HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2020
21. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

537. BGH 4 StR 307/19 – Beschluss vom 11. März 2020 (LG Halle)

Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit (kein Strafklageverbrauch bei Einstellung allein durch die Staatsanwaltschaft).

§ 153 Abs. 1 StPO; § 153 Abs. 1 StPO; § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO

Im Gegensatz zu einer gerichtlichen Verfahrenseinstellung gemäß § 153 Abs. 2 StPO, nach der eine Fort-

führung des Verfahrens nur unter den Voraussetzungen des § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO möglich ist, kommt einer Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO allein durch die Staatsanwaltschaft kein auch nur begrenzter Strafklageverbrauch zu.


Entscheidung

535. BGH 4 StR 30/20 – Beschluss vom 12. März 2020 (LG Siegen)

Absolute Revisionsgründe (verspätete Urteilsabsetzung).

§ 338 Nr. 7 StPO

Eine verspätete Urteilsabsetzung kann die Richtigkeit und Vollständigkeit der Urteilsgründe beeinflussen. Daher besteht ein zwingender Aufhebungsgrund auch bei geringer Fristüberschreitung und ohne Rücksicht darauf, ob das Urteil solche Mängel aufweist.


Entscheidung

495. BGH StB 36/18 – Beschluss vom 12. Februar 2020 (LG Hamburg)

Rechtsbeschwerde gegen die Anordnung der Freiheitsentziehung nach Polizeirecht (Zulässigkeit; abdrängende Sonderzuweisung; amtsgerichtliche Gewahrsamsanordnung; Erledigung in der Hauptsache; Gefahr der Begehung oder Fortsetzung einer Straftat; Prognose; Unverzüglichkeitsgebot; Unerlässlichkeit der Freiheitsentziehung).

§ 13 HmbSOG; § 13a HmbSOG; § 70 FamFG

1. Das Hamburgische Sicherheits- und Ordnungsrecht sieht als Rechtsmittel gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts grundsätzlich die Rechtsbeschwerde gemäß §§ 70 ff. FamFG vor. Nach der im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO abdrängenden Sonderzuweisung des § 13a Abs. 2 Satz 2 HmbSOG ist für das Verfahren über den Gewahrsam gemäß § 13 HmbSOG das Buch 7 des FamFG in der jeweils geltenden Fassung heranzuziehen. In diesem Buch, welches das Verfahren für bundesrechtlich angeordnete Freiheitsentziehungen zum Gegenstand hat, sind zwar die Rechtsmittel – mit Ausnahme der ergänzenden Vorschrift des § 429 FamFG – nicht gesondert geregelt. Indes finden die §§ 70 ff. FamFG als – im Buch 1 enthaltene – allgemeine Vorschriften Anwendung auf die in den weiteren Büchern normierten Verfahren.

2. Sofern im Fall einer Freiheitsentziehung nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 HmbSOG die amtsgerichtliche Gewahrsamsanordnung in der Hauptsache erledigt ist, können nach § 13a Abs. 2 Satz 3 HmbSOG sowohl der Betroffene als auch die beteiligte Polizeibehörde die Richtigkeit der Entscheidung nachträglich im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom Landgericht überprüfen lassen, ohne dass es auf ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis, namentlich ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 62 FamFG, ankommt. Der Fortfall der Beschwer wirkt sich insoweit nicht auf die Zulässigkeit der Beschwerde aus.

3. Die Begehung oder Fortsetzung einer Straftat i.S.d. § 13 Abs. 1 Nr. 2 HmbSOG steht unmittelbar bevor, wenn im konkreten Fall nachvollziehbare Tatsachen indizieren, dass sofort oder in allernächster Zeit ein straftatbedingter Schaden eintreten wird. Ausreichend ist die tatsachengestützte Überzeugung von der hohen Wahrscheinlichkeit einer künftigen Tatbegehung. Eine Gewissheit ist nicht erforderlich.

4. Der Verstoß gegen das in § 13a Abs. 1 Satz 1 HmbSOG verankerte Unverzüglichkeitsgebot hat grundsätzlich zur Folge, dass die behördliche Ingewahrsamnahme rechtswidrig war und dies auf Antrag des Betroffenen nach Maßgabe des § 428 Abs. 2 FamFG festzustellen ist. Jedoch schlägt der Mangel nicht auf die von dem Gericht angeordnete Freiheitsentziehung durch; diese ergeht aufgrund eines Antrags der beteiligten Behörde in einem eigenen Verfahren unter selbständigen Voraussetzungen. Ihre Rechtmäßigkeit hängt allein davon ab, dass das für sie vorgeschriebene Verfahren eingehalten wird und die für sie bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, der Richter selbst also fehlerfrei vorgeht und entscheidet.


Entscheidung

527. BGH 2 StR 498/19 – Beschluss vom 11. Dezember 2019 (LG Gera)

Ablehnung von Beweisanträgen (Anforderungen an eine Zurückweisung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit; Hinzuziehung eines Sachverständigen bei Verdacht einer Hirnschädigung des Angeklagten).

§ 244 Abs. 3, 4 und 5 StPO

1. Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Tatsachen, wenn der Nachweis ihres Vorliegens im Ergebnis nichts erbringen kann, weil er die Beweiswürdigung nicht zu beeinflussen vermag. Zur Prüfung der Erheblichkeit ist die unter Beweis gestellte Tatsache wie eine erwiesene Tatsache in das bisherige Beweisergebnis einzufügen; es ist zu fragen, ob hierdurch die Beweislage in einer für den Urteilsspruch relevanten Weise beeinflusst würde. Dabei ist die Beweistatsache als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen.

´2. Steht eine Hirnschädigung im Raum, liegt regelmäßig die Annahme eigener Sachkunde fern. Ob bei dem Angeklagten eine psychische Erkrankung tatsächlich vorliegt, vermag nur ein Sachverständiger mit einem medizinischen Spezialwissen anhand des konkreten Falles zuverlässig zu beurteilen.


Entscheidung

541. BGH 4 StR 544/19 – Urteil vom 12. März 2020 (LG Stendal)

Anforderungen an die Durchführung einer Wahllichtbildvorlage (sequentielle Wahllichtbildvorlage); Entziehung der Fahrerlaubnis (Begründung der Anordnung der Maßregel; Anordnung einer Sperrfrist: Erforderlichkeit einer Gesamtwürdigung der Tatumstände bei Fehlen einer Katalogtat).

Nr. 18 Abs. 2 Satz 1 RiStBV; § 69 StGB; § 69 Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

1. Die sequentielle Wahllichtbildvorlage zeichnet sich dadurch aus, dass der Zeuge das Lichtbild von jeweils einer Person sieht und ihm nacheinander die Lichtbilder mehrerer Personen gezeigt werden. Der höhere Beweiswert einer solchen sequentiell durchgeführten Wahllichtbildvorlage beruht vor allem darauf, dass dem Zeugen in Ermangelung zeitgleich vorgelegter weiterer Lichtbilder die

Identifizierung im Wege eines - in der Praxis häufig vorkommenden - Ausschlussverfahrens am Maßstab eines (relativen) Ähnlichkeitsurteils regelmäßig verschlossen ist. Der Zeuge kann und muss vielmehr bei jedem einzelnen Bild bzw. bei jeder einzelnen Person ausschließlich auf sein aktuelles Erinnerungsbild zurückgreifen.

2. Die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung ist im Urteil gemäß § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO zu begründen. Soll wegen einer nicht im Katalog des § 69 Abs. 2 StGB enthaltenen Straftat eine isolierte Sperrfrist für die Erteilung der Fahrerlaubnis angeordnet werden, so ist eine Gesamtwürdigung der Tatumstände und der Täterpersönlichkeit erforderlich, die die fehlende Eignung des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen belegt, wobei der Umfang der Darlegung vom Einzelfall abhängt.

3. Zwar liegt es neben den in § 69 StGB aufgeführten Regelfällen auch bei typischen Verkehrsdelikten, zu denen das Fahren ohne Fahrerlaubnis zählt, nahe, dass der Täter zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet und daher eine isolierte Sperrfrist anzuordnen ist. Eine auf den Einzelfall bezogene Begründung wird hierdurch jedoch nicht entbehrlich. Zudem bedarf es bei der Bemessung der Sperrfrist näherer Darlegung zur voraussichtlichen Dauer der Ungeeignetheit.


Entscheidung

523. BGH 2 StR 263/19 – Beschluss vom 9. Januar 2020 (LG Bonn)

Urteilsgründe (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit von Gutachten über Grundstücksbewertungen).

§ 267 StPO

1. Folgt das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen, so ist es sachlich-rechtlich verpflichtet, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind. Liegt der Begutachtung indes eine allgemein anerkannte, häufig angewandte (standardisierte) Untersuchungsweise zugrunde, so kann die Mitteilung des Ergebnisses, zu dem ein anerkannter Sachverständiger gelangt ist, ausreichend sein. Werden allerdings Einwendungen gegen die Zuverlässigkeit der Begutachtung geltend gemacht, können nähere Ausführungen erforderlich sein, die das Revisionsgericht in die Lage versetzen, nachzuprüfen, ob die Einwände zu Unrecht erhoben worden sind.

2. Grundstücksbewertungen liegen zwar allgemein anerkannte Grundsätze zugrunde, die auch normativ in der Verordnung über die Grundsätze für die Ermittlung der Verkehrswerte von Grundstücken festgeschrieben sind. Es handelt sich aber bei der Anwendung dieser Grundsätze nicht um ein „standardisiertes“ Verfahren, dessen Ergebnis sich unter Anwendung dieser Grundsätze von selbst ergibt oder versteht. Erforderlich ist in jedem Fall eine konkret auf den Einzelfall bezogene Würdigung der wertbildenden Faktoren; insoweit unterscheiden sich Grundstücksbewertungen von anderen in der Rechtsprechung anerkannten Begutachtungen, denen wie etwa bei der Bestimmung von Blutgruppen oder des Wirkstoffgehalts von Betäubungsmitteln standardisierte Verfahrensweisen ohne (wesentliche) Beurteilungsspielräume zugrunde liegen.


Entscheidung

477. BGH 3 StR 313/19 – Beschluss vom 4. Februar 2020 (LG Koblenz)

Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung (Einlösung der Zusage der bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufenen Wahrunterstellung bei der Urteilsfindung; berechtigtes Vertrauen; ausnahmsweise ausdrückliche Erwägung in der Beweiswürdigung); Rügeverkümmerung und Hinweispflicht.

§ 244 Abs. 3 StPO; § 261 StPO; § 274 StPO; § 265 StPO

1. Das Tatgericht muss bei der Urteilsfindung die Zusage einlösen, eine bestimmte Behauptung zugunsten des Angeklagten als wahr zu behandeln. Die Urteilsgründe dürfen sich mit einer – bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufen gebliebenen – Wahrunterstellung nicht in Widerspruch setzen. Denn der Angeklagte kann grundsätzlich auf die Einhaltung einer solchen Zusage vertrauen und danach seine Verteidigung einrichten. In diesem berechtigten Vertrauen wird er enttäuscht, wenn das Gericht von der Wahrunterstellung abrückt.

2. Stehen die Urteilsgründe nicht in Widerspruch zu der als wahr unterstellten Tatsache, so müssen sie sich grundsätzlich nicht explizit zu ihr verhalten. Im Einzelfall kann die in der Wahrunterstellung liegende Zusage es allerdings ausnahmsweise weitergehend gebieten, die Tatsache im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich mit zu erwägen. Das ist dann der Fall, wenn sich dies angesichts der im Übrigen gegebenen Beweislage aufdrängt und die Beweiswürdigung sich sonst als lückenhaft erwiese.


Entscheidung

475. BGH 3 StR 264/19 – Beschluss vom 18. Dezember 2019 (LG Stade)

Besitz und Sich-Verschaffen kinderpornographischer Schriften (Konkurrenzen; Verdrängung; Auffangtatbestand; Verjährung; Wiederaufleben; gleichzeitiger Besitz mehrerer kinderpornographischer Schriften); Strafklageverbrauch (Begriff der prozessualen Tat; Verhältnis zum materiellrechtlichen Tatbegriff).

§ 264 StPO; Art. 103 Abs. 3 GG

1. Zwar ist der prozessuale Tatbegriff gegenüber dem des sachlichen Rechts eigenständig. Handelt es sich aber materiellrechtlich um eigenständige Taten, so liegen insoweit in der Regel auch unterschiedliche Taten im prozessualen Sinne vor. Eigenständige materiellrechtliche Taten bilden nur dann eine einheitliche prozessuale Tat, wenn die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern wegen der ihnen zugrundeliegenden Vorkommnisse unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden wird.

2. Zwar tritt der Besitz kinderpornographischer Schriften als Auffangtatbestand regelmäßig hinter dem Sichverschaffen des § 184b Abs. 4 Satz 1 StGB aF zurück. Steht jedoch der Verfolgbarkeit des verdrängenden Sichverschaffens-Tatbestands das Verfahrenshindernis der Verjährung entgegen, so lebt der subsidiäre Besitztatbestand wieder auf und der Angeklagte ist aus diesem zu bestrafen.


Entscheidung

504. BGH 1 StR 518/19 – Beschluss vom 12. Februar 2020 (LG Nürnberg-Fürth)

Urteilsgründe (erforderliche Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten).

§ 267 Abs. 1 StPO

Regelmäßig ist eine Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten im Urteil erforderlich, damit das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob sich der Tatrichter unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise eine tragfähige Grundlage für seine Überzeugungsbildung verschafft und das materielle Recht richtig angewendet hat. Es bedarf somit einer geschlossenen und zusammenhängenden Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung des Angeklagten, um die Beweiswürdigung des Tatrichters auf sachlich-rechtliche Fehler hin überprüfen zu können.


Entscheidung

496. BGH StB 8/20 – Beschluss vom 7. April 2020

Beschwerde gegen die Beschlagnahme eines sichergestellten Kraftfahrzeugs (Zulässigkeit; Begründetheit; Beschwerdebefugnis; Halter, Eigentümer; Möglichkeit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung; fortbestehende Bedeutung als Beweismittel; Einziehung als Tatmittel).

§ 304 StPO; § 94 StPO

Nach § 304 Abs. 2 StPO ist zur Beschwerde berechtigt, wer durch die beanstandete Maßnahme betroffen ist, mithin wer durch diese in der Wahrnehmung geschützter Rechte und Interessen beschränkt wird. Für die Zulässigkeit der Beschwerde ist dabei die Möglichkeit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung ausreichend. Ob diese tatsächlich vorliegt, ist eine Frage der Begründetheit des Rechtsmittels. Gemessen an diesen Maßstäben ist regelmäßig beschwerdebefugt, wer unter Vorlage der Zulassungsbescheinigung Teil II plausibel geltend macht, Eigentümer eines beschlagnahmten Fahrzeugs und somit durch die Beschlagnahme des Fahrzeugs in seinen Rechten beeinträchtigt zu sein.