf. Es ist anerkannt, dass sich eine auf Distanz befragte Person dem durch Frage und Antwort entstehenden Spannungsverhältnis eher wird entziehen können als in direktem Kontakt in ein und demselben Raum, es durch die technisch bedingte Distanz zudem schwieriger sein wird, im Vorfeld der Aussage Hemmungen abzubauen, Vertrauen zu erwecken und sich selbst einen hinreichenden Eindruck von der individuellen Eigenart der Auskunftsperson und ihrem nonverbalen Aussageverhalten zu verschaffen, zumal

wenn der Zeuge der Beteiligung an der Tat verdächtig ist, ihm deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht und er Scheu gezeigt hat, vor der Strafkammer in Deutschland Angaben zu machen, naheliegend auch aus Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung wegen Falschaussage.

7. Ein im Ausland lebender Zeuge, dessen Erscheinen nicht erzwungen werden kann, ist unerreichbar, wenn er sich definitiv weigert, vor dem erkennenden Gericht auszusagen.

8. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Die Wahrung der Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes ist nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen. Diese ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann gegeben, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt.

9. Dass die Angaben zu Tatzeit und Tatort im Anklagesatz einerseits und im Urteil andererseits divergieren, steht der „Nämlichkeit“ der Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO nicht entgegen, wenn die Beschreibung des Tatbildes zeigt, dass derselbe geschichtliche Lebenssachverhalt gemeint ist.

10. Ist der Inhalt eines Schriftstücks in der Hauptverhandlung erörtert worden und steht nicht im Streit, dass das Schriftstück diesen Inhalt hat, so kann schon deshalb das Urteil jedenfalls nicht darauf beruhen, dass das Schriftstück nicht verlesen worden ist.


Entscheidung

96. BGH 4 ARs 13/21 - Beschluss vom 18. August 2022

Anrufung des Bundesgerichtshofs im Auslieferungsverfahren (Vorlegungsvoraussetzungen: Rechtsfrage, Feststellungsinteresse, fallübergreifende Geltung, Verpflichtung des Oberlandesgerichts zu einer Entscheidung über die Unzulässigkeit der Auslieferung auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, ungelöstes kompetenzrechtliches Problem, Weisungsabhängigkeit der Generalstaatsanwaltschaft, Verfahrensrelevanz, über die rechtliche Bedeutung für den Einzelfall hinausgehende Fragen); Antrag auf Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung (Anwendung auf einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wegen der angenommenen Unzulässigkeit einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehl: Auslegung, Zweck der Norm, , präventiver Rechtsschutz, Rechtssicherheit, Gesetzessystematik, kein Einverständnis mit einer vereinfachten Auslieferung, Feststellungsinteresse, Weisungsgebundenheit der Generalstaatsanwaltschaft, Schwebezustand des Auslieferungsverfahrens auf unabsehbare Zeit ohne gerichtliche Entscheidung, keine unzulässige Rechtsfortbildung, Entscheidungspflicht).

§ 42 IRG; § 29 IRG; § 78 IRG

1. Fragen nach dem Vorliegen eines für die Zulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung erforderlichen Feststellungsinteresses sind, wie etwa der Fall der prozessualen Überholung zeigt, regelmäßig von den Umständen des konkreten Einzelfalls abhängig.

2. Die Bewertung, ob ein Feststellungsinteresse besteht, kann sich auch nach Grundsätzen beurteilen, die allgemeine bzw. fallübergreifende Geltung beanspruchen und daher eine Rechtsfrage zum Gegenstand haben.

3. Die erforderliche Verfahrensrelevanz ist schon dann zu bejahen, wenn die Rechtsfrage die Frage der Zulässigkeit einer gerichtlichen Entscheidung betrifft.

4. Fragen, die über die rechtliche Bedeutung für den Einzelfall hinausgehen, ohne dass dieser hierfür eine ausreichende tatsächliche Grundlage bietet, genügen den Vorlegungsvoraussetzungen indes nicht.

5. Weder der Gesetzeswortlaut noch der Zweck des § 29 Abs. 1 IRG stehen einer Auslegung entgegen, dass das Oberlandesgericht über einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auch dann zu entscheiden hat, wenn eine Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung des Verfolgten aufgrund des Europäischen Haftbefehls für unzulässig hält und die Bewilligung daher ablehnen will.

6. Ein Feststellungsinteresse für eine Entscheidung des Oberlandesgerichts ist zu bejahen. Ohne gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung verbliebe das Auslieferungsverfahren auf unabsehbare Zeit in einem „Schwebezustand“, da sich die Generalstaatsanwaltschaft durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union an einer eigenständigen Entscheidung über die Ablehnung der Auslieferung gehindert sieht. Würde die Generalstaatsanwaltschaft ungeachtet dessen die Bewilligung der Auslieferung ablehnen, verbliebe gleichwohl auch innerstaatlich eine Rechtsunsicherheit.


Entscheidung

40. BGH 5 StR 184/22 - Beschluss vom 23. November 2022 (LG Berlin)

Verwerfung der Revision durch Beschluss (Mitteilung der Gründe für die Revision in der Revisionsbegründung; kein Nachschieben von Gründen; rechtliches Gehör).

§ 349 StPO; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK

1. Das System der Revisionsentscheidung im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 2 und 3 StPO baut darauf auf, dass der Beschwerdeführer die Gründe für die Anfechtung eines Urteils bereits in der Revisionsbegründung anführt (§ 344 Abs. 1 StPO). Hierzu nimmt die Revisionsstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift Stellung und legt – sofern sie die Beanstandungen nicht für durchgreifend erachtet – die hierfür maßgebenden Gründe in ihrem Antrag auf Verwerfung des Rechtsmittels näher dar. Folgt das Revisionsgericht einstimmig der Auffassung der Staatsanwaltschaft, so kann es die Revision durch Beschluss verwerfen, ohne dass dieser einer näheren Begründung bedarf.

2. Dieses System kann der Beschwerdeführer nicht dadurch außer Kraft setzen, dass er seine Sachrüge während der Revisionsbegründungsfrist nicht weiter ausführt, seine Einzelbeanstandungen vielmehr erst nachschiebt, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Antragsschrift beim Revisionsgericht eingereicht hat, und dieser damit die Möglichkeit zu der gesetzlich vorgesehenen spezifizierten Stellungnahme nimmt. In diesem Fall hat der Beschwerdeführer gemäß Art. 103 Abs. 1 GG zwar Anspruch darauf, dass das Revisionsgericht seine nachgeschobenen Ausführungen zur Kenntnis nimmt und prüft; er kann jedoch nicht verlangen, dass ihm die Gründe, aus denen seine Beanstandungen für nicht durchgreifend erachtet werden, im Verwerfungsbeschluss mitgeteilt werden.


Entscheidung

11. BGH 1 StR 284/22 - Beschluss vom 13. Dezember 2022 (LG München I)

Ablehnung der Vorführung des Angeklagten zur Revisionshauptverhandlung (Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung; Recht auf ein faires Strafverfahren).

§ 250 Abs. 2 Satz 2 StPO; Art. 6 EMRK; Art. 8 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren

Das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung gemäß Art. 8 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren wird durch die der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie dienende, dieser Entscheidung zugrunde gelegte Bestimmung des § 350 StPO gewahrt.


Entscheidung

42. BGH 5 StR 271/22 - Beschluss vom 7. Dezember 2022 (LG Hamburg)

Keine Bewertung der Gründe für das Aussageverhalten des Zeugen (Zeugnisverweigerungsrecht); strafschärfende Berücksichtigung des Prozessverhaltens des Angeklagten.

§ 52 StPO; § 46 StGB

1. Weder aus der durchgehenden noch aus der nur anfänglichen Zeugnisverweigerung dürfen dem Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen werden. Der unbefangene Gebrauch des Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn ein verweigerungsberechtigter Zeuge die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste.

2. Die bloße Hinnahme einer Falschaussage stellt keinen Strafschärfungsgrund dar, weil der Angeklagte kein Garant der staatlichen Rechtspflege ist.


Entscheidung

25. BGH 3 StR 318/22 – Beschluss vom 15. November 2022 (LG Kleve)

Pflicht zur elektronischen Übermittlung (Revision); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Verschulden: verteidigter Angeklagter; psychische Erkrankung).

§ 32b Abs. 3 StPO; § 32d Satz 2 StPO; § 44 StPO; § 45 StPO; § 341 StPO

Die Vorschrift des § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO richtet sich an Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, diejenige des § 32d Satz 2 StPO an Verteidiger und Rechtsanwälte. Ein Angeklagter ist demgegenüber nicht verpflichtet, seine (persönliche) Erklärungen als elektronisches Dokument einzureichen.


Entscheidung

75. BGH 2 StR 229/21 - Beschluss vom 28. Juni 2022 (LG Aachen)

Einstellung des Verfahrens bei Verfahrenshindernis (Revision: Beschwer, auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen); Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (Vorliegen einer zugelassenen Anklageschrift zu allen Varianten; in exklusiver Alternativität mögliche Sachverhaltsvarianten, Strafbarkeit des Angeklagten); Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Versuch: Beihilfe, unmittelbares Ansetzen); Versuch der Beteiligung (Verabredung zu einem Verbrechen: Beteiligung nur als Gehilfe, prospektive Täter); Entschädigung für andere Strafverfolgungsmaßnahmen (Vollzug der Untersuchungshaft); Ausschluss der Entschädigung (Verursachen der Strafverfolgungsmaßnahmen: strenger Maßstab, wesentlicher Ursachenbeitrag).

§ 206 StPO; § 29a BtMG; § 23 StGB; 27 StGB; § 30 StGB; § 2 StrEG; § 5 StrEG

1. Ein Angeklagter ist zwar durch die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses in der Regel nicht beschwert; etwas anderes kann aber gelten, wenn er auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen ist.

2. Kommen verschiedene Lebenssachverhalte wahlweise in Betracht, kann eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur erfolgen, wenn zu allen Varianten eine zugelassene Anklageschrift vorliegt und die in exklusiver Alternativität möglichen Sachverhaltsvarianten sämtlich eine Strafbarkeit des Angeklagten ergeben.

3. Eine im Vorbereitungsstadium allein strafbare Verabredung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Var. 3 StGB) liegt nicht vor, wenn ein daran Beteiligter nur als Gehilfe tätig werden soll; denn eine Verbrechensverabredung kommt nur unter prospektiven Tätern in Frage.

4. Dem Freigesprochenen steht grundsätzlich nach § 2 Abs. 1 StrEG für den Vollzug der Untersuchungshaft eine Entschädigung zu. Diese ist jedoch nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen, wenn und soweit der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Die Vorschrift enthält einen Ausnahmetatbestand. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen. Der Entschädigungsanspruch entfällt, wenn der Beschuldigte die Eingriffsmaßnahme durch die Tat oder durch sein sonstiges Verhalten herausgefordert hat; er muss in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage anwenden würde, um sich vor Schaden durch die Strafverfolgungsmaßnahme zu schützen. Zum Ausschluss der Entschädigung für eine freiheitsentziehende Maßnahme genügt es nicht, dass der Beschuldigte sich irgendwie verdächtig gemacht hat, vielmehr muss er durch eigenes Verhalten einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur.


Entscheidung

38. BGH StB 51/22 – Beschluss vom 15. November 2022

Notwendige Verteidigung (Unzulässigkeit der sofortigen Beschwerde gegen Bestellung eines Pflichtverteidigers).

§ 140 StPO, § 142 StPO; § 304 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK

Durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers als solche ist ein Beschuldigter im Regelfall nicht beschwert; er kann diese daher grundsätzlich nicht anfechten. Das in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK gewährleistete Recht auf Selbstverteidigung wird durch eine Pflichtverteidigerbestellung in den Fällen der notwendigen Verteidigung nicht berührt.


Entscheidung

31. BGH 3 StR 371/22 – Beschluss vom 16. November 2022 (LG Osnabrück)

Strafrahmenwahl beim Zusammentreffen mehrerer Milderungsgründe (minder schwerer Fall; gesetzlich vertypter Milderungsgrund); Anschlusserklärung bei Nebenklage durch Rechtsanwalt (Einreichung als elektronisches Dokument mit qualifizierter elektronischer Signatur oder auf sicherem Übermittlungsweg).

§ 22 StGB; § 23 StGB; § 49 StGB; § 212 StGB; § 213 StGB; § 32a Abs. 3 StPO; § 32d Satz 2 StPO; § 396 Abs. 1 Satz 1 StPO

Rechtsanwälte müssen seit dem 1. Januar 2022 die Anschlusserklärung bei der Nebenklage den Strafverfolgungsbehörden als elektronisches Dokument übersenden. Da die Erklärung gemäß § 396 Abs. 1 Satz 1 StPO der Schriftform unterliegt, ist sie nach § 32a Abs. 3 StPO außerdem mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Rechtsanwalts zu versehen oder auf einem sicheren Übermittlungsweg einzureichen.


Entscheidung

46. BGH 5 StR 309/22 - Urteil vom 24. November 2022 (LG Dresden)

Beweiswürdigung (Tatgericht; Urteilsgründe; Rechtsfehler; lückenhaft; Zweifelssatz; Indizien; Gesamtwürdigung; Einlassung des Angeklagten; unwiderlegt).

§ 261 StPO

1. Eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung setzt u.a. voraus, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden. Der Grundsatz in dubio pro reo ist dabei keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel. Etwaige den Angeklagten belastenden Indizien müssen zunächst mit vollem Gewicht in die Gesamtwürdigung eingestellt werden. Erst im Anschluss daran kommt – bei danach bestehenden Zweifeln – die Anwendung des Zweifelssatzes in Betracht. Es ist daher fehlerhaft, wenn jedes Indiz einzeln betrachtet und darauf jeweils isoliert der Zweifelssatz angewendet wird.

2. Die Urteilsgründe müssen nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt vielmehr von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab; dieser kann so beschaffen sein, dass sich die Erörterung bestimmter einzelner Beweisumstände erübrigt. Insbesondere wenn das Tatgericht auf Freispruch erkennt oder sich von den Voraussetzungen eines gewichtigeren Straftatbestands nicht überzeugen kann, obwohl nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht, muss es allerdings in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung die ersichtlich wesentlichen, möglicherweise gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen.

3. Die Angaben eines Angeklagten brauchen selbst mit Blick auf den Zweifelsgrundsatz nicht schon deshalb als „unwiderlegt“ den Feststellungen zugrunde gelegt werden, weil es für ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit keine Beweise gibt. Vielmehr sind sie – nicht anders als andere Beweismittel – insbesondere auf ihre Plausibilität und anhand des übrigen Beweisergebnisses auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

4. Einzelne Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, können doch in ihrer Gesamtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatgerichts begründen.


Entscheidung

95. BGH 4 StR 426/22 - Beschluss vom 23. November 2022 (LG Bielefeld)

Verminderte Schuldfähigkeit (Anschließen des Tatgerichts an die Beurteilung eines Sachverständigen: Darstellung in den Urteilsgründen, eindeutige Bewertung des psychischen Zustands durch das Tatgericht erkennbar; festgestellte Sexualdevianz: im Einzelfall eine schwere andere seelische Störung, erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit, Alkoholisierung, Zusammenwirken mehrerer schuldrelevanter Faktoren, Gesamtbetrachtung; Prüfungsmaßstab: mehrstufige Prüfung; Steuerungsunfähigkeit: motivationale Steuerungsfähigkeit, zweckrationales Handeln, geplantes und geordnetes Vorgehen).

§ 21 StGB; § 267 StPO

1. Wenn sich das Tatgericht darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist. Die Urteilsgründe müssen zudem eine eindeutige Bewertung des psychischen Zustands des Angeklagten durch das Tatgericht erkennen lassen.

2. Eine festgestellte Sexualdevianz kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Einzelfall eine schwere andere seelische Störung und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktiken auszeichnen.

3. Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willens- und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei

starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen. Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden. Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt (oder im Einzelfall aufgehoben) sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden.