HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2020
21. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

885. BGH 5 ARs 17/19 5 AR (VS) 63/19 - Beschluss vom 10. Juni 2020 (OLG Hamm)

BGHR; Rechtsschutz gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Feststellungsinteresse; Rechtsweg; Rechtsbeschwerde; Zulässigkeit; Begründetheit; Maßnahmen der Staatsanwaltschaft; spezifisch strafprozessuales Handeln; Insolvenzantrag aus

eigenem Recht; Subsidiarität; Einwendungen gegen vollstreckungsrechtliche Entscheidungen; außerstrafrechtlicher Rechtsschutz; „Mangelfall“).

§ 111i Abs. 2 StPO; § 23 EGGVG; § 459o StPO

1. Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, nach § 111i Abs. 2 StPO einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, ist der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet. (BGHR)

2. Der Überprüfung unterliegt dabei nur, ob die Voraussetzungen des § 111i Abs. 2 StPO vorliegen. (BGHR)

3. Staatsanwaltschaftliches Handeln ist nicht generell vom Anwendungsbereich der §§ 23 ff. EGGVG ausgeschlossen. Zwar sind Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, die auf die Einleitung, Durchführung und Gestaltung des Ermittlungsverfahrens und des Strafverfahrens vor Gericht gerichtet sind, als Prozesshandlungen nach der gesetzlichen Systematik nur mit den im Strafverfahrensrecht abschließend geregelten Rechtsbehelfen anfechtbar. Darum handelt es sich bei der Stellung eines Insolvenzantrags nach § 111i Abs. 2 StPO aber nicht. (Bearbeiter)

4. Die Staatsanwaltschaft stellt den Insolvenzantrag aus eigenem Recht, nämlich aufgrund des staatlichen (Wertersatz-)Einziehungsanspruchs, der mit der Erlangung des Tatertrages entsteht und fällig wird. Dieser Anspruch kann durch Beschlagnahme oder Vermögensarrest gesichert werden und wird durch die Einziehungs- oder Wertersatzeinziehungsanordnung des Gerichts nach §§ 73, 73c StGB tituliert. Wegen des (Wertersatz-)Einziehungsanspruchs aus den §§ 73, 73c StGB kann die Staatsanwaltschaft selbst als Gläubigerin des Betroffenen einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen. Sie handelt bei ihrer Insolvenzantragstellung demnach wie jeder andere Gläubiger und gerade nicht in spezifisch strafprozessualer Weise. (Bearbeiter)

5. Nach § 111i Abs. 2 Satz 1 StPO stellt die Staatsanwaltschaft nur dann einen Antrag auf Eröffnung des Vermögens des Insolvenzschuldners, wenn es mehrere Verletzte gibt und der Wert des in Vollziehung des Vermögensarrestes gesicherten Gegenstandes oder des durch dessen Verwertung erzielten Erlöses nicht ausreichen, um die Ansprüche der Verletzten auf Ersatz des Wertes des Erlangten, die ihnen aus der Tat erwachsen sind und von ihnen gegenüber der Staatsanwaltschaft geltend gemacht werden, zu befriedigen (sog. „Mangelfall“). (Bearbeiter)

6. Die Subsidiaritätsklausel des § 23 Abs. 3 EGGVG steht einer Anfechtung der Insolvenzantragstellung nach § 111i Abs. 2 StPO nicht in vollem Umfang entgegen, beschränkt die Überprüfung aber darauf, ob die Voraussetzungen des § 111i Abs. 2 StPO vorliegen (vgl. oben Ls. zu Ziff. 2). (Bearbeiter)

7. Die Fälle des § 111i Abs. 2 StPO sind von der Pauschalverweisung in § 459o StPO auf die §§ 459a, 459c, 459e und die §§ 459g bis 459m StPO (und damit auch auf § 459h Abs. 2 Satz 2 StPO, der seinerseits auf § 111i StPO insgesamt verweist) ausgenommen. (Bearbeiter)

8. Der durch das Insolvenzgericht im Insolvenzverfahren gewährte Rechtsschutz umfasst nicht die Prüfung, ob die Staatsanwaltschaft den Insolvenzantrag nach den für sie verbindlichen Vorschriften der Strafprozessordnung stellen durfte. (Bearbeiter)


Entscheidung

983. BGH 4 StR 15/20 - Beschluss vom 4. Juni 2020 (LG Dessau-Roßlau)

Beweisverwertungsverbot (Missachtung des Richtervorbehalts bei Durchsuchung der Wohnung); Urteilsgründe (alltagssprachliche Beschreibungen).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 267 StPO; § 152 GVG

1. Die Annahme eines Beweisverwertungsverbots kommt in Betracht, wenn der Richtervorbehalt bewusst missachtet oder seine Voraussetzungen in gleichgewichtig grober Weise verkannt wurden.

2. Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Dem entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2 Halbsatz 1 GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält. Nach Art. 13 Abs. 2 Halbsatz 2 GG i.V.m. § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO dürfen Durchsuchungen ausnahmsweise auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 GVG) angeordnet werden, wenn Gefahr im Verzug besteht. Gefahr im Verzug ist nur anzunehmen, wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme – regelmäßig die Sicherung von Beweismitteln – gefährdet würde. Die Strafverfolgungsbehörden müssen dementsprechend regelmäßig versuchen, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur in Ausnahmesituationen, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich zuvor um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben. Für die Frage, ob die Ermittlungsbehörden eine richterliche Entscheidung rechtzeitig erreichen können, kommt es deshalb auf den Zeitpunkt an, zu dem die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten eine Durchsuchung für erforderlich hielten.

3. Die für erwiesen erachteten Tatsachen sind so darzustellen, dass sie sich als Grundlage für die Subsumtion unter die angewendeten Vorschriften eignen. Der Alltagssprache entnommene Beschreibungen wie „Polenböller“ oder die Bezeichnung eines Gegenstands als „selbstgebauter Sprengkörper“ lassen nicht erkennen, ob insoweit die tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme eines Tatbestandsmerkmals des § 3 Abs. 1 SprengG erfüllt sind.


Entscheidung

934. BGH 1 StR 95/20 - Beschluss vom 18. Juni 2020 (OLG Karlsruhe)

Vorlageverfahren; statthafter Rechtsbehelf gegen einen amtsgerichtlichen Beschluss im selbstständigen Einziehungsverfahren (sofortige Beschwerde).

§ 121 Abs. 2 GVG; § 87 Abs. 3 OWiG; § 46 Abs. 1 OWiG; § 436 Abs. 2 StPO; § 434 Abs. 2 StPO

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 31, 361) ist das statthafte Rechtsmittel gegen einen amtsgerichtlichen Beschluss im selbständigen Einziehungsverfahren nach dem OWiG die sofortige Beschwerde, über die das Landgericht (Kammer für Bußgeldsachen) zu befinden hat.

2. Der selbständige Einziehungsbescheid steht nur hinsichtlich seiner Form und der Anfechtungsmöglichkeit einem Bußgeldbescheid gleich, wohingegen §§ 71 ff. OWiG für das Hauptverfahren und daher auch §§ 79 ff. OWiG zum Rechtsbeschwerdeverfahren unanwendbar sind. Vielmehr ist insoweit im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers auf die Regelungen der StPO zum selbständigen Einziehungsverfahren zurückzugreifen.


Entscheidung

864. BGH 5 StR 115/20 - Beschluss vom 23. Juni 2020 (LG Hamburg)

Verstoß gegen verständigungsbezogene Mitteilungspflichten (Inhalt der Mitteilungspflicht; ausnahmsweiser Ausschluss des Beruhens).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 257c StPO; § 337 StPO

1. Der Gesetzgeber hat Verstöße gegen die verfahrensrechtlichen Sicherungen der Verständigung, zu denen auch die Transparenz. und Dokumentationspflichten gehören, nicht als absolute Revisionsgründe eingestuft. Zwar wird das Beruhen des Urteils auf einer fehlenden oder nicht ordnungsgemäßen Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO – auch im Falle ergebnisloser Verständigungsgespräche – regelmäßig nicht sicher ausgeschlossen werden können). Die Revisionsgerichte sind aber nicht gehindert, aufgrund einer an den Umständen des Einzelfalls ausgerichteten Gesamtbetrachtung ausnahmsweise zu einem Ausschluss des Beruhens zu gelangen (vgl. BVerfG HRRS 2020 Nr. 340).

2. Ein solcher ausnahmsweiser Ausschluss des Beruhens kann in Betracht kommen, wenn die auf eine Verständigung abzielende Kommunikation vor den Augen der Öffentlichkeit und des Angeklagten in öffentlicher Hauptverhandlung begonnen hat, der Kern eines anschließenden (nichtöffentlichen) Gesprächs – wenn auch ohne die gebotenen Einzelheiten – in der Hauptverhandlung der Öffentlichkeit mitgeteilt wird und wenn schließlich das nichtöffentliche Gespräch zweifelsfrei nicht auf eine unzulässige Absprache gerichtet war.


Entscheidung

855. BGH 3 StR 99/19 - Beschluss vom 28. Mai 2020 (LG Düsseldorf)

Revisionsrechtliche Geltendmachung einer rechtstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell (Sachrüge; Verfahrensrüge; verfahrens- oder sachlich-rechtlicher Charakter einer Vorschrift; kein Erfordernis einer Verzögerungsrüge).

§ 337 StPO; § 344 StPO; § 198 GVG; § 199 GVG; Art. 6 EMRK; Art. 13 EMRK

1. Die Frage, mit welcher Revisionsrüge der Beschwerdeführer seine Beanstandung geltend zu machen hat, ist danach zu beantworten, ob das Urteil wegen der Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder einer anderen Rechtsnorm angegriffen wird (§ 344 Abs. 2 Satz 1 StPO). Als Verfahrensvorschriften in diesem Sinne sind diejenigen Normen anzusehen, die bestimmen, auf welchem Weg der Richter zur Urteilsfindung berufen und gelangt ist, so dass eine Verfahrensverletzung vorliegt, wenn das Gericht eine vorgeschriebene oder gebotene prozessuale Handlung unterlassen oder eine nicht zulässige prozessuale Handlung vorgenommen hat.

2. Demgegenüber hängt der verfahrens- oder sachlich-rechtliche Charakter einer Regelung nicht von ihrer systematischen Stellung innerhalb der Gesetze ab. Vielmehr kann nach den Umständen des Einzelfalls etwa auch die Verletzung einer in systematischer Hinsicht dem Verfahrensrecht zuzuordnenden Bestimmung auf die Sachrüge Beachtung finden. Ebenso wenig ist für die Zuordnung ausschlaggebend, ob sich sämtliche Voraussetzungen eines Verfahrensfehlers aus den Urteilsgründen ergeben. Ist nach den allgemeinen Grundsätzen ein Rechtsverstoß allein mit einer Verfahrensrüge zu beanstanden, wird deren Erhebung nicht dadurch entbehrlich, dass die Voraussetzungen hierfür in den Urteilsgründen vollständig enthalten sind.

3. Nach diesen Grundsätzen kann die Beanstandung einer Entscheidung über eine Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung im Wege der Vollstreckungslösung je nach Fallgestaltung in den Anwendungsbereich der Verfahrensrüge oder den der Sachrüge fallen, da sie sowohl verfahrens- als auch materiellrechtliche Aspekte enthält. Insofern gilt im Einzelnen:

a) Das Vollstreckungsmodell bei der Kompensationsentscheidung weist verfahrensrechtliche Elemente auf, indem es den Weg der Entscheidungsfindung des Gerichts zum Urteil und hierbei vorzunehmende Prozesshandlungen betrifft, namentlich die Aufklärung und Feststellung derjenigen Umstände, die insoweit von Bedeutung sind. Rechtsfehler in diesem Bereich sind mit einer Verfahrensrüge zu beanstanden.

b) Daneben enthält die Entscheidung aber auch materiellrechtliche Implikationen. Dies betrifft insbesondere die Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter die einschlägigen Rechtssätze. Wendet das Tatgericht die Rechtsregeln über die Kompensationsentscheidung nicht an, obwohl dies nach den Umständen des Falls geboten wäre, begeht es einen sachlich-rechtlichen Fehler bei der Handhabung der Rechtsfolge.

c) Außerdem kann das sachliche Recht im Einzelfall auch betroffen sein, wenn die getroffenen Feststellungen zu der Erörterung drängen, ob die Regeln über die Kompensation im Wege der Vollstreckungslösung anzuwenden sind, und die Urteilsgründe eine solche Auseinandersetzung vermissen lassen. Rechtsfehler in diesem Bereich finden auf die Sachrüge Beachtung.

4. Über die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Wege der Vollstreckungslösung hat das mit der Sache befasste Gericht von Amts wegen zu entscheiden. Die vorherige Erhebung einer Verzögerungsrüge ist hierfür auch nach den durch das am 3. Dezember 2011 in Kraft getretene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und

strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeführten Regelungen der §§ 198, 199 GVG nicht erforderlich.


Entscheidung

1010. BGH 4 StR 503/19 - Beschluss vom 10. Juni 2020 (LG Essen)

Ablehnung von Beweisanträgen (keine Entscheidung über die Unwirksamkeit einer nach Fristsetzung oder Fristablauf durchgeführten Beweiserhebung); Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (durch die Tat erlangte Vermögenswerte).

§ 244 Abs. 6 Satz 3 StPO; § 73 Abs. 1 StGB; § 73d StGB

1. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob eine nach Fristsetzung oder Fristablauf durchgeführte Beweiserhebung eine vollständige oder partielle Unwirksamkeit der Fristsetzung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO zur Folge hat. Denn eine erst im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung eingetretene Unwirksamkeit der vom Vorsitzenden angeordneten Frist ist von der Angriffsrichtung der Verfahrensrüge, mit welcher das Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen und die Angemessenheit der Frist beanstandet wird, nicht umfasst.

2. Nach § 73 Abs. 1 StGB unterliegen Vermögensgegenstände, die der Täter durch oder für eine rechtswidrige Tat erlangt hat, der Einziehung. Durch die Tat erlangt im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB ist ein Vermögenswert, wenn er dem Täter unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs derart zugeflossen ist, dass er der faktischen Verfügungsgewalt des Täters unterliegt.


Entscheidung

1007. BGH 4 StR 374/19 - Beschluss vom 18. März 2020 (LG Hagen)

Absolute Revisionsgründe; Besetzungseinwand (Zulässigkeit einer Besetzungsrüge: kein Nachschieben von Gründen; keine förmliche Feststellung der Verhinderung eines im Urlaub befindlichen Richters); unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe: Kurierfahrten); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Darlegungsanforderungen bei biostatistischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen in Bezug auf DNA-Mischspuren).

§ 222b Abs. 1 Satz 2 StPO; § 261 StPO; § 338 Abs. 1 Nr. 1b StPO; § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG; § 25 Abs. 1 StGB; § 27 Abs. 1 StGB

1. Die Zulässigkeit einer Besetzungsrüge setzt voraus (§ 338 Abs. 1 Nr. 1b StPO), dass der Besetzungseinwand bereits in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht „rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form“ geltend gemacht worden ist. Die Vorschrift nimmt damit Bezug auf § 222b Abs. 1 Satz 2 StPO, der bestimmt, dass die Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, anzugeben sind. Alle Beanstandungen müssen gleichzeitig geltend gemacht werden. Ein Nachschieben von Gründen ist nicht statthaft. Mit der erst im Revisionsverfahren vorgetragenen Begründung kann der Angeklagte deshalb nicht mehr gehört werden.

2. Eine förmliche Feststellung der Verhinderung eines im Urlaub befindlichen Richters durch den Gerichtspräsidenten ist nicht erforderlich. Eine Verhinderung durch Urlaub ist offenkundig. Dies gilt auch dann, wenn von dem Urlaub des Mitglieds des Spruchkörpers nur einzelne Sitzungstage einer auf mehrere Tage anberaumten Hauptverhandlung betroffen sind oder der Urlaub erst beantragt und bewilligt wird, nachdem ein Verfahren bereits terminiert und eine Besetzungsmitteilung erfolgt war. Die grundsätzliche Bestimmung des gesetzlichen Richters durch die Terminierung führt nicht dazu, dass damit die mitwirkenden Richter unabänderlich feststünden, da auch nach einer Terminsbestimmung eine Änderung der Richterbank eintreten kann, etwa durch Krankheit, Abordnung, Eintritt in den Ruhestand, anderweitige vorrangige Dienstgeschäfte oder auch Urlaub, zumal wenn weitläufig im Voraus terminiert wird.

3. Es begegnet daher keinen rechtlichen Bedenken, wenn einem nach dem Geschäftsverteilungsplan für die Mitwirkung an dem Verfahren bestimmten Richter auch nach der Terminierung einer Hauptverhandlung und nach Mitteilung der Besetzung Urlaub an Tagen gewährt wird, die als Sitzungstage anberaumt sind, wenn dies mit den dienstlichen Belangen zu vereinbaren ist.

4. Eine Verhinderung tritt auch dann ein, wenn sie an einzelnen anberaumten Terminstagen, nicht notwendig bereits am ersten Hauptverhandlungstag, besteht. Ob ein Vorsitzender in diesem Falle für die Hauptverhandlung einen Vertreter heranzieht oder ob er eine Verhinderung an einzelnen Tagen durch eine Umterminierung zu beseitigen sucht, ist seinem pflichtgemäßen Ermessen überlassen.

5. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln muss für eine zutreffende Einordnung des Tatbeitrags eines Kuriers auf das Umsatzgeschäft insgesamt abgestellt werden. Maßgeblich ist für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe dabei, welche Bedeutung der konkreten Beteiligungshandlung im Rahmen des Gesamtgeschäfts zukommt. Erschöpft sich der Tatbeitrag eines Drogenkuriers im bloßen Transport von Betäubungsmitteln, liegt selbst dann keine Täterschaft vor, wenn ihm Handlungsspielräume hinsichtlich der Art und Weise des Transports verbleiben. Dies gilt entsprechend für denjenigen, der den eigentlichen Kurier anwirbt. Eine andere Bewertung kommt nur in Betracht, wenn der Beteiligte erhebliche, über den reinen Transport hinausgehende Tätigkeiten entfaltet, am An- und Verkauf des Rauschgifts unmittelbar beteiligt ist oder sonst ein eigenes Interesse am weiteren Schicksal des Gesamtgeschäfts hat, weil er eine Beteiligung am Umsatz oder zu erzielenden Gewinn erhalten soll.

6. Nach der neueren Rechtsprechung muss in den in der forensischen Praxis gebräuchlichen Verfahren lediglich das Gutachtenergebnis in Form der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaussage in numerischer Form mitgeteilt werden, sofern sich die Untersuchungen auf eindeutige Einzelspuren beziehen und keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen. Bei Mischspuren, d.h. solchen Spuren, die mehr als zwei Allele in einem DNA-System aufweisen und demnach von mehr als einer einzelnen Person stammen, ist jedoch in den

Urteilsgründen weiterhin mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer anderen Person zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, ob dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war.


Entscheidung

888. BGH 6 StR 103/20 - Beschluss vom 30. Juni 2020 (LG Hannover)

Keine Festlegung der rechtlichen Grenzen der Hauptverhandlung durch Entscheidung über die Haftfrage (Vertrauen; rechtlicher Hinweis).

§ 265 StPO

Eine Begrenzung des Haftbefehls auf bestimmte Taten begründet für den Angeklagten keinen Vertrauenstatbestand dahingehend, dass eine Verurteilung wegen der weiteren Taten nicht mehr in Betracht kommt.


Entscheidung

849. BGH 3 StR 102/20 - Beschluss vom 25. Juni 2020 (LG Dresden)

Verstoß gegen Mitteilungspflicht hinsichtlich verständigungsbezogener Gespräche (informelle Verständigung; Beruhen).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 337 StPO

1. Nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO hat der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes über Erörterungen gemäß §§ 202a, 212 StPO zu berichten, die vor der Hauptverhandlung stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist. Kommt es zu solchen Erörterungen nach Beginn der Hauptverhandlung, aber außerhalb derselben, so hat der Vorsitzende nach § 243 Abs. 4 S. 2 StPO auch dies und ihren wesentlichen Inhalt bekanntzugeben, und zwar regelmäßig alsbald nach der Fortsetzung. Diese Mitteilungspflichten bestehen erst recht, wenn die betreffenden Erörterungen zu einer Einigung geführt haben.

2. Nach dem in Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entwickelten normativen Beruhensbegriff (siehe zuletzt BVerfG HRRS 2020 Nr. 340) ist die Frage des Beruhens bei Verstößen gegen veständigungsbezogene Mitteilungspflichten in wertender Gesamtbetrachtung zu beurteilen. Dabei kommt es maßgebend auch auf die Bedeutung der Transparenzvorschriften für die Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit an. Dass eine unzureichende Information der Öffentlichkeit Einfluss auf das Urteil hat, kann unter normativen Gesichtspunkten nur ausnahmsweise ausgeschlossen werden. Unabhängig vom zu beurteilenden Einzelfall kommt dies nicht in Betracht, wenn die vor oder außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gespräche auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren.


Entscheidung

876. BGH 5 StR 189/20 - Beschluss vom 23. Juni 2020 (LG Bremen)

Abweichen von verkündeter Urteilsformel und Urteilstenor der Urteilsurkunde (keine Prüfung durch das Revisionsgericht von Amts wegen; Erforderlichkeit der Verfahrensrüge).

§ 268 StPO; § 344 StPO

Der Senat hält eine Verfahrensrüge für erforderlich, um ein Abweichen des Urteilstenors aus der zu den Akten gebrachten Urteilsurkunde von der verkündeten Urteilsformel in der Revisionsinstanz zu erkennen. Eine Prüfung von Amts wegen findet nicht statt (a. A. – nicht tragend – BGH [1. Strafsenat] HRRS 2020 Nr. 363).


Entscheidung

923. BGH StB 29/18 - Beschluss vom 30. April 2020 (LG Hamburg)

Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde im Verfahren über die Anordnung von Gewahrsam nach Polizei- und Ordnungsrecht; Verfahrenskostenhilfe.

§ 70 FamFG; § 76 Abs. 1 FamFG; § 13 HmbSOG

Im Falle einer behördlich angeordneten Freiheitsentziehung zum Zweck der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam nach den Vorschriften des Polizei- und Ordnungsrechts richtet sich der Rechtsschutz nach § 70 FamFG. Insoweit gilt:

a) Die Rechtsbeschwerde gegen die Feststellung, dass eine Freiheitsentziehung in der Zeit von der vorläufigen Festnahme bis zur Bekanntgabe der Haftentscheidung des Amtsgerichts rechtswidrig war, ist analog § 70 Abs. 4 FamFG nicht eröffnet.

b) Die Rechtsbeschwerde findet auch dann analog § 70 Abs. 4 FamFG nicht statt, wenn sie sich gegen die Art und Weise des behördlichen Gewahrsamsvollzugs richtet.

c) Ob das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde zugelassen hat, ist ohne Bedeutung. Eine solche Zulassung ist – in den oben Buchst. a) und b) genannten Fällen – verfahrensfehlerhaft und bindet das Rechtsbeschwerdegericht nicht.


Entscheidung

863. BGH 3 StR 595/19 - Beschluss vom 26. Mai 2020 (LG Düsseldorf)

Rücknahme der Revision (Rechtsmittel; Wirksamkeit; deklaratorischer Beschluss; eindeutige und zweifelsfreie Erklärung; Vorbehalt weiterer Ausführungen; Bedingung; prozessuale Handlungsfähigkeit; Irrtum).

§ 302 StPO

1. Eine wirksame Rücknahme der Revision liegt grundsätzlich in einer Erklärung, die eindeutig und zweifelsfrei auf eine Beendigung des Revisionsverfahrens und damit den Eintritt der Rechtskraft des zunächst angegriffenen Urteils gerichtet. Liegt eine solche Erklärung vor, kommt dem angefügten Satz, dass weitere Ausführungen vorbehalten bleiben, regelmäßig nicht die Bedeutung zu, dass der Angeklagte seine Rücknahmeerklärung mit einer Bedingung verknüpft hat, die die Wirksamkeit der Rücknahme in Frage stellen könnte.

2. Ein Angeklagter muss bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung in der Lage sein, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird allein durch eine Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr

ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen. Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit, geht dies zu seinen Lasten.

3. Schätzt der Angeklagte die Rechtsfolgen der Revisionsrücknahme falsch ein, liegt regelmäßig lediglich ein auf einer rechtlichen Fehlvorstellung beruhender Irrtum vor, der die Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme nicht berührt.


Entscheidung

955. BGH 2 StR 79/20 - Beschluss vom 16. Juni 2020 (LG Hanau)

Teileinstellung bei mehreren Taten (Unmöglichkeit einer Einziehungsanordnung im subjektiven Verfahren hinsichtlich eingestellter Verfahrensbestandteile); erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Subsidiarität).

§ 73a Abs. 1 StGB; § 73c Satz 1 StGB; § 154 Abs. 2 StPO

1. Ist das Verfahren in der Hauptverhandlung durch Beschluss gemäß § 154 Abs. 2 StPO hinsichtlich einiger Taten vorläufig eingestellt worden, ist eine auf diese Taten bezogene Einziehungsanordnung im subjektiven Verfahren nicht mehr möglich.

2. Die in § 73a Abs. 1 i.V.m. § 73c Satz 1 StGB geregelte erweiterte Einziehung von Taterträgen ist gegenüber der Einziehung von Taterträgen nach § 73 Abs. 1 StGB subsidiär.


Entscheidung

851. BGH 3 StR 134/20 - Beschluss vom 26. Mai 2020 (LG Aurich)

Beginn der Revisionsbegründungsfrist bei Zustellung durch Einlegung des Urteils in einen Briefkasten.

§ 345 Abs. 1 StPO; § 180 ZPO

Wird das Urteil an einem Samstag durch Einlegung in einen Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung zugestellt, kommt es für den Beginn der Revisionsbegründungsfrist nicht darauf an, wann üblicherweise mit einer Leerung zu rechnen ist oder diese tatsächlich vorgenommen wird.


Entscheidung

1019. BGH 4 StR 654/19 - Beschluss vom 29. Juni 2020

Verteidigerwechsel (Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers).

§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO

1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nur aufzuheben, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen wichtigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Auf diese am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene Vorschrift finden die in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätze weiterhin Anwendung.

2. Danach ist Voraussetzung für die Aufhebung einer Beiordnung, dass konkrete Umstände vorgetragen werden, aus denen sich die endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses ergibt. Differenzen zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten über die Verteidigungsstrategie rechtfertigen für sich genommen die Entpflichtung nicht. Ein wichtiger Grund wird eher fernliegen oder gar ausgeschlossen sein, wenn die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses vom Beschuldigten schuldhaft herbeigeführt wurde.


Entscheidung

946. BGH 1 StR 596/19 - Beschluss vom 12. Mai 2020 (LG Offenburg)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Umgang mit Aussagen tatbeteiligter Zeugen).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Soll ein nicht geständiger Angeklagter überwiegend durch die Angaben eines selbst tatbeteiligten Zeugen überführt werden, muss das Tatgericht die für die Richtigkeit der Aussage sprechenden Gesichtspunkte umfassend prüfen, sie ohne Verstoß gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze würdigen und dies im Urteil deutlich machen. Dafür ist es in einem Fall mit unterschiedlichen Angaben tatbeteiligter Personen erforderlich, die Umstände der Entstehung und den näheren Inhalt der den Angeklagten belastenden Aussage sowie deren Entwicklung darzustellen und zu bewerten. Erhöhte Anforderungen an die Sorgfalt und Vollständigkeit der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind dabei zu stellen, wenn die belastenden Angaben nur mittelbar über Vernehmungspersonen in die Hauptverhandlung eingeführt werden können.


Entscheidung

929. BGH 1 StR 143/20 - Beschluss vom 18. Juni 2020 (LG Tübingen)

Adhäsionsverfahren (Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne ultra petita“).

§ 403 StPO; § 308 Abs. 1 ZPO

Das Verbot des § 308 Abs. 1 ZPO, einer Partei zuzusprechen, was nicht beantragt ist, gilt auch im Adhäsionsverfahren.