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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 169

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 512/19, Beschluss v. 18.12.2019, HRRS 2020 Nr. 169


BGH 2 StR 512/19 - Beschluss vom 18. Dezember 2019 (LG Aachen)

Zusammentreffen von Milderungsgründen (Gesamtwürdigung für die konkrete Strafzumessung; Auswahl bei zwei zur Verfügung stehenden Strafrahmen).

§ 21 StGB; § 50 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die konkrete Strafzumessung ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände geboten ist, darunter auch diejenigen, die eine Strafrahmenmilderung bewirkt haben; diese sind mit verringertem Gewicht in die Gesamtwürdigung einzustellen. Wenn in einzelnen Entscheidungen darauf hingewiesen wird, der vertypte Milderungsgrund „als solcher“ dürfe bei der Strafzumessung im engeren Sinne nicht berücksichtigt werden, so ist damit nicht gemeint, dass ein bestimmter Milderungsgrund verbraucht sei, sondern lediglich klargestellt, dass das abstrakt-rechtliche Wertungsergebnis als solches, das die gesetzliche Grundlage für die Strafrahmenmilderung bietet, selbst keinen strafzumessungserheblichen Umstand darstellt. Hingegen ist die Tatsache, dass der Angeklagte nur vermindert schuldfähig war, für die Bewertung der relevanten Strafzumessungstatsachen regelmäßig von wesentlicher Bedeutung und wirkt dann bei der Strafzumessung in engerem Sinne strafmildernd.

2. Ob die Verneinung eines besonders schweren Falles unter Berufung auf einen vertypten Milderungsgrund die Anwendung des § 50 StGB ohne weiteres nach sich zieht, weil der gesetzlich vorgesehene Milderungsgrund bereits „verbraucht“ sei, bedarf keiner Entscheidung.

3. In Fällen, in denen aufgrund besonderer Umstände - etwa verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB - sowohl eine Strafrahmenverschiebung als auch die Annahme eines minder schweren Falls möglich ist, stehen zwei unterschiedliche Strafrahmen zur Wahl, von denen einer für den Angeklagten günstiger sein kann. Zwar ist das Tatgericht nicht verpflichtet, den jeweils für den Angeklagten günstigeren Strafrahmen zugrunde zu legen. Welchen Strafrahmen es wählt, unterliegt seiner pflichtgemäßen Entscheidung auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller für die Wertung von Tat und Täter in Betracht kommenden Umstände, gleichgültig, ob sie der Tat innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen. Die Urteilsgründe müssen aber belegen, dass das Gericht die unterschiedlichen Möglichkeiten erkannt und geprüft hat. Ist ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falls gegeben, bedarf es einer Gesamtabwägung aller unter dem Aspekt des gerechten Schuldausgleichs erheblichen Umstände zur Prüfung, ob es beim Strafrahmen des besonders schweren Falles bleibt, ob der Normalrahmen oder - bei vertypten Milderungsgründen - der nach § 49 StGB gemilderte Rahmen des besonders schweren Falles Anwendung finden soll.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 18. Juli 2019 im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen 1 und 4 der Urteilsgründe und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben; die Feststellungen bleiben bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung, wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit versuchter Körperverletzung, wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln sowie wegen Betruges zu drei Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Strafzumessung in den Fällen 1 und 4 der Urteilsgründe erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Die Einzelstrafen in diesen Fällen können keinen Bestand haben.

a) Das Landgericht hat nicht beachtet, dass das Verbot der Doppelverwertung gemäß § 50 StGB nur für die Strafrahmenbestimmung gilt.

aa) Zu Fall 1 der Urteilsgründe nimmt die Strafkammer einen minder schweren Fall im Sinne des § 250 Abs. 3 StGB an, wobei „ausdrücklich das Vorliegen der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB und der Umstand, dass die Tat im Versuchsstadium nach §§ 22, 23 Abs. 1 StGB stecken geblieben ist, zur Bejahung eines minder schweren Falles heranzuziehen war“. Eine weitere Milderung „nach § 21, § 23 Abs. 2, 46, 49 StGB“ komme im Hinblick auf § 50 StGB nicht mehr in Betracht, da diese Milderungsgründe bereits verbraucht seien „und auch im Rahmen der weiteren Strafzumessung im engeren Sinne keine Berücksichtigung mehr finden“ könnten.

Dies ist insoweit rechtsfehlerhaft, als für die konkrete Strafzumessung eine Gesamtbetrachtung aller Umstände geboten ist, darunter auch diejenigen, die eine Strafrahmenmilderung bewirkt haben; diese sind mit verringertem Gewicht in die Gesamtwürdigung einzustellen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2014 - 3 StR 452/13; Senat, Beschluss vom 9. Dezember 1992 - 2 StR 535/92 Rn. 5 f.; MüKo-StGB/Maier, 3. Aufl., § 50 Rn. 13, 14; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 50 Rn. 4 mwN; SSW/Eschelbach, StGB, 4. Aufl., § 50 Rn. 17). Wenn in einzelnen Entscheidungen darauf hingewiesen wird, der vertypte Milderungsgrund „als solcher“ dürfe bei der Strafzumessung im engeren Sinne nicht berücksichtigt werden (BGH, Beschluss vom 27. Juli 1987 - 3 StR 308/87; Senat, Urteil vom 6. September 1989 - 2 StR 353/89, NJW 1989, 3230), so ist damit nicht gemeint, dass ein bestimmter Milderungsgrund verbraucht sei, sondern lediglich klargestellt, dass das abstrakt-rechtliche Wertungsergebnis als solches, das die gesetzliche Grundlage für die Strafrahmenmilderung bietet, selbst keinen strafzumessungserheblichen Umstand darstellt. Hingegen ist die Tatsache, dass der Angeklagte nur vermindert schuldfähig war, für die Bewertung der relevanten Strafzumessungstatsachen regelmäßig von wesentlicher Bedeutung und wirkt dann bei der Strafzumessung in engerem Sinne strafmildernd (Senat, Beschluss vom 9. Dezember 1992 - 2 StR 535/92 Rn. 6).

bb) Gleiches gilt für die Strafzumessung zu Fall 4 der Urteilsgründe. Die Strafkammer hat einen besonders schweren Fall im Sinne des § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB trotz des Umstands, dass der Angeklagte bei der Tat ein Messer bei sich führte, mit der Erwägung verneint, dass der Angeklagte im Zustand verminderter Schuldfähigkeit handelte. Ob die Verneinung eines besonders schweren Falles unter Berufung auf einen vertypten Milderungsgrund die Anwendung des § 50 StGB ohne weiteres nach sich zieht, weil - wie die Strafkammer meint - der gesetzlich vorgesehene Milderungsgrund bereits „verbraucht“ sei, bedarf keiner Entscheidung (vgl. Senat, Beschluss vom 11. September 2003 - 2 StR 230/03, NStZ 2004, 200, 201; Sobota, HRRS 2015, 339 jeweils mwN). Die konkrete Strafzumessung, bei der zugunsten des Angeklagten lediglich berücksichtigt wurde, dass die Widerstandshandlung von vergleichsweise geringer Intensität war, lässt besorgen, dass die Strafkammer (wiederum in Verkennung der Reichweite des § 50 StGB) Umstände, die eine Strafrahmenmilderung bewirkt haben, außer Betracht gelassen hat.

b) Die Einzelstrafaussprüche in den Fällen 1 und 4 der Urteilsgründe können auch deswegen keinen Bestand haben, weil die Urteilsgründe nicht erkennen lassen, dass sich das Landgericht des Umstands bewusst war, dass in Fällen, in denen aufgrund besonderer Umstände - etwa verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB - sowohl eine Strafrahmenverschiebung als auch die Annahme eines minder schweren Falls möglich ist, zwei unterschiedliche Strafrahmen zur Wahl stehen, von denen einer für den Angeklagten günstiger sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 1987 - 3 StR 341/87, StV 1988, 385; MüKo-StGB/Maier, aaO, § 50 Rn. 15). Zwar ist das Tatgericht nicht verpflichtet, den jeweils für den Angeklagten günstigeren Strafrahmen zugrunde zu legen. Welchen Strafrahmen es wählt, unterliegt seiner pflichtgemäßen Entscheidung auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller für die Wertung von Tat und Täter in Betracht kommenden Umstände, gleichgültig, ob sie der Tat innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juni 2015 - 5 StR 201/15; Urteile vom 3. Mai 1966 - 5 StR 173/66, BGHSt 21, 57, 59; vom 19. Januar 1982 - 1 StR 734/81, NStZ 1982, 200; Schönke/Schröder/Kinzig, aaO § 50 Rn. 2 mwN). Die Urteilsgründe müssen aber belegen, dass das Gericht die unterschiedlichen Möglichkeiten erkannt und geprüft hat (Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 933, 1113 mwN). Ist - wie hier in Fall 4 der Urteilsgründe - ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falls gegeben, bedarf es einer Gesamtabwägung aller unter dem Aspekt des gerechten Schuldausgleichs erheblichen Umstände zur Prüfung, ob es beim Strafrahmen des besonders schweren Falles bleibt, ob der Normalrahmen oder - bei vertypten Milderungsgründen - der nach § 49 StGB gemilderte Rahmen des besonders schweren Falles Anwendung finden soll (Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO Rn. 1143 f. mwN).

2. Der Wegfall der Einzelstrafen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich. Vom Rechtsfehler nicht betroffen sind die auch ansonsten rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen; sie können bestehen bleiben. Der Wegfall zweier Einzelstrafen lässt auch die Unterbringungsentscheidung unberührt.

3. Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, bei einer neu zu bildenden Gesamtstrafe eine mögliche Zäsurwirkung der Verurteilung des Angeklagten durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 20. November 2018 in den Blick zu nehmen (die Taten der Fälle 3, 4 und 5 der Urteilsgründe sind vor dem 20. November 2018 begangen), dessen Vollstreckungsstand das angefochtene Urteil allerdings nicht mitteilt. Er wird dabei gegebenenfalls das verfahrensrechtliche Verbot der reformatio in peius aus § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO zu beachten haben, das zur Folge hat, dass dem Angeklagten ein durch die fehlerhafte Anwendung des § 55 StGB etwa erlangter Vorteil nicht mehr genommen werden darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Juni 2016 - 4 StR 73/16, NStZ-RR 2016, 275, 276 mwN; vom 14. September 2016 - 5 StR 315/16).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 169

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 204

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner