HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2022
23. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

245. BVerfG 1 BvR 1541/20 (Erster Senat) - Beschluss vom 16. Dezember 2021

Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung in der Triage (Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen; Schutzdimensionen des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; subjektives Abwehrrecht; Förderauftrag; objektive Wertentscheidung; Auftrag für den Gesetzgeber zum Schutz vor Benachteiligungen; Verdichtung zur konkreten Schutzpflicht in Konstellationen besonderer Schutzbedürftigkeit wie in einer Triage-Situation; tatsächliche Anhaltspunkte für Benachteiligungsrisiken in der Triage; unbewusste Stereotypisierung; Annahme von Komorbiditäten oder schlechten Genesungsaussichten; Kriterium der Erfolgsaussicht einer Behandlung im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung; Fehlen hinreichender gesetzlicher Vorkehrungen; Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers; gesetzgeberisches Unterlassen als Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde; hohe Darlegungsanforderungen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG; Art. 14 EMRK; Art. 1 Abs. 1 BRK; Art. 4 Abs. 1 BRK; Art. 10 BRK; Art. 11 BRK; Art. 25 BRK; Art. 2 IPbpR; Art. 2 IPwskR; § 1 AGG

1. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen. (BVerfG)

2. Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Dazu gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung, eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung einhergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit.

Der Schutzauftrag verdichtet sich hier, weil das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen besteht. (BVerfG)

3. Dem Gesetzgeber steht auch bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist, dass er hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt. (BVerfG)

4. Der Gesetzgeber hat die sich aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergebende Handlungspflicht verletzt, indem er keine Vorkehrungen getroffen hat, damit bei einer Entscheidung über die Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen, also im Fall einer Triage, niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt wird. (Bearbeiter)

5. Eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt vor, wenn eine Person in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig nicht nur geringfügig beeinträchtigt ist. Nach diesen Maßgaben schützt das Grundrecht auch chronisch Kranke; denn auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an. (Bearbeiter)

6. Als subjektives Abwehrrecht schützt Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gegen staatliche Benachteiligung durch Regelungen und Maßnahmen, die die Situation von Behinderten verschlechtern. Das Grundrecht enthält zugleich einen Förderauftrag und vermittelt einen Anspruch auf Eröffnung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren Möglichkeiten. Zudem ist Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als objektive Wertentscheidung in allen Rechtsgebieten zu beachten und daher insbesondere auch im Zivilrecht bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen auslegungsbedürftigen Normen zur Geltung zu bringen. (Bearbeiter)

7. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich außerdem ein Auftrag für den Gesetzgeber zum Schutz vor Benachteiligungen wegen einer Behinderung auch durch Dritte. Der Schutzauftrag kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Zu solchen Konstellationen gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung. Zudem kann eine Handlungspflicht bestehen, wenn mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergehen; dies ist insbesondere der Fall, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht. Darüber hinaus kann sich eine konkrete Handlungspflicht auch in Situationen struktureller Ungleichheit ergeben. (Bearbeiter)

8. Diese Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG steht im Einklang mit den dabei zu beachtenden völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie aus den Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. (Bearbeiter)

9. Der allgemeine Schutzauftrag des Staates aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verdichtet sich angesichts des Risikos der Benachteiligung wegen einer Behinderung in einer Triage-Situation bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen zu einer konkreten Handlungspflicht. In einer Rechtsordnung, die auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist, kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht hingenommen werden, der die Betroffenen nicht ausweichen können und die unmittelbar zu einer Gefährdung der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als überragend bedeutsam geschützten Rechtsgüter Gesundheit und Leben führt. Die Betroffenen können sich in einer solchen Situation zudem nicht selbst schützen. (Bearbeiter)

10. Es bestehen belastbare Anhaltspunkte dafür, dass für Menschen mit Behinderungen ein Risiko besteht, bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Aus sachkundigen Einschätzungen und Stellungnahmen ergibt sich, dass sich in der komplexen Entscheidung über eine intensivmedizinische Therapie subjektive Momente ergeben können, die Diskriminierungsrisiken beinhalten, weil die Lebenssituation und -qualität von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt wird oder eine unbewusste Stereotypisierung stattfindet. (Bearbeiter)

11. Die fachlichen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit beseitigen das Risiko einer Benachteiligung nicht. Indem sie – für sich genommen verfassungsrechtlich unbedenklich – entscheidend auf das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht der Behandlung im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung abstellen, bergen sie insbesondere das Risiko, dass bei der vorgesehenen und im Grundsatz ebenfalls zulässigen Berücksichtigung von Komorbiditäten eine Behinderung pauschal mit solchen in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird. (Bearbeiter)

12. Der Gesetzgeber hat bislang keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen, um Menschen mit Behinderungen wirksam vor einer solchen Benachteiligung zu schützen. Insbesondere genügt das allgemeine zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 1 AGG nicht, um in der extremen Entscheidungssituation einer

pandemiebedingten Triage sicherzustellen, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird. (Bearbeiter)

13. Dem Gesetzgeber steht bei der Entscheidung, wie er das Schutzgebot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG konkret erfüllt, ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Insoweit kann er selbst materielle Maßstäbe für die intensivmedizinische Verteilungsentscheidung vorgeben oder andere Vorkehrungen treffen und etwa ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen einführen oder sich für Vorgaben zur Dokumentation oder für die Aus- und Weiterbildung insbesondere des intensivmedizinischen Personals entscheiden. (Bearbeiter)

14. Ein gesetzgeberisches Unterlassen kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wenn sich eine Handlungspflicht des Gesetzgebers aus dem Grundgesetz herleiten lässt, wie sie aufgrund des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in Betracht kommt. (Bearbeiter)

15. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer Schutzpflicht angesichts des dem Gesetzgeber insoweit grundsätzlich eröffneten weiten Gestaltungsspielraums nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die Regelungen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Dies hat der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung des gesamten gesetzlichen Regelungszusammenhangs darzulegen. (Bearbeiter)


Entscheidung

246. BVerfG 2 BvL 1/20 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 9. Februar 2022 (AG Villingen-Schwenningen)

Verfassungsmäßigkeit der Strafnorm über verbotene Kraftfahrzeugrennen (Bestimmtheitsgebot; hinreichende Präzisierung der Tatbestandsmerkmale „grob verkehrswidrig“ und „rücksichtslos“; ausreichend klarer Bezugspunkt der Fortbewegung mit nicht angepasster Geschwindigkeit; Bestimmtheit des Absichtserfordernisses bezüglich des Erreichens einer höchstmöglichen Geschwindigkeit; Vergleich mit dem Verbot von Mehrpersonenrennen; Ausnahme bei räumlich eng umgrenzten Verkehrsvorgängen; keine Verschleifung des Absichtserfordernisses und des Merkmals der nicht angepassten Geschwindigkeit); Bestimmtheit von Strafnormen (Zulässigkeit der Verwendung ausfüllungsbedürftiger Begriffe und ineinander aufgehender Tatbestandsmerkmale durch den Gesetzgeber; Analogieverbot, Präzisierungsgebot und Verschleifungsverbot als Vorgaben für die Rechtsprechung; Klarheits- und Bestimmtheitsgebot der EMRK); Zulässigkeit einer Richtervorlage im Zwischenverfahren (abstrakte Normenkontrolle; Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für die Eröffnung des Hauptverfahrens; keine Aktualisierung des Vorlagebeschlusses bei neuen Entwicklungen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; Art. 7 EMRK; § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO; § 3 Abs. 3 StVO

1. Zu Inhalt und Reichweite des Verbots einer Verschleifung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale (Art. 103 Abs. 2 GG). (BVerfG)

2. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Vorschrift genügt insbesondere den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen. Die im Straßenverkehrsrecht bereits an anderer Stelle verwendeten Tatbestandsmerkmale „grob verkehrswidrig“ und „rücksichtslos“ sind durch die hierzu ergangene Rechtsprechung hinreichend präzisiert. Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Fortbewegung mit nicht angepasster Geschwindigkeit ist deren notwendiger Bezugspunkt nicht zuletzt der Gesetzesbegründung zu entnehmen, die auf § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO und dessen Auslegung verweist. (Bearbeiter)

3. Das neu eingeführte Absichtserfordernis („um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“) ist ebenfalls hinreichend bestimmt. Hinsichtlich der Parameter, nach welchen sich die höchstmögliche Geschwindigkeit bemisst, verweisen die Gesetzesmaterialien auf die Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnisse zum Zeitpunkt der Tathandlung. Als Anknüpfungspunkt für die Auslegung kommt zudem ein Vergleich mit den in derselben Norm geregelten Mehrpersonenrennen in Betracht, bei denen es genügt, dass einer der Rennbeteiligten schneller als die anderen ist, ohne dass absolut gesehen die höchstmögliche Geschwindigkeit erreicht wird. Eine Entgrenzung des Absichtsmerkmals wird durch die einschränkende Auslegung in der Rechtsprechung vermieden, wonach räumlich eng umgrenzte Verkehrsvorgänge von einer Strafbarkeit ausgenommen werden (Bezugnahme auf BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 – 4 StR 225/20 – und vom 24. März 2021 – 4 StR 142/20 –; Urteil vom 24. Juni 2021 – 4 StR 79/20 – [= HRRS 2021 Nr. 342, Nr. 630 und Nr. 864]). Nach dieser Rechtsprechung sind das Absichtserfordernis, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, sowie das Tatbestandsmerkmal der nicht angepassten Geschwindigkeit außerdem einer Auslegung zugänglich, die ihre Verschleifung ausschließt. (Bearbeiter)

4. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot. Dadurch soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Zugleich sollen die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Gesetzeswortlauts vorhersehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht. Dies schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Strafrecht nicht aus, sofern sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt. (Bearbeiter)

5. Mit dem Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung korrespondiert ein an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Ausgeschlossen ist danach nicht nur eine gewohnheitsrechtliche oder rückwirkende Strafbegründung, sondern jede Rechtsanwendung,

die tatbestandsausweitend über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist. (Bearbeiter)

6. Die Rechtsprechung trifft eine Verpflichtung, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot). Dies gilt insbesondere bei Tatbeständen, die der Gesetzgeber im Rahmen des Zulässigen durch Verwendung von Generalklauseln verhältnismäßig weit und unscharf gefasst hat und bei denen sich erst aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung gewinnen lässt. (Bearbeiter)

7. Das Bestimmtheitsgebot verbietet es den Gerichten, einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns so weit auszulegen, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen). Demgegenüber ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, ihm zur Klarstellung wichtige, wenn auch ineinander aufgehende und damit im Ergebnis „verschleifende“ Tatbestandsmerkmale ausdrücklich in den Gesetzestext aufzunehmen. Eine verschleifende Auslegung derartiger Tatbestandsmerkmale durch die Gerichte verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wenn der Gesetzgeber ihnen eine tatbestandsbegrenzende Funktion nicht beigemessen hat. (Bearbeiter)

8. Das Klarheits- und Bestimmtheitsgebot des Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes heranzuziehen ist, geht über den Gewährleistungsgehalt von Art. 103 Abs. 2 GG nicht hinaus. (Bearbeiter)

9. Der Zulässigkeit der Richtervorlage eines Strafgerichts steht nicht entgegen, dass sie bereits im Zwischenverfahren erfolgt ist, wenn das Gericht darlegt, dass die Eröffnung des Hauptverfahrens von der Gültigkeit einer anzuwendenden Strafnorm abhängt. Eine vollständige Subsumtion unter die Strafnorm ist dabei insoweit entbehrlich, als das Gericht hierzu nicht in der Lage ist, weil es die Norm tatbestandlich für nicht hinreichend bestimmt erachtet. (Bearbeiter)

10. Es besteht keine generelle verfassungsprozessuale Verpflichtung eines vorlegenden Gerichts, seinen Vorlagebeschluss im Hinblick auf erhebliche tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen, die sich erst nach der Vorlage ergeben, fortlaufend zu überwachen und gegebenenfalls zu aktualisieren. (Bearbeiter)


Entscheidung

250. BVerfG 2 BvR 1910/21 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Februar 2022 (OLG München / LG München I)

Recht auf rechtliches Gehör bei Verfahrenseinstellung (Verpflichtung zur Anhörung des Beschuldigten vor einer ihn beschwerenden Auslagenentscheidung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (kein Offenhalten der Monatsfrist durch unstatthaften Rechtsbehelf).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 33 Abs. 1 StPO; § 154 Abs. 2 StPO; § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StPO

1. Zur Wahrung des Rechts auf rechtliches Gehör ist der Beschuldigte auch vor einer nicht zustimmungsbedürftigen Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO anzuhören, wenn er durch das Auferlegen der eigenen Auslagen oder der Auslagen des Nebenklägers beschwert wird.

2. Eine sofortige Beschwerde gegen die Auslagenentscheidung in einem nicht anfechtbaren Einstellungsbeschluss ist gemäß § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StPO nicht statthaft. Sie gehört daher nicht zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg und kann die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht offenhalten.


Entscheidung

251. BVerfG 2 BvR 2611/18 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. Dezember 2021 (LG Kempten (Allgäu) / AG Kempten (Allgäu))

Durchsuchungsbeschluss und rechtliches Gehör (Nachholung des Gehörs im Beschwerdeverfahren bei Ermittlungsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung; Abwarten einer angekündigten Beschwerdebegründung); Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Erfordernis einer Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33 Abs. 4 StPO; § 33a StPO; § 105 StPO

1. Wird eine Eingriffsmaßnahme im Strafverfahren – wie regelmäßig im Falle der Durchsuchung – ohne vorherige Anhörung des Beschuldigten angeordnet, so ist das rechtliche Gehör jedenfalls im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren. Hat der Beschuldigte eine Begründung seiner Beschwerde angekündigt, so hat das Beschwerdegericht, sofern es nicht ohnehin eine Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung bestimmt, mit einer der Beschwerde nicht stattgebenden Entscheidung angemessene Zeit zu warten.

2. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist ein Beschwerdeführer gehalten, eine unter Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör ergangene Beschwerdeentscheidung zunächst mit einer Anhörungsrüge anzugreifen.


Entscheidung

247. BVerfG 2 BvR 75/22 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. Januar 2022 (OLG Frankfurt am Main)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung (Verbot des Mitschreibens in der Verhandlung; Ausnahmeregelung nur für den Fall eines wissenschaftlichen Interesses; Pflicht der Gerichte zur Erwägung und Bescheidung jedes grundrechtsrelevanten Vorbringens; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis eines Antrags an das Strafgericht).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 176 Abs. 1 GVG

Eine Verfassungsbeschwerde gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung, mit der Zuschauern das Mitschreiben in der Hauptverhandlung untersagt wird, ist wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Subsidiarität unzulässig, wenn der Beschwerdeführer es unterlassen hat, einen Antrag auf Gestattung der Anfertigung von Mitschriften zu stellen, auch wenn die Anordnung dies explizit nur für den Fall eines wissenschaftlichen Interesses vorsieht. Denn das Strafgericht ist gehalten, jedes grundrechtsrelevante Vorbringen zu erwägen und zu bescheiden, um die Grundrechte des Beschwerdeführers zu wahren und durchzusetzen.


Entscheidung

248. BVerfG 2 BvR 167/22 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Februar 2022 (LG Regensburg)

Recht auf effektiven Rechtsschutz im strafvollzugsrechtlichen Eilverfahren (Notrufsystem in Hafträumen; verzögerte Entscheidung über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 109 Abs. 1 StVollzG; § 114 StVollzG

Ein Notrufsystem in Hafträumen stellt für Gefangene in Notfällen und Gefahrensituationen eine wichtige Möglichkeit der Kommunikation dar. Hat eine Strafvollstreckungskammer über einen entsprechenden Antrag eines Strafgefangenen auf einstweiligen Rechtsschutz nach über vier Monaten noch nicht entschieden, so liegt eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nahe.


Entscheidung

249. BVerfG 2 BvR 1872/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. Januar 2022 (BGH / LG Bonn)

Unzulässigkeit einer Gegenvorstellung gegen Nichtannahmeentscheidungen des BVerfG (grundsätzlich fehlende Abänderungskompetenz der Kammer; mögliche Ausnahme bei Gehörsverletzung (offengelassen)).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 93b Satz 1 BVerfGG

1. Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, sind unanfechtbar und können auf Gegenvorstellungen hin grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden (Folgeentscheidung zum Beschluss vom 22. November 2021 [= HRRS 2021 Nr. 1191]).

2. Ob ausnahmsweise eine Abänderungskompetenz der Kammer besteht, wenn bei der Entscheidung entscheidungserheblicher, dem Bundesverfassungsgericht vorliegender Prozessstoff in einer Art. 103 Abs. 1 GG verletzenden Weise außer Acht geblieben ist kann dahinstehen, soweit ein solcher Fall nicht gegeben ist.