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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 75

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 229/21, Beschluss v. 28.06.2022, HRRS 2023 Nr. 75


BGH 2 StR 229/21 - Beschluss vom 28. Juni 2022 (LG Aachen)

Einstellung des Verfahrens bei Verfahrenshindernis (Revision: Beschwer, auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen); Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (Vorliegen einer zugelassenen Anklageschrift zu allen Varianten; in exklusiver Alternativität mögliche Sachverhaltsvarianten, Strafbarkeit des Angeklagten); Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Versuch: Beihilfe, unmittelbares Ansetzen); Versuch der Beteiligung (Verabredung zu einem Verbrechen: Beteiligung nur als Gehilfe, prospektive Täter); Entschädigung für andere Strafverfolgungsmaßnahmen (Vollzug der Untersuchungshaft); Ausschluss der Entschädigung (Verursachen der Strafverfolgungsmaßnahmen: strenger Maßstab, wesentlicher Ursachenbeitrag).

§ 206 StPO; § 29a BtMG; § 23 StGB; 27 StGB; § 30 StGB; § 2 StrEG; § 5 StrEG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Angeklagter ist zwar durch die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses in der Regel nicht beschwert; etwas anderes kann aber gelten, wenn er auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen ist.

2. Kommen verschiedene Lebenssachverhalte wahlweise in Betracht, kann eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur erfolgen, wenn zu allen Varianten eine zugelassene Anklageschrift vorliegt und die in exklusiver Alternativität möglichen Sachverhaltsvarianten sämtlich eine Strafbarkeit des Angeklagten ergeben.

3. Eine im Vorbereitungsstadium allein strafbare Verabredung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Var. 3 StGB) liegt nicht vor, wenn ein daran Beteiligter nur als Gehilfe tätig werden soll; denn eine Verbrechensverabredung kommt nur unter prospektiven Tätern in Frage.

4. Dem Freigesprochenen steht grundsätzlich nach § 2 Abs. 1 StrEG für den Vollzug der Untersuchungshaft eine Entschädigung zu. Diese ist jedoch nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen, wenn und soweit der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Die Vorschrift enthält einen Ausnahmetatbestand. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen. Der Entschädigungsanspruch entfällt, wenn der Beschuldigte die Eingriffsmaßnahme durch die Tat oder durch sein sonstiges Verhalten herausgefordert hat; er muss in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage anwenden würde, um sich vor Schaden durch die Strafverfolgungsmaßnahme zu schützen. Zum Ausschluss der Entschädigung für eine freiheitsentziehende Maßnahme genügt es nicht, dass der Beschuldigte sich irgendwie verdächtig gemacht hat, vielmehr muss er durch eigenes Verhalten einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 16. Februar 2021, soweit es ihn betrifft, dahin geändert, dass der Angeklagte freigesprochen wird.

2. Der Staatskasse fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten zur Last.

3. Die Staatskasse ist nicht verpflichtet, den Angeklagten für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen zu entschädigen.

Gründe

Das Landgericht hat das Verfahren gegen den Angeklagten wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt. Hiergegen richtet sich seine auf die Sachrüge gestützte Revision mit dem Ziel des Freispruchs. Das Rechtsmittel ist begründet. Soweit der Angeklagte eine Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft erstrebt, hat sein Antrag jedoch keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der frühere Mitangeklagte M. führte im Herbst 2018 in einem Wohnhaus in S. Renovierungsarbeiten aus. Dabei trug er Gerätschaften in das erste und zweite Obergeschoß, die zum Aufbau einer Cannabisplantage dienen sollten. Der Angeklagte verpflichtete sich zu einem nicht bekannten Zeitpunkt vor dem 12. Dezember 2018 dazu, dort mindestens einen Temperaturregler einzubauen. Er wusste, dass dies dem Betrieb einer Cannabisplantage dienen sollte. Ungefähr in den letzten drei Monaten davor betrieben Unbekannte in dem Anwesen eine Cannabisplantage. In der ersten Etage unterhielten sie in einem Nebenraum ein Feld mit Cannabispflanzen, in der zweiten Etage zwei Felder. Ob auch im Wohnzimmer in der ersten Etage später ein Anbaufeld errichtet werden sollte, war nicht sicher festzustellen.

Am 12. Dezember 2018 wurde die im Erdgeschoss betriebene Shisha-Bar von der Polizei durchsucht; in diesem Zusammenhang wurden im Keller Reste von Cannabispflanzen gefunden und eine Umgehung des Stromzählers erkannt. Das führte zur weiteren Durchsuchung, wobei auf einem Luftumwälzer im Kaminzimmer der ersten Etage der vom Angeklagten angelieferte Temperaturregler gefunden wurde, der jedoch nicht an die Stromzufuhr angeschlossen war.

Die Strafkammer hielt es für möglich, dass der Temperaturregler entweder bereits nach Benutzung für die Cannabisplantage ausgetauscht, als Ersatzteil für die betriebene Cannabisplantage oder als Teil vorhandenen Materials zur künftigen Errichtung eines weiteren Anbaufeldes vorgesehen war.

2. Das Landgericht hat im Urteil ausgeführt, die vorliegende Anklage betreffe ausdrücklich nur den Cannabisanbau auf Feldern der Anlage bis zum Tag der Durchsuchung. Soweit es bei der Handlung des Angeklagten um eine Förderung der künftigen Errichtung eines weiteren Anbaufeldes gehen könne, sei dies nicht von der Anklage umfasst. Insoweit bestehe ein Verfahrenshindernis für eine Verurteilung. Soweit die Handlung des Angeklagten sich als Beteiligung an dem bereits erfolgten Betrieb der Cannabisplantage darstelle, gehöre dies zwar zum Verfahrensgegenstand des vorliegenden Verfahrens; im Zweifel zu seinen Gunsten sei aber davon auszugehen, dass es sich um eine hier nicht angeklagte Unterstützungshandlung für die künftige Errichtung eines weiteren Anbaufeldes gehandelt habe. Daher sei das Verfahren einzustellen.

II.

Das Rechtsmittel führt zur Änderung des Urteils dahin, dass der Angeklagte freigesprochen wird.

1. Die Revision ist zulässig. Ein Angeklagter ist zwar durch die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses in der Regel nicht beschwert; etwas anderes kann aber gelten, wenn er auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen ist (vgl. BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 - 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51). Das ist hier der Fall.

2. Das Rechtsmittel ist begründet, denn der Angeklagte hat einen Anspruch auf Freisprechung, weil das Landgericht keine Feststellungen für eine Verurteilung wegen des bisherigen Anklagevorwurfs treffen konnte und eine als weitere Sachverhaltsvariante in Betracht gezogene, außerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands liegende Beteiligung an der Vorbereitung der Herstellung eines weiteren Anbaufeldes der Cannabisplantage auch im Fall einer weiteren Anklageerhebung nicht strafbar wäre.

a) Kommen verschiedene Lebenssachverhalte wahlweise in Betracht, kann eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur erfolgen, wenn zu allen Varianten eine zugelassene Anklageschrift vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 1983 - 1 StR 178/83, BGHSt 32, 146, 150) und die in exklusiver Alternativität möglichen Sachverhaltsvarianten sämtlich eine Strafbarkeit des Angeklagten ergeben.

b) Das ist hier nicht der Fall.

aa) Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht davon ausgegangen, dass eine Beteiligung des Beschwerdeführers an der bisher angeklagten Tat „bis zum 12.12.2018“ nicht bewiesen ist. Außer seiner DNA-Spur am aufgefundenen Temperaturregler sprichts nichts dafür, und der Regler war in der bisher betriebenen Anlage nicht eingebaut.

bb) Eine Verurteilung des Beschwerdeführers auf wahldeutiger Grundlage käme auch im Fall einer zusätzlichen Anklageerhebung wegen der offenen dritten Sachverhaltsvariante nicht in Frage.

(1) Insoweit wäre nur eine Beihilfe als Art der Beteiligung des Beschwerdeführers am Geschehen denkbar, da als einziger Tatbeitrag zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln aus der Cannabisplantage die Lieferung und das Versprechen des Einbaus des Temperaturreglers im Raum steht. Das reicht für die Annahme von prospektiver Mittäterschaft mangels objektiver Tatherrschaft und eines feststellbaren Willens des Beschwerdeführers dazu nicht aus.

(2) Eine Beihilfe zum Versuch des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge kommt nicht in Betracht. Das Herbeischaffen von Geräten zur künftigen Errichtung einer Cannabisplantage ist nur eine Vorbereitungshandlung. Der nach §§ 22 ff. StGB strafbare Versuch beginnt erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Aussaat oder zum Anpflanzen (vgl. Senat, Beschluss vom 3. August 2011 - 2 StR 228/11, NStZ 2012, 43 f.). Dafür ist hier in Bezug auf ein künftiges weiteres Anbaufeld der Cannabisplantage als rechtlich selbständiger künftiger Tat nichts ersichtlich.

(3) Eine im Vorbereitungsstadium allein strafbare Verabredung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Var. 3 StGB) liegt nicht vor, wenn ein daran Beteiligter nur als Gehilfe tätig werden soll (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 1992 - 1 StR 517/92, NStZ 1993, 137 f.); denn eine Verbrechensverabredung kommt nur unter prospektiven Tätern in Frage (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 1982 - 3 StR 437/81, NStZ 1982, 244).

3. Demnach fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für eine Verurteilung des Angeklagten. Eine Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht ist nicht geboten. Weitere Feststellungen, die - auch im Fall einer ergänzenden Anklageerhebung - eine Verurteilung des Beschwerdeführers ermöglichen könnten, sind nicht zu erwarten, da die Haupttäter unbekannt sind, der frühere Mitangeklagte M. nur seinen eigenen Gehilfenbeitrag beschrieben und der Beschwerdeführer sich nicht zur Sache eingelassen hat.

III.

1. Der Senat ist nach § 8 StrEG auch für die Entscheidung über die Entschädigung zuständig, weil er die das Verfahren abschließende Entscheidung getroffen hat und weitere vom Tatrichter zu treffende Feststellungen nicht erforderlich sind.

2. Ein Entschädigungsanspruch gegen die Staatskasse wegen erlittener Untersuchungshaft (§ 2 Abs. 1 StrEG) besteht nicht.

a) Dem Freigesprochenen steht grundsätzlich nach § 2 Abs. 1 StrEG für den Vollzug der Untersuchungshaft eine Entschädigung zu. Diese ist jedoch nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen, wenn und soweit der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Die Vorschrift enthält einen Ausnahmetatbestand. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen. Der Entschädigungsanspruch entfällt, wenn der Beschuldigte die Eingriffsmaßnahme durch die Tat oder durch sein sonstiges Verhalten herausgefordert hat; er muss in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage anwenden würde, um sich vor Schaden durch die Strafverfolgungsmaßnahme zu schützen. Zum Ausschluss der Entschädigung für eine freiheitsentziehende Maßnahme genügt es nicht, dass der Beschuldigte sich irgendwie verdächtig gemacht hat, vielmehr muss er durch eigenes Verhalten einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung des nach § 112 Abs. 1 StPO erforderlichen dringenden Tatverdachts geleistet haben (vgl. BGH, Beschluss vom 24. September 2009 - 3 StR 350/09, StraFo 2010, 87 f.). Das ist hier jedoch der Fall.

b) Der Beschwerdeführer hat nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts in Kenntnis der Tatsache, dass der Temperaturregler zur Verwendung in einer illegalen Cannabisplantage verwendet werden sollte, dessen Lieferung und Einbau zugesagt und den Regler auch an den Tatort verbracht. Damit hat er den dringenden Verdacht einer Beteiligung am bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zurzeit der Anordnung und Vollziehung der Untersuchungshaft grob fahrlässig verursacht.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 75

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede