HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2020
21. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

156. BGH 2 StR 172/19 – Beschluss vom 30. Juli 2019 (LG Darmstadt)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (Anforderungen an die Darstellung des Vorliegens von Eingangsmerkmalen; Gesamtwürdigung mehrerer Ursachen der Schuldunfähigkeit; Gesamtwürdigung bei hoher Alkoholtoleranz; Aussicht auf einen Behandlungserfolg; Therapiewille); Vollrausch (Tenorierung).

§ 20 StGB; § 323a StGB

1. Bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit handelt es sich um Rechtsfragen, auch wenn das Gericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen ist. Die Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Der Tatrichter hat sowohl bei der Entscheidung über die Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB als auch zur Frage der eingeschränkten Schuldfähigkeit nicht nur die Darlegungen des medizinischen Sachverständigen eigenständig zu überprüfen; er ist auch verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen.

2. Das Zusammenwirken mehrerer Beeinträchtigungen erfordert stets eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung ihrer Auswirkungen auf das seelische Gefüge des Täters.

3. Ein Zustand der Schuldunfähigkeit kann nicht erst bei sinnloser Trunkenheit eintreten, sondern schon in einem früheren Stadium erreicht sein kann; wann dies der Fall ist, kann nur durch eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren Kennzeichen des Tatgeschehens und der Persönlichkeitsverfassung des Täters, in die auch der Blutalkoholwert einzubeziehen ist, entschieden werden.

4. Schließt sich der Tatrichter den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutach-

tens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.

5. Das Fehlen von Ausfallerscheinungen oder alkoholbedingten Einschränkungen kann zwar grundsätzlich gegen eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sprechen; doch ist bei alkoholgewöhnten Tätern zu berücksichtigen, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus erheblich auseinander fallen können und sich gerade bei Alkoholikern oft eine durch „Übung“ erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten zeigt.

6. Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt setzt die hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg voraus. Erforderlich ist insoweit, dass sich in Persönlichkeit und Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen. Die Aussicht auf einen Behandlungserfolg muss daher positiv festgestellt werden.

7. Fehlender Therapiewille allein hindert die Unterbringung nach § 64 StGB grundsätzlich nicht, er kann aber ein gegen die Erfolgsaussicht der Entwöhnungsbehandlung sprechendes Indiz sein. Ob der Mangel an Therapiebereitschaft den Schluss auf das Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Maßregel rechtfertigt, lässt sich nur aufgrund einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände beurteilen.

8. Bei einer Verurteilung wegen Vollrausches (§ 323a StGB) ist im Urteilstenor anzugeben, ob die Verurteilung wegen vorsätzlichen oder fahrlässigen Vollrausches erfolgte.


Entscheidung

149. BGH 1 StR 415/19 – Beschluss vom 12. November 2019 (LG Aschaffenburg)

Gesamtstrafenbildung (Zumessung der Gesamtstrafe nach gesamtstrafenspezifischen Kriterien).

§ 54 Abs. 1 Satz 2 StGB

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Bildung der Gesamtstrafe ein eigenständiger und zu begründender Strafzumessungsakt, der gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB durch die Erhöhung der höchsten Einzelstrafe (sog. Einsatzstrafe) erfolgt und sich nicht an der Summe der Einzelstrafen oder an rechnerischen Grundsätzen zu orientieren hat, sondern an gesamtstrafenspezifischen Kriterien. Dabei sind bei der erforderlichen Gesamtschau der Taten namentlich das Verhältnis der einzelnen Straftaten zueinander, insbesondere ihr Zusammenhang, ihre größere oder geringere Selbständigkeit, ferner die Häufigkeit der Begehung, die Gleichheit oder Verschiedenheit der verletzten Rechtsgüter und der Begehungsweise sowie das Gesamtgewicht des abzuurteilenden Sachverhalts zu berücksichtigen. Ferner ist in einer Würdigung der Person des Täters seine Strafempfindlichkeit, seine größere oder geringere Schuld im Hinblick auf das Gesamtgeschehen und seine innere Einstellung zu den Taten zu erörtern.


Entscheidung

169. BGH 2 StR 512/19 – Beschluss vom 18. Dezember 2019 (LG Aachen)

Zusammentreffen von Milderungsgründen (Gesamtwürdigung für die konkrete Strafzumessung; Auswahl bei zwei zur Verfügung stehenden Strafrahmen).

§ 21 StGB; § 50 StGB

1. Für die konkrete Strafzumessung ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände geboten ist, darunter auch diejenigen, die eine Strafrahmenmilderung bewirkt haben; diese sind mit verringertem Gewicht in die Gesamtwürdigung einzustellen. Wenn in einzelnen Entscheidungen darauf hingewiesen wird, der vertypte Milderungsgrund „als solcher“ dürfe bei der Strafzumessung im engeren Sinne nicht berücksichtigt werden, so ist damit nicht gemeint, dass ein bestimmter Milderungsgrund verbraucht sei, sondern lediglich klargestellt, dass das abstrakt-rechtliche Wertungsergebnis als solches, das die gesetzliche Grundlage für die Strafrahmenmilderung bietet, selbst keinen strafzumessungserheblichen Umstand darstellt. Hingegen ist die Tatsache, dass der Angeklagte nur vermindert schuldfähig war, für die Bewertung der relevanten Strafzumessungstatsachen regelmäßig von wesentlicher Bedeutung und wirkt dann bei der Strafzumessung in engerem Sinne strafmildernd.

2. Ob die Verneinung eines besonders schweren Falles unter Berufung auf einen vertypten Milderungsgrund die Anwendung des § 50 StGB ohne weiteres nach sich zieht, weil der gesetzlich vorgesehene Milderungsgrund bereits „verbraucht“ sei, bedarf keiner Entscheidung.

3. In Fällen, in denen aufgrund besonderer Umstände – etwa verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB – sowohl eine Strafrahmenverschiebung als auch die Annahme eines minder schweren Falls möglich ist, stehen zwei unterschiedliche Strafrahmen zur Wahl, von denen einer für den Angeklagten günstiger sein kann. Zwar ist das Tatgericht nicht verpflichtet, den jeweils für den Angeklagten günstigeren Strafrahmen zugrunde zu legen. Welchen Strafrahmen es wählt, unterliegt seiner pflichtgemäßen Entscheidung auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller für die Wertung von Tat und Täter in Betracht kommenden Umstände, gleichgültig, ob sie der Tat innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen. Die Urteilsgründe müssen aber belegen, dass das Gericht die unterschiedlichen Möglichkeiten erkannt und geprüft hat. Ist ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falls gegeben, bedarf es einer Gesamtabwägung aller unter dem Aspekt des gerechten Schuldausgleichs erheblichen Umstände zur Prüfung, ob es beim Strafrahmen des besonders schweren Falles bleibt, ob der Normalrahmen oder – bei vertypten Milderungsgründen – der nach § 49 StGB gemilderte Rahmen des besonders schweren Falles Anwendung finden soll.


Entscheidung

160. BGH 2 StR 194/19 – Urteil vom 18. Dezember 2019 (LG Rostock)

Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Anwendbarkeit im Jugendstrafrecht).

§ 73 StGB; § 2 Abs. 2 GG; § 6 JGG; § 8 Abs. 3 JGG

1. Die Einziehung ist nach ständiger Rechtsprechung keine Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art. Ihr fehlt es daher schon an dem Strafcharakter.

2. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Verhängung der in §§ 73 ff. StGB vorgesehenen Maßnahmen auch im Jugendstrafrecht gemäß § 2 Abs. 2 i.V.m. § 8 Abs. 3 JGG zulässig, und zwar unabhängig davon, ob der Wert noch im Vermögen des Jugendlichen oder des nach Jugendstrafrecht zu behandelnden Heranwachsenden vorhanden ist. Dementsprechend sieht das Jugendgerichtsgesetz in § 76 Satz 1 JGG für das vereinfachte Jugendverfahren die Anordnung der Einziehung vor. Dass die Einziehung nach den §§ 73 ff. StGB eine zulässige Nebenfolge im Sinne des § 8 Abs. 3 JGG ist, setzt auch § 459g StPO voraus, der unter anderem Regelungen für die Vollstreckung dieser Nebenfolge enthält. Vom Anwendungsbereich des § 8 Abs. 3 Satz 1 JGG nimmt § 6 JGG – als Ausnahmevorschrift – lediglich die dort genannten Nebenfolgen aus. Diese gesetzgeberische Entscheidung kann nicht allein mit dem allgemeinen Hinweis auf erzieherische Interessen unterlaufen werden.

3. Ob die Einziehung von Taterträgen im Jugendstrafrecht zwingend anzuordnen ist, muss der Senat hier nicht entscheiden.


Entscheidung

141. BGH 5 StR 589/19 – Beschluss vom 10. Dezember 2019 (LG Berlin)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen diagnostizierter Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (Handeln aufgrund eines unwiderstehlichen Zwangs; Persönlichkeitsstörung allein ermöglicht keine Aussage über Schuldfähigkeit; Darlegungsanforderungen).

§ 63 StGB; § 20 StGB

Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ kann eine Unterbringung nach § 63 StGB nur dann rechtfertigen, wenn sicher feststeht, dass der Täter aufgrund der Persönlichkeitsstörung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat. Zudem muss die diagnostizierte Störung auch nach rechtlichen Maßstäben bereits den Schweregrad des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit erreichen, was – insbesondere bei einem noch jungen Angeklagten – konkretisierende Darlegungen zum Ausprägungsgrad der Störung sowie zu ihrem Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten erfordert (vgl. zum Ganzen bereits BGH HRRS 2018 Nr. 832).


Entscheidung

132. BGH 5 StR 469/19 – Beschluss vom 11. Dezember 2019 (LG Berlin)

Sachlich-rechtlich fehlerhaftes Unterlassen der Prüfung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Beschaffungskriminalität als Indiz sozialer Gefährdung).

§ 64 StGB

Für die Annahme eines Hangs zum übermäßigen Genuss von Betäubungsmitteln ist von erheblicher indizieller Bedeutung, dass der Betroffene sozial gefährlich oder gefährdet erscheint. Das kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Betroffene Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass dadurch seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt werden, sondern insbesondere auch bei Beschaffungskriminalität.


Entscheidung

137. BGH 5 StR 537/19 – Beschluss vom 27. November 2019 (LG Bremen)

Erstreckung der Einziehung von Wertersatz auf durch Betrug erlangte Sozialleistungen (Erlöschen eines dem Verletzten aus der Tat erwachsenen Anspruchs; keine Entstehung des Rückerstattungsanspruchs zu Gunsten des Leistungsträgers).

§ 73 StGB; § 73c StGB; § 73e StGB

§ 73e Abs. 1 StGB steht der Einziehung des Wertes von Taterträgen (§ 73c Satz 1 StGB) in Bezug auf vom Angeklagten ertrogene Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nicht entgegen, wenn mangels Rücknahme innerhalb der in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X bezeichneten Jahresfrist kein Erstattungsanspruch nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X entstehen konnte. Die Ausnahmevorschrift des § 73e Abs. 1 StGB gilt vielmehr nur, soweit ein dem Verletzten aus der (rechtswidrigen) Tat erwachsener Anspruch „erloschen“ ist. Die Anwendung der Ausschlussklausel über ihren Wortlaut hinaus würde dem Ziel der §§ 73, 73c StGB zuwiderlaufen, dem Täter die erlangten Verbrechensgewinne wieder zu entziehen.


Entscheidung

112. BGH 3 StR 277/19 – Beschluss vom 13. November 2019 (LG Osnabrück)

Gesamtschuldnerische Haftung bei der Einziehung von Taterträgen.

§ 73 StGB; § 421 BGB

Die Bestimmung der Quote, in Höhe derer ein Angeklagter als Gesamtschuldner im Rahmen der Einziehung von Taterträgen haftet, kann wegen der auf die Betroffenen begrenzten Rechtskraft weder dadurch beeinflusst werden, dass gegen weitere Tatbeteiligte in einem früheren Urteil keine Einziehung angeordnet wurde noch dadurch, dass weitere Tatbeteiligte bisher nicht verurteilt wurden; selbst der Umstand, dass diese nicht namentlich bekannt sind, hindert die Feststellung einer gesamtschuldnerischen Haftung nicht. Der Umfang der Gesamtschuldnerschaft ist vielmehr ohne Rückgriff auf frühere Urteile nach den Feststellungen in den Urteilsgründen zu bestimmen.