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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 96

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 ARs 13/21, Beschluss v. 18.08.2022, HRRS 2023 Nr. 96


BGH 4 ARs 13/21 - Beschluss vom 18. August 2022

Anrufung des Bundesgerichtshofs im Auslieferungsverfahren (Vorlegungsvoraussetzungen: Rechtsfrage, Feststellungsinteresse, fallübergreifende Geltung, Verpflichtung des Oberlandesgerichts zu einer Entscheidung über die Unzulässigkeit der Auslieferung auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, ungelöstes kompetenzrechtliches Problem, Weisungsabhängigkeit der Generalstaatsanwaltschaft, Verfahrensrelevanz, über die rechtliche Bedeutung für den Einzelfall hinausgehende Fragen); Antrag auf Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung (Anwendung auf einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wegen der angenommenen Unzulässigkeit einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehl: Auslegung, Zweck der Norm, , präventiver Rechtsschutz, Rechtssicherheit, Gesetzessystematik, kein Einverständnis mit einer vereinfachten Auslieferung, Feststellungsinteresse, Weisungsgebundenheit der Generalstaatsanwaltschaft, Schwebezustand des Auslieferungsverfahrens auf unabsehbare Zeit ohne gerichtliche Entscheidung, keine unzulässige Rechtsfortbildung, Entscheidungspflicht).

§ 42 IRG; § 29 IRG; § 78 IRG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Fragen nach dem Vorliegen eines für die Zulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung erforderlichen Feststellungsinteresses sind, wie etwa der Fall der prozessualen Überholung zeigt, regelmäßig von den Umständen des konkreten Einzelfalls abhängig.

2. Die Bewertung, ob ein Feststellungsinteresse besteht, kann sich auch nach Grundsätzen beurteilen, die allgemeine bzw. fallübergreifende Geltung beanspruchen und daher eine Rechtsfrage zum Gegenstand haben.

3. Die erforderliche Verfahrensrelevanz ist schon dann zu bejahen, wenn die Rechtsfrage die Frage der Zulässigkeit einer gerichtlichen Entscheidung betrifft.

4. Fragen, die über die rechtliche Bedeutung für den Einzelfall hinausgehen, ohne dass dieser hierfür eine ausreichende tatsächliche Grundlage bietet, genügen den Vorlegungsvoraussetzungen indes nicht.

5. Weder der Gesetzeswortlaut noch der Zweck des § 29 Abs. 1 IRG stehen einer Auslegung entgegen, dass das Oberlandesgericht über einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auch dann zu entscheiden hat, wenn eine Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung des Verfolgten aufgrund des Europäischen Haftbefehls für unzulässig hält und die Bewilligung daher ablehnen will.

6. Ein Feststellungsinteresse für eine Entscheidung des Oberlandesgerichts ist zu bejahen. Ohne gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung verbliebe das Auslieferungsverfahren auf unabsehbare Zeit in einem „Schwebezustand“, da sich die Generalstaatsanwaltschaft durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union an einer eigenständigen Entscheidung über die Ablehnung der Auslieferung gehindert sieht. Würde die Generalstaatsanwaltschaft ungeachtet dessen die Bewilligung der Auslieferung ablehnen, verbliebe gleichwohl auch innerstaatlich eine Rechtsunsicherheit.

Entscheidungstenor

Das Oberlandesgericht ist in Fällen der Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gemäß § 29 Abs. 1, § 78 Abs. 1 IRG zur Entscheidung über einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, auch dann verpflichtet, wenn die Bewilligungsbehörde die Auslieferung aufgrund eines nicht in ihrem Ermessen stehenden Auslieferungshindernisses für offensichtlich unzulässig erachtet und daher nicht bewilligen will, sich hieran aber als nicht unabhängige Justizbehörde gehindert sieht.

Gründe

I.

Die Strafverfolgungsbehörden der Republik Polen haben auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts Koszalin vom 14. Dezember 2020 um Auslieferung des deutschen Staatsangehörigen B. zur Strafverfolgung ersucht. Ihm liegt zur Last, am 30. November 2010 auf deutschem Staatsgebiet einen Geldbetrag in Höhe von 153.238,89 PLN „gestohlen“ zu haben, der ihm zuvor von einem polnischen Unternehmen zur Erfüllung eines Kaufvertrages übergeben worden war.

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat beim Oberlandesgericht Celle beantragt festzustellen, dass die von den polnischen Justizbehörden begehrte Auslieferung des Verfolgten zur Strafverfolgung wegen dieser Straftat unzulässig ist. Aufgrund der vorgeworfenen Tatbegehung in Deutschland sei auch die deutsche Gerichtsbarkeit begründet. Eine nach deutschem Recht in Betracht kommende Tat der veruntreuenden Unterschlagung könne indes nicht mehr verfolgt werden, da zwischenzeitlich Verjährung eingetreten sei. Eine Auslieferung des Verfolgten nach Polen sei daher gemäß § 9 Nr. 2 IRG offenkundig unzulässig. An einer eigenständigen Nichtbewilligung der Auslieferung sieht sich die Generalstaatsanwaltschaft aufgrund des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-510/19 vom 24. November 2020 gehindert; es fehle ihr „an jedweder Entscheidungskompetenz in Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl“, weil sie nicht weisungsunabhängig sei und daher als „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (im Folgenden: RB-EuHB) nicht in Betracht komme. Vorsorglich hat die Generalstaatsanwaltschaft zugleich gemäß § 42 Abs. 2 IRG eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu der Frage beantragt, ob das Oberlandesgericht zu einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung verpflichtet ist.

Das Oberlandesgericht Celle hält den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft für zulässig und beabsichtigt, die Auslieferung antragsgemäß für unzulässig zu erklären. Hieran sieht es sich durch Entscheidungen der Oberlandesgerichte Braunschweig, Dresden, Nürnberg, Frankfurt sowie des Brandenburgischen Oberlandesgerichts gehindert. Darüber hinaus betrachtet das Oberlandesgericht Celle die aufgeworfene Frage als solche von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 42 Abs. 1 Alt. 1 IRG. Es hat die Sache daher dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

„Hat das Oberlandesgericht gemäß § 29 IRG zu entscheiden, wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung für nicht bewilligungsfähig hält?“ Der Generalbundesanwalt hat die Vorlegungsfrage weiter präzisiert und beantragt zu entscheiden:

„Das Oberlandesgericht muss in Fällen der Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gemäß § 29 Abs. 1 IRG über die Zulässigkeit derselben entscheiden, wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung für offensichtlich unzulässig oder für nicht bewilligungsfähig hält und deshalb beantragt, die Unzulässigkeit der Auslieferung festzustellen.“

Zur Begründung hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:

„Eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 IRG über die Zulässigkeit der Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist auch dann zulässig und auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft geboten, wenn die Auslieferung offensichtlich unzulässig oder sonst nicht bewilligungsfähig ist.

1. Nach § 29 Abs. 1 IRG beantragt die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht die Entscheidung des Oberlandesgerichts darüber, ob die Auslieferung zulässig ist, wenn sich der Verfolgte nicht mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) einverstanden erklärt.

a) Im klassischen Auslieferungsverfahren ist es üblich, eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 IRG nur dann einzuholen, wenn ? neben dem fehlenden Einverständnis der verfolgten Person ? die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung auch betreiben will (SLGH/Riegel, aaO, IRG § 29 Rn. 2). Hält die Generalstaatsanwaltschaft hingegen die Auslieferung für unzulässig oder ist eine Bewilligung derselben nicht beabsichtigt, dient die gerichtliche Entscheidung nicht dem Schutz der verfolgten Person noch entspricht dies der Verfahrensökonomie (SLGH/ Riegel, aaO, IRG § 29 Rn. 5). Gesetzlich geregelt ist dieses Vorgehen nicht. Im Auslieferungsverkehr mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union war bisher dieselbe Verfahrensweise üblich. § 79 Abs. 2 IRG schreibt zusätzlich eine Vorabprüfung von Bewilligungshindernissen nach § 83b IRG vor.

b) Bedingt durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteile vom 27. Mai 2019 ? C-508/18 und C-82/19 PPU, und vom 24. November 2020 ? C-510/19) kann an der bisherigen Rolle der Generalstaatsanwaltschaft bei der Vollstreckung von eingehenden Europäischen Haftbefehlen nicht mehr festgehalten werden.

Der Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) in der Fassung von Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (Rb EuHB) sieht in Art. 6 Abs. 2 vor, dass vollstreckende Justizbehörde diejenige Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats ist, die nach dem Recht dieses Staates zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist. Hierzu hat die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass zuständige Justizbehörden nach Art. 6 die Justizministerien des Bundes und der Länder sind, die ihre Bewilligungszuständigkeit bei eingehenden Ersuchen (Art. 6 Abs. 2) in der Regel auf die Generalstaatsanwaltschaften der Länder übertragen haben (vgl. SLGH/Hackner, aaO, III A 1 Rn. 17). Dem Rahmenbeschluss liegt das Verständnis zugrunde, dass diese vollstreckende Justizbehörde eingehende Europäische Haftbefehle sowohl vollstrecken als auch deren Vollstreckung ablehnen kann (Art. 3, 4). Mit Urteil vom 24. November 2020 (C-510/19, dort Rn. 64 ff.) hat der Europäische Gerichtshof festgehalten, dass es sich bei der vollstreckenden Justizbehörde entweder um einen Richter oder ein Gericht oder um eine Justizbehörde wie die Staatsanwaltschaft handeln muss, die an der Rechtspflege mitwirkt und über die erforderliche Unabhängigkeit von der Exekutive verfügt. Sie muss ihre Aufgabe im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt.

Diesen Anforderungen genügt die Generalstaatsanwaltschaft nicht, da sie von Gesetzes wegen nicht unabhängig ist, sondern der Aufsicht und Leitung der Landesjustizverwaltung unterliegt (§ 147 Nr. 2 GVG; vgl. EuGH, Urteil vom 27. Mai 2019 ? C-508/18 und C-82/19 PPU, Rn. 76 ff., 90).

Deshalb entspricht die derzeitige gesetzliche Regelung zur Übertragung der Bewilligungszuständigkeit über eingehende Europäische Haftbefehle nach § 74 Abs. 1 und 2 IRG in Verbindung mit Nr. 1 und Nr. 4 der Vereinbarung der Bundesregierung mit den Landesregierungen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 28. April 2004 auf die Landesregierungen und von dort auf die Generalstaatsanwaltschaften nicht den Vorgaben des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl.

2. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gebietet es in einer solchen Situation, das nationale Recht im Lichte bestehender Richtlinien und Rahmenbeschlüsse auszulegen und deren Zwecksetzung so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Dies geht so weit, wie es der nationale Gesetzeswortlaut und rechtsstaatliche Prinzipien zulassen (EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2013 ? C-84/12 ( ), Rn. 76; vom 8. November 2016 ? C-554/14 ( ), Rn. 59; vom 29. Juni 2017 ? C-579/15 ( ) Rn. 31 ff.; vom 24. Juni 2019 ? C-573/17, Rn. 55).

Dies bedingt für das Auslieferungsverfahren aufgrund eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland, dass jedenfalls die Generalstaatsanwaltschaft nicht allein über die Vollstreckung eines solchen entscheiden darf. Das Gesetz lässt im Wege von § 29 IRG die Befassung des Oberlandesgerichts als unabhängige Entscheidungsinstanz zu, die in dem hier zu entscheidenden Fall zwingend geboten ist.

Einer solchen Auslegung steht der Wortlaut des § 29 IRG ebenso wenig entgegen wie derjenige des § 79 Abs. 2 IRG.

a) Der Wortlaut des § 29 Abs. 1 IRG lässt eine Entscheidung des Oberlandesgerichts auch dann zu, wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung wegen offensichtlicher Unzulässigkeit oder wegen des Vorliegens von Bewilligungshindernissen von vornherein nicht bewilligen will.

Die einzige Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschrift ist das fehlende Einverständnis der verfolgten Person mit der vereinfachten Auslieferung. Läge ein solches Einverständnis vor, würde § 29 Abs. 2 IRG jedoch ebenfalls die Befassung des Oberlandesgerichts nicht ausschließen. Weitere Voraussetzungen stellt der Wortlaut des § 29 IRG nicht auf.

Die Verwendung des Wortes „ob“ zeigt überdies an, dass es dem Oberlandesgericht möglich ist, eine Auslieferung sowohl für zulässig als auch für unzulässig zu erklären. Dies ist unumstritten, wenn das Oberlandesgericht dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft nicht folgen will, wenn ? in anderer Konstellation ? beantragt ist, die Auslieferung für zulässig zu erklären. Vor diesem Hintergrund ist die Erwägung des Oberlandesgerichts Dresden, das Gesetz sehe keinen Antrag auf „Feststellung der Unzulässigkeit“ vor (OLG Dresden, aaO, Rn. 6), unbehelflich.

Wenn das OLG Frankfurt am Main erwägt, der Wortlaut des § 29 IRG setze voraus, dass der Verfolgte über sein Einverständnis zur Auslieferung befragt wurde, was wiederum die grundsätzliche Bewilligungsfähigkeit des Auslieferungsersuchens erfordere, liegt dieses Argument in der dort zu entscheidenden Konstellation neben der Sache. Denn dort war der Verfolgte bereits über seine Zustimmung im Sinne von § 41 IRG befragt worden und hatte sich mit der vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt. Befindet sich das Auslieferungsverfahren ? wie hier ? in einem Stadium, in dem die verfolgte Person hiervon noch keine Kenntnis hatte und deshalb auch noch nicht zur vereinfachten Auslieferung befragt wurde, hindert dies die Anwendung des § 29 IRG indes ebenfalls nicht. Denn der Wortlaut des § 29 IRG knüpft an die Einverständniserklärung (§ 29 Abs. 2 IRG) oder das Fehlen einer solchen (§ 29 Abs. 1 IRG) an. Warum das Einverständnis der verfolgten Person erklärt oder nicht erklärt wurde, ist nach dem Gesetzeswortlaut unerheblich.

b) Der Wortlaut des § 79 Abs. 1 IRG steht einer Anwendung von § 29 Abs. 1 IRG ebenfalls nicht entgegen. Danach entscheidet die für die Bewilligung zuständige Stelle vor der Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts, ob sie beabsichtigt, Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG geltend zu machen. Die Entscheidung, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, ist zu begründen und unterliegt der Überprüfung durch das Oberlandesgericht im Verfahren nach § 29 IRG.

Die Vorschrift verpflichtet die Bewilligungsbehörde in Fällen der Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, vor Veranlassung des Verfahrens nach § 29 IRG zu entscheiden, ob bestimmte Bewilligungshindernisse, die in § 83b IRG normiert sind, geltend gemacht werden sollen. Ein bestimmtes Ergebnis dieser Prüfung ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht Voraussetzung, um eine Entscheidung nach § 29 IRG herbeizuführen. Für den Fall, dass Bewilligungshindernisse nicht geltend gemacht werden, ist dies lediglich zu begründen.

Diese Regelung mag eine Entscheidung über die Zulässigkeit nur für den Fall einer für die verfolgte Person negativen Bewilligungsentscheidung sinnhaft erscheinen lassen. Der Wortlaut zwingt jedoch nicht zu einer solchen Auslegung. Unabhängig davon liegt weder dem gegenständlichen Auslieferungsverfahren noch lag den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Braunschweig und Frankfurt am Main ein Bewilligungshindernis nach § 83b IRG zugrunde. § 79 Abs. 2 IRG ist für diese Fallkonstellationen daher ohnehin nur eingeschränkt als Argument heranzuziehen.

3. Für eine Entscheidung des Oberlandesgerichts nach § 29 Abs. 1 IRG auch in Fällen wie dem vorliegenden spricht zudem, dass der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eine Unterscheidung zwischen Bewilligung und Zulässigkeitsentscheidung im klassischen Sinne nicht mehr zulässt, da dem ersuchten Staat kein für das Auslieferungsverfahren im Übrigen charakteristisches weites außenpolitisches Ermessen im Rahmen der Bewilligungsentscheidung zusteht. Zulässige Ersuchen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Auslieferung oder Durchlieferung können nur noch abgelehnt werden, soweit dies im achten Teil des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen vorgesehen ist (vgl. § 79 Satz 1 IRG). Damit wird das Auslieferungsverfahren über die schon zuvor bestehenden vertraglichen Bindungen hinaus verrechtlicht. Das Auslieferungsersuchen kann nur noch unter den ausdrücklich im nationalen Gesetz genannten Gründen verweigert werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2005 ? 2 BvR 2236/04, Rn. 111).

Danach besteht dem Grunde nach kein rechtlicher Anlass mehr für eine eigenständige Bewilligungsentscheidung durch die Generalstaatsanwaltschaft. Sieht das Gesetz gleichwohl noch eine solche Entscheidung vor, bestehen jedenfalls keine Bedenken dagegen, die Ablehnungsgründe auch durch das Oberlandesgericht überprüfen zu lassen. Denn das Oberlandesgericht ist nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG auch zur Überprüfung der Ermessensentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft im Rahmen der Bewilligung berufen, wenn keine Bewilligungshindernisse geltend gemacht werden. Damit verbleibt von Gesetzes wegen nur noch ein geringer, nicht gerichtlich zu kontrollierender Ermessensspielraum der Bewilligungsbehörde ? nämlich dann, wenn im Rahmen der Ermessensausübung eine Bewilligung versagt werden soll. Betrachtet man die hier und in den divergierenden Entscheidungen der Oberlandesgerichte Braunschweig, Dresden, Nürnberg und Frankfurt am Main zugrundeliegenden Konstellationen, so drängt sich die Nichtbewilligung der Auslieferung derart auf, dass der Ermessensspielraum der Generalstaatsanwaltschaft gleichsam auf Null reduziert ist (vgl. für Haftbedingungen bspw.: EuGH, Urteil vom 5. April 2016 ? Rs. C-404/15 und C-695/15 PPU; wobei die Haftbedingungen unter § 73 Satz 2 IRG als Zulässigkeitshindernis normiert sind, das gleichwohl von allen mit dem Auslieferungsverfahren befassten Behörden zu prüfen ist ? SLGH/Gleß/Wahl/Zimmermann, aaO, IRG § 73 Rn. 6). Ist dem allerdings so, kommt der Ermessensentscheidung der Bewilligungsbehörde bei der Auslieferung an einen anderen EU-Mitgliedstaat kein eigenständiges Gewicht mehr zu, weshalb die Entscheidung über die Gründe zur Ablehnung der Auslieferung auch dem Oberlandesgericht übertragen werden kann. Denn allein das außenpolitische Ermessen, das in der klassischen Auslieferung nicht gerichtlich überprüfbar ist, rechtfertigt überhaupt die Aufteilung des Auslieferungsverfahrens in Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahren (vgl. BVerfG, aaO, Rn. 109). Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass gewisse Gründe, die zur Ablehnung der Auslieferung berechtigen, in § 83b IRG als Bewilligungshindernisse ausgestaltet sind.

4. Ferner fehlt es auch nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis der Generalstaatsanwaltschaft für eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 IRG. Denn die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bedingt, dass die Generalstaatsanwaltschaft jedenfalls nicht mehr eigenständig über die Nicht-Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entscheiden darf.

Soweit das Oberlandesgericht Frankfurt am Main der Ansicht ist, die Anrufung des Oberlandesgerichts habe allein interne Regelungsdefizite zum Gegenstand, ohne dass ihm ein inhaltliches Kontrollrecht zustehe (S. 8), trifft dies nicht zu. Denn in der jetzigen Lage muss ? folgt man dem vorlegenden Oberlandesgericht ? über jeden eingehenden Europäischen Haftbefehl, der nicht vollstreckt werden soll, auch durch das Oberlandesgericht entschieden werden, um den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs zu entsprechen. Zudem unterliegt, worauf das vorlegende Oberlandesgericht zu Recht hinweist (S. 9), bereits jetzt das Bewilligungsermessen der Generalstaatsanwaltschaft nach §§ 79, 83b IRG aufgrund rahmenbeschlusskonformer Auslegung der umfassenden gerichtlichen Kontrolle, wenn ein Europäischer Haftbefehl vollstreckt werden soll (vgl. insbesondere OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Februar 2020 ? Ausl 301 AR 167/19, Rn. 18).

5. Schließlich stehen Rechte der verfolgten Person nicht entgegen. Vielmehr bietet, wie das vorlegende Oberlandesgericht zutreffend ausführt (S. 9), erst eine Entscheidung einer unabhängigen Justizbehörde, die allein vollstreckende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Rb EuHB sein kann, die nötige Rechtssicherheit für die verfolgte Person.“

II.

1. Die Vorlegungsvoraussetzungen jedenfalls des § 42 Abs. 2 IRG sind erfüllt.

a) Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat in der Sache gemäß § 42 Abs. 2 IRG eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Vorlegungsfrage beantragt; dabei ist es unschädlich, dass sie diese nicht selbst ausformuliert hat.

b) Gegenstand des Vorlegungsverfahrens ist eine Rechtsfrage.

aa) Dem steht nicht entgegen, dass eine Entscheidungskompetenz des Oberlandesgerichts nach § 29 IRG teilweise mit der Erwägung verneint wird, es fehle an einem Feststellungsinteresse bzw. an einem Rechtsschutzbedürfnis, wenn die zuständige Behörde ohnehin beabsichtige, die Auslieferung nicht zu bewilligen (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 31. März 2021 - 1 AR 4/21 [S], juris Rn. 26 mwN). Zwar sind Fragen nach dem Vorliegen eines für die Zulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung erforderlichen Feststellungsinteresses, wie etwa der Fall der prozessualen Überholung zeigt (vgl. hierzu etwa MüKo-StPO/Allgayer, 1. Aufl., § 296 Rn. 49 ff.), regelmäßig von den Umständen des konkreten Einzelfalls abhängig. Dies hat indes nicht zur Folge, dass vorliegend eine Tatsachenfrage aufgeworfen wäre. Denn die Bewertung, ob ein Feststellungsinteresse besteht, kann sich auch nach Grundsätzen beurteilen, die allgemeine bzw. fallübergreifende Geltung beanspruchen (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 11. April 2018 - 2 BvR 2601/17, juris Rn. 33 f.; BVerfG, Beschluss vom 16. März 2014 - 2 BvR 2381/13, juris Rn. 2) und daher eine Rechtsfrage zum Gegenstand haben (vgl. insoweit zur Abgrenzung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen [im Kontext des § 121 Abs. 2 GVG] BGH, Beschluss vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 214 f.; Franke in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 121 GVG Rn. 58 ff. mwN). So liegt es hier. Die Vorlage wirft für eine bestimmte, bei der Vollstreckung eingehender Europäischer Haftbefehle nicht nur vereinzelt auftretende Fallkonstellation die Frage auf, ob die Oberlandesgerichte auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft zu einer Entscheidung über die Unzulässigkeit der Auslieferung auch dann verpflichtet sind, wenn die Antragstellung nicht in Zweifelsfragen der Zulässigkeit der vom Anordnungsstaat begehrten Auslieferung eines Verfolgten zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung, sondern in einem derzeit ungelösten kompetenzrechtlichen Problem wurzelt; nach der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung ist die Bewilligungszuständigkeit über eingehende Europäische Haftbefehle unverändert (überwiegend) auf die Generalstaatsanwaltschaften übertragen (vgl. § 74 Abs. 1 und 2 IRG in Verbindung mit Nr. 1 und Nr. 4 der Vereinbarung der Bundesregierung mit den Landesregierungen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 28. April 2004), obwohl diese nach übereinstimmender Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft und des Generalbundesanwalts wegen ihrer Weisungsabhängigkeit nicht die Anforderungen erfüllen, die nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 24. November 2020 (C-510/19, IWRZ 2021, 84) an eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne des RB-EuHB zu stellen sind. Die innerstaatliche Zuständigkeitsordnung steht sonach nicht im Einklang mit europarechtlichen Vorgaben. Das Vorlageverfahren wirft daher die Frage auf, ob § 29 Abs. 1 IRG eine Entscheidung des Oberlandesgerichts auch in Fällen ermöglicht, in denen sich die Generalstaatsanwaltschaft ? wie hier die Generalstaatsanwaltschaft Celle ? an einer eigenständigen Nichtbewilligung der Auslieferung gehindert sieht, weil sie aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit (vgl. §§ 146, 147 GVG) nicht die an eine Justizbehörde im Sinne des Art. 6 RB-EuHB zu stellenden Anforderungen erfüllt.

bb) Die zur Entscheidung vorgelegte Rechtsfrage hat ? ungeachtet dessen, dass die zur Vorlage führenden Umstände im Europarecht wurzeln ? die Anwendung nationalen Rechts zum Gegenstand. Eine Zweifelsfrage über die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht, die eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erforderlich machen kann (vgl. hierzu EuGH, IWRZ 2022, 32, 33 ff.; BVerfG, NStZ-RR 2022, 222, 223 mwN), liegt nicht vor. Die Rechtsfragen auf europäischer Ebene sind ? worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat ? geklärt.

c) Es bedarf keiner Entscheidung, ob es sich bei der Rechtsfrage im Anwendungsbereich des § 42 Abs. 2 IRG um eine solche von grundsätzlicher Bedeutung handeln muss (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 1981 - 4 ARs 18/80, BGHSt 30, 55, 58 zu § 27 Abs. 2 DAG). Dies ist hier jedenfalls der Fall, da sich die zur Entscheidung gestellte Frage im Auslieferungsverkehr ? wie die im Vorlegungsbeschluss aufgeführten Entscheidungen der Oberlandesgerichte verdeutlichen ? jederzeit wieder stellen kann (vgl. zum Begriff der grundsätzlichen Bedeutung BGH, Beschluss vom 13. Januar 1987 - 4 ARs 22/86, BGHSt 34, 256, 258 f.).

d) Die Rechtsfrage ist auch, wie die Vorlegung nach § 42 Abs. 2 IRG weiter voraussetzt (BGH, Beschluss vom 11. März 1981 - 4 ARs 18/80, BGHSt 30, 55, 58 zu § 27 Abs. 2 DAG; Schierholt in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 42 IRG Rn. 6), für das anhängige Auslieferungsverfahren von Bedeutung. Die erforderliche Verfahrensrelevanz ist schon dann zu bejahen, wenn die Rechtsfrage - wie vorliegend - die Frage der Zulässigkeit einer gerichtlichen Entscheidung betrifft (vgl. KK-StPO/Feilcke, 8. Aufl., § 121 GVG Rn. 31 mwN [zu § 121 Abs. 2 GVG]).

2. Die Vorlegungsfrage des Oberlandesgerichts ist jedoch zu weit gefasst, da sie insbesondere auch Fallgestaltungen erfasst, denen nicht die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt bzw. bei denen die zuständige Behörde die Auslieferung im Hinblick auf ein Bewilligungshindernis (§ 83b IRG) nicht bewilligen will. Fragen, die über die rechtliche Bedeutung für den Einzelfall hinausgehen, ohne dass dieser hierfür eine ausreichende tatsächliche Grundlage bietet, genügen den Vorlegungsvoraussetzungen indes nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 1981 - 4 ARs 18/80, BGHSt 30, 55, 58 f. zu § 27 Abs. 2 DAG; Böhm in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 42 IRG Rn. 19).

Die Vorlegungsfrage ist daher wie folgt zu fassen:

„Ist das Oberlandesgericht in Fällen der Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gemäß § 29 Abs. 1, § 78 Abs. 1 IRG zur Entscheidung über einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, auch dann verpflichtet, wenn die Bewilligungsbehörde die Auslieferung aufgrund eines nicht in ihrem Ermessen stehenden Auslieferungshindernisses für offensichtlich unzulässig erachtet und daher nicht bewilligen will, sich hieran aber als nicht unabhängige Justizbehörde gehindert sieht?“

III.

Der Senat entscheidet die Vorlegungsfrage wie aus der Beschlussformel ersichtlich.

1. Gemäß § 29 Abs. 1 IRG, der nach § 78 Abs. 1 IRG auch auf den Auslieferungsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Anwendung findet, beantragt die Generalstaatsanwaltschaft die Entscheidung des Oberlandesgerichts darüber, ob die Auslieferung zulässig ist, sofern sich der Verfolgte nicht mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) einverstanden erklärt hat.

Weder der Gesetzeswortlaut noch der Zweck der Norm stehen einer Auslegung entgegen, dass das Oberlandesgericht über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auch dann zu entscheiden hat, wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung des Verfolgten aufgrund des Europäischen Haftbefehls für unzulässig hält und die Bewilligung daher ablehnen will.

a) Nach dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 IRG ist auf Tatbestandsseite lediglich vorausgesetzt, dass die Generalstaatsanwaltschaft dies beantragt und der Verfolgte sich nicht mit einer vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt hat. Der Wortlaut der Norm („ob“) ist offen formuliert. Entgegen teilweise vertretener Ansicht (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021 - OLGAusl 258/20, juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. April 2021 - 2 Ausl A 263/20) kann ihm keine Beschränkung auf Fälle entnommen werden, in denen die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung für zulässig hält und sie bewilligen will. Nach dem Wortlaut der Norm können auch Fallgestaltungen erfasst sein, in denen der Antrag (negativ) die Unzulässigkeit der begehrten Rechtshilfemaßnahme zum Gegenstand hat (siehe auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 3. Mai 2021 - Ausl AR 23/21, juris Rn. 11).

b) Eine solche Auslegung steht auch im Einklang mit Sinn und Zweck der Norm.

aa) Zwar dient § 29 Abs. 1 IRG primär dem präventiven Rechtsschutz des Verfolgten und soll dessen Rechtsschutzanspruch (Art. 19 Abs. 4 GG) gewährleisten (vgl. hierzu BVerfGE 113, 273, 309 ff.; Riegel in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 29 IRG Rn. 2; Böhm in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 29 IRG Rn. 4). Dieser Gesetzeszweck ist nicht betroffen, wenn eine Auslieferung sicher nicht in Betracht kommt, da die zuständige Behörde die dafür erforderliche Bewilligung aufgrund eines Auslieferungshindernisses nicht erteilen will.

bb) Der Vorschrift liegt aber - jedenfalls sekundär - der weitere Zweck zugrunde, in Einzelfällen Rechtssicherheit durch eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen.

Ein Antrag nach § 29 Abs. 1 IRG ist auch dann zulässig, wenn die Bewilligungsbehörde Bedenken hegt, ob die Auslieferung zulässig ist, und insofern eine verbleibende Rechtsunsicherheit durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts beseitigt werden soll (vgl. Riegel in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 29 IRG Rn. 5; Böhm in Grützner/Pötz/ Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 29 IRG Rn. 9 f.). Der Anwendungsbereich der Norm umfasst zudem auch Fälle, in denen die Generalstaatsanwaltschaft der Auffassung ist, der Verfolgte habe seine Zustimmung zum vereinfachten Auslieferungsverfahren (§ 41 IRG) nicht rechtswirksam erteilt (vgl. Riegel in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 29 IRG Rn. 4; Köberer in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., § 29 IRG Rn. 372; siehe auch OLG Karlsruhe, StV 2008, 432). In dieser Fallgestaltung besteht eine Rechtsunklarheit, da formal ein Einverständnis des Verfolgten mit der vereinfachten Auslieferung vorliegt, dessen Wirksamkeit indes zweifelhaft ist. Diese Rechtsunsicherheit ist - ohne Einräumung eines Ermessens (vgl. insofern § 29 Abs. 2 IRG) - durch Stellung eines Antrages gemäß § 29 Abs. 1 IRG durch die Generalstaatsanwaltschaft einer gerichtlichen Klärung zuzuführen.

Diese anerkannten Anwendungsfälle verdeutlichen die weitere Funktion der Norm, in rechtlich zweifelhaften Einzelfällen Rechtssicherheit durch eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Dieser sekundäre Normzweck ist hier betroffen; würde die Generalstaatsanwaltschaft Celle - entgegen den von ihr vorgebrachten Bedenken im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - die Bewilligung der Auslieferung ohne vorherige gerichtliche Entscheidung des Oberlandesgerichts (§ 29 IRG) ablehnen, wäre die ablehnende Entscheidung im Verhältnis zum ersuchenden Staat möglicherweise unwirksam. Es verbliebe zudem innerstaatlich eine Rechtsunsicherheit, da unklar bliebe, ob das Auslieferungsverfahren durch die Entscheidung der Bewilligungsbehörde erledigt worden ist oder weiterhin anhängig bleibt. Der Umstand, dass diese Rechtsunsicherheit nicht maßgeblich auf den Umständen des Einzelfalls beruht, sondern auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zurückzuführen ist und insofern eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle betreffen kann, steht dem nicht entgegen.

cc) Zwar handelt es sich bei der nach §§ 29, 32 IRG vom Oberlandesgericht zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung um einen präventiven Feststellungsbeschluss. Zweck des gerichtlichen Verfahrens über die Zulässigkeit der Auslieferung ist es festzustellen, ob alle gesetzlichen oder vertraglichen Voraussetzungen für die Auslieferung erfüllt sind (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 1977 ? 4 ARs 16/77, BGHSt 27, 266, 269). Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ermächtigt oder ? im Falle der Unzulässigerklärung ? hindert die Bewilligungsbehörde an der Vornahme des Vollzugsakts der Auslieferung. Fragen völkerrechtlicher Verpflichtungen sind vom Oberlandesgericht nicht zu prüfen (vgl. Riegel in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 32 Rn. 2). Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren kann aber auch in Fallkonstellationen ? innerstaatlich ? Rechtsklarheit schaffen, in denen die Auslieferung auch von der Bewilligungsbehörde für offensichtlich unzulässig erachtet wird.

2. Einer solchen Auslegung der Norm stehen in der vorliegenden Fallkonstellation auch Gründe der Gesetzessystematik mit Blick auf die Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG nicht entgegen (a.A. OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021 ? 1 AR [Ausl] 17/20, juris Rn. 16).

Gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG entscheidet die für die Bewilligung zuständige Stelle vor der Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts, ob sie beabsichtigt, Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG geltend zu machen. Eine diesbezügliche Entscheidung ist vorliegend nicht erfolgt.

Die Regelung des § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG dient - für den Fall, dass die Bewilligungsbehörde die Auslieferung für zulässig erachtet - der Verfahrensökonomie. Reicht die Behörde die begründete Erklärung, keine Bewilligungshindernisse im Sinne des § 83b IRG geltend machen zu wollen, zugleich mit dem Antrag auf Zulässigerklärung der Auslieferung bei dem Oberlandesgericht ein, muss sich das Gericht, dem auch die Überprüfung der Entscheidung zur Nichtgeltendmachung von Bewilligungshindernissen obliegt (§ 79 Abs. 2 Satz 3 IRG), nicht mehrfach mit dem Vorgang befassen. Hierdurch wird insbesondere eine Verzögerung des Auslieferungsverfahrens vermieden (vgl. BT-Drucks. 16/1024 S. 13; siehe auch Hackner in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 79 IRG Rn. 10). Weder dem Wortlaut noch dem Zweck des § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG ist indes zu entnehmen, dass ein Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Entscheidung des Oberlandesgerichts gemäß § 29 Abs. 1 IRG als unzulässig anzusehen ist, wenn die zuständige Behörde die Auslieferung mangels Vorliegens der Zulässigkeitsvoraussetzungen als nicht bewilligungsfähig erachtet und sich insofern eine Entscheidung über die Geltendmachung von Bewilligungshindernissen (§ 83b IRG) erübrigt.

3. Der Verfolgte hat sich, wie § 29 Abs. 1 IRG weiter voraussetzt, nicht mit einer vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) einverstanden erklärt.

Zwar hat der Verfolgte, der bisher keine Kenntnis von dem Auslieferungsverfahren hat, keine Erklärung abgegeben. Ein solcher Fall ist allerdings jedenfalls dann nicht anders zu bewerten, wenn - wie hier - kein Auslieferungshaftbefehl gegen ihn ergangen ist und der Erlass eines solchen auch ausscheidet (vgl. § 15 Abs. 2 IRG). Insofern kommt eine vereinfachte Auslieferung ohnehin nicht in Betracht (vgl. hierzu Böhm in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 41 IRG Rn. 18 ff.). Die Erklärung eines rechtswirksamen Einverständnisses mit dem vereinfachten Verfahren ist demnach nicht möglich, sodass vorliegend - in Abgrenzung zu § 29 Abs. 2 IRG - der Anwendungsbereich des § 29 Abs. 1 IRG eröffnet ist (vgl. - für den Fall einer zwar abgegebenen aber unwirksamen Einverständniserklärung - Riegel in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 29 IRG Rn. 4; Köberer in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., § 29 IRG Rn. 372; siehe auch OLG Karlsruhe, StV 2008, 432).

4. Es besteht schließlich das für eine gerichtliche Entscheidung gemäß § 29 Abs. 1 IRG vorauszusetzende Feststellungsinteresse.

Der teilweise vertretenen Auffassung, es fehle an einem Feststellungsinteresse für eine gerichtliche Entscheidung nach § 29 Abs. 1 IRG, wenn die zuständige Behörde die Auslieferung nicht bewilligen wolle (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021 ? 1 AR [Ausl] 17/20, juris Rn. 16; OLG Brandenburg, Beschluss vom 31. März 2021 - 1 AR 4/21 [S], juris Rn. 26; OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021 - OLGAusl 258/20, juris Rn. 6; siehe auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 3. Mai 2021 ? Ausl AR 23/21, juris Rn. 12 ff.; Riegel in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 29 IRG Rn. 5; je mwN), vermag der Senat jedenfalls derzeit nicht zu folgen.

Die für die Bewilligungsentscheidung zuständige Generalstaatsanwaltschaft Celle erfüllt nach eigener Einschätzung aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit (§§ 146, 147 GVG) nicht die Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (IWRZ 2021, 84 f.) an eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 3, 4 und 6 Abs. 2 RB-EuHB zu stellen sind. Diese Rechtsauffassung ist auch in der vorliegenden Verfahrenskonstellation einer beabsichtigen Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vertretbar und naheliegend. Zwar liegt dem durch den Gerichtshof der Europäischen Union beurteilten Sachverhalt eine Zustimmung zur Auslieferung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g, Abs. 4 RB-EuHB und somit eine Fallgestaltung zugrunde, die mit einem Eingriff in Rechtspositionen des Verfolgten verbunden ist. Es ist aber nicht ersichtlich, dass hinsichtlich der Weisungsgebundenheit abweichende Grundsätze gelten sollen, wenn die Auslieferung - wie hier - aufgrund eines Auslieferungshindernisses (vgl. insoweit auch Art. 4 Nr. 4 RB-EuHB) nicht bewilligt werden soll, zumal der Gerichtshof der Europäischen Union seine diesbezüglichen Ausführungen auch auf die in Art. 6 Abs. 2 RB-EuHB enthaltene allgemeine Begriffsdefinition der vollstreckenden Justizbehörde bezieht (vgl. EuGH, IWRZ 2021, 84, 85).

Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls derzeit - bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers - ein Feststellungsinteresse für eine Entscheidung des Oberlandesgerichts zu bejahen (vgl. auch Saarländisches OLG, Beschluss vom 10. März 2021 ? OLG Ausl (A) 4/2021). Ohne gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung verbliebe das Auslieferungsverfahren auf unabsehbare Zeit in einem „Schwebezustand“, da sich die Generalstaatsanwaltschaft durch die genannte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union an einer eigenständigen Entscheidung über die Ablehnung der Auslieferung gehindert sieht. Würde die Generalstaatsanwaltschaft ungeachtet dessen die Bewilligung der Auslieferung ablehnen, verbliebe gleichwohl, wie bereits ausgeführt, auch innerstaatlich eine Rechtsunsicherheit.

5. Die Auslegung des § 29 Abs. 1 IRG stellt auch keine unzulässige Rechtsfortbildung dar. Eine gerichtliche Auslegung überschreitet zwar dann die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung, wenn sie sich gegen eine klar erkennbare gesetzgeberische Grundentscheidung wendet (vgl. BVerfGE 149, 126 Rn. 73 ff.). Eine solche Grundentscheidung des Gesetzgebers, die der Auslegung des § 29 Abs. 1 IRG durch den Senat entgegenstehen würde, ist weder den ? knappen ? Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 9/1338 S. 54) zu entnehmen noch sonst ersichtlich.

6. Die Annahme einer mit der Zulässigkeit des Antrags korrespondierenden Entscheidungspflicht des Oberlandesgerichts führt im zugrunde liegenden Auslieferungsverfahren im Übrigen nicht dazu, dass das Gericht selbst - entgegen der im Gesetz vorgesehenen Aufgaben- und Verantwortungsteilung - die Funktion der Bewilligungsbehörde einnehmen würde (vgl. hierzu OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021 - 1 AR [Ausl] 17/20, juris Rn. 19 f.; siehe auch Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 7. Juli 2021 - 1 AR 13/21 [S], juris Rn. 26 mwN). Dem steht schon entgegen, dass vorliegend ausschließlich eine im Gesetz (§ 29 IRG) ausdrücklich vorgesehene gerichtliche Entscheidung über die (Un-)Zulässigkeit der Auslieferung zu treffen ist.

7. Dem Verfolgten wurde durch das vorlegende Oberlandesgericht, das die Entscheidung der Vorlagefrage ersichtlich als vorgreiflich angesehen hat, bislang kein rechtliches Gehör gewährt. Der Senat hat angesichts dieser Besonderheit des Einzelfalls davon abgesehen, der Gewährung rechtlichen Gehörs durch das Oberlandesgericht vorzugreifen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 96

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede