HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2020
21. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

45. BGH 2 StR 468/18 – Urteil vom 9. Oktober 2019 (LG Darmstadt)

Täter-Opfer-Ausgleich (Grundsatz; Entbehrlichkeit eines vollständigen Schadensausgleichs; objektivierter Prüfungsmaßstab; Bestimmung des Leistungszweckes durch den Täter).

§ 46a Nr. 1 StGB

1. § 46a Nr. 1 StGB, der sich vor allem auf den Ausgleich der immateriellen Folgen der Tat bezieht, setzt voraus, dass der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, die Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutmacht oder dieses Ziel jedenfalls ernsthaft erstrebt hat. Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters Ausdruck der Übernahme von Verantwortung ist und das Opfer die Leistung des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptieren muss. Die Wiedergutmachung muss auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen gerichtet sein.

2. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein vollständiger Schadensausgleich (im zivilrechtlichen Sinn) keine zwingende Voraussetzung für die Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB ist. So ist zum einen erforderlich, dass der Täter im Bemühen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, die Tat „ganz oder zum überwiegenden Teil“ wiedergutgemacht hat; ausreichend ist zum anderen aber auch, dass der Täter dieses Ziel ernsthaft erstrebt. Aus diesem Grund gibt eine vergleichende Gegenüberstellung von zivilrechtlich geschuldetem Schadensersatz einerseits und angebotener bzw. geleisteter Ausgleichszahlung andererseits zwar eine gewisse Orientierung über das Ausmaß der Schadensbemühungen des Täters, sie erlaubt aber für den Fall, dass die versprochenen bzw. geleisteten Zahlungen hinter den geschuldeten zurückbleiben, nicht ohne nähere Betrachtung den Rückschluss, dass es damit an einer „umfassenden Wiedergutmachung“ fehlt. Ansonsten würde jeder zwischen Täter und Opfer geschlossene Vergleich, der nicht zu einem vollständigen zivilrechtlichen Ausgleich führt, aus dem Anwendungsbereich des § 46a Nr. 1 StGB herausfallen.

3. Allerdings darf für die Annahme eines friedensstiftenden Ausgleichs im Sinne von § 46a Nr. 1 StGB nicht ausschließlich auf die – selbst einvernehmliche – subjektive Bewertung von Tatopfer und Täter abgestellt werden, wie sie in einer getroffenen Übereinkunft zum Ausdruck kommt. Erforderlich ist vielmehr vorrangig die Prüfung, ob die konkret erfolgten oder ernsthaft angebotenen Leistungen des Täters nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle und immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können. Dies folgt schon daraus, dass überhaupt nur angemessene und nachhaltige Leistungen die erlittenen Schädigungen ausgleichen und zu einer Genugtuung für das Opfer führen können.

4. Demgegenüber verlangt § 46a Nr. 2 StGB, der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Regelung über den Täter-Opfer-Ausgleich, die an den Ausgleich der durch die Tat entstandenen materiellen Schäden anknüpft, auf der Seite der Opfer, dass sie „ganz oder zum überwiegenden Teil“ entschädigt worden sind sowie täterseitig „erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht“. Damit eine erfolgte Schadenswiedergutmachung ihre friedensstiftende Wirkung entfalten kann, muss der Täter einen über eine rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Beitrag erbringen. Dafür genügt die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein nicht. Vielmehr muss sein Verhalten Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein. Mit diesen Anforderungen wird den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprochen, einen Täter-Opfer-Ausgleich dann anzunehmen, wenn die vollständige oder wenigstens teilweise Entschädigung des Opfers durch die persönliche Leistung oder den persönlichen Verzicht des Täters die materielle Entschädigung möglich geworden ist.

5. Ein Täter kann, gegebenenfalls im kommunikativen Prozess mit dem Opfer, bestimmen, welche Zwecke er mit seinen Leistungen verfolgt. Auf gesetzliche Tilgungsbestimmungen kommt es erst an, wenn eine Tilgungsbestimmung durch den Täter nicht erfolgt ist. Vorrangig bleibt deshalb die Frage, ob eine solche Tilgungsbestimmung erfolgt ist und welchen Inhalt sie hat. Fehlen im Urteil ausdrückliche Ausführungen dazu, kann das Revisionsgericht regelmäßig nicht überprüfen, ob der Tatrichter die richtige Alternative des § 46a StGB zur Anwendung gebracht hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht hinreichend entnehmen lässt, ob eine Tilgungsbestimmung erfolgt bzw. eine Tilgungsvereinbarung erfolgt ist.


Entscheidung

79. BGH 1 StR 364/19 – Beschluss vom 19. November 2019 (LG Augsburg)

Berufsverbot (Missbrauch von Beruf oder Gewerbe bzw. Verletzung der mit dem Beruf oder Gewerbe verbundenen Pflichten: erforderlicher berufstypischer Zusammenhang der Tat, reine Ermöglichung der Straftat durch die Berufsausübung nicht ausreichend).

§ 70 Abs. 1 StGB

1. Ein Missbrauch von Beruf oder Gewerbe im Sinne des § 70 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der Täter unter bewusster Missachtung der ihm gerade durch seinen Beruf oder sein Gewerbe gestellten Aufgaben seine Tätigkeit ausnutzt, um einen diesen Aufgaben zuwiderlaufenden Zweck zu verfolgen. Dazu genügt ein bloß äußerer Zusammenhang in dem Sinne, dass der Beruf dem Täter lediglich die Möglichkeit

gibt, Straftaten zu begehen, nicht. Die strafbare Handlung muss vielmehr Ausfluss der jeweiligen Berufs- oder Gewerbetätigkeit selbst sein und einen berufstypischen Zusammenhang erkennen lassen (st. Rspr.); sie muss symptomatisch für die Unzuverlässigkeit des Täters im Beruf erscheinen.

2. Eine Verletzung der mit dem Beruf oder Gewerbe verbundenen Pflichten ist nur zu bejahen, wenn der Täter bei Tatbegehung gegen eine der speziellen Pflichten, die ihm bei der Ausübung seines Berufs oder Gewerbes auferlegt sind, verstößt. Auch hierfür bedarf es eines berufstypischen Zusammenhangs der Tat zu der ausgeübten beruflichen Tätigkeit.


Entscheidung

73. BGH 1 StR 170/19 – Urteil vom 9. Oktober 2019 (LG Nürnberg-Fürth)

Einziehung (Begriff des durch die Tat Erlangten: Erlangung faktischer Verfügungsgewalt, nur kurzfristig und transitorisches Erhalten nicht ausreichend; Verhältnis von Einziehung des durch die Tat Erlangten und des für die Tat Erlangten: grundsätzlich keine Anrechnung).

§ 73 Abs. 1 StGB

1. „Durch“ die Tat erlangt im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB ist ein Vermögenswert – nicht anders als „aus“ der Tat unter Geltung des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB aF –, wenn er dem Täter oder Teilnehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs derart zugeflossen ist, dass er dessen faktischer Verfügungsgewalt unterliegt. Auf zivilrechtliche Besitz- oder Eigentumsverhältnisse kommt es dabei nicht an, weil es sich bei dem Erlangen um einen tatsächlichen Vorgang handelt (st. Rspr.). Faktische Verfügungsgewalt liegt jedenfalls dann vor, wenn der Tatbeteiligte im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf den betreffenden Vermögensgegenstand nehmen kann. Unerheblich ist dabei im Regelfall, ob das Erlangte beim Täter oder Teilnehmer verbleiben oder es von diesem absprachegemäß an einen anderen weitergegeben werden soll.

2. Hat der Angeklagte allerdings durch die Tat etwas nur kurzfristig und transitorisch erhalten, weil er dieses – ohne faktische Verfügungsgewalt hieran erlangt zu haben – weiterzuleiten hatte, so hat er den Gegenstand nicht im Sinne von § 73 Abs. 1, § 73c StGB erlangt. Ein solcher nur transitorischer und damit für die Einziehung unerheblicher Besitz wurde in dem Fall angenommen, in dem ein vom Käufer als Bote eingesetzter Kurier vereinbarungsgemäß Bargeld zu dem Verkäufer von Betäubungsmitteln zu verbringen hatte. Anders liegt der Fall aber jedenfalls, wenn der vom Verkäufer eingesetzte Kurier vom Abnehmer der Betäubungsmittel den Kaufpreis zur Weitergabe an den Verkäufer erhalten hat (vgl. BGHSt 36, 251 ff.). Ein bloß transitorischer Besitz liegt überdies regelmäßig nicht vor, wenn der Täter oder Beteiligte den durch die Tat erlangten Gegenstand über eine nicht unerhebliche Zeit unter Ausschluss der anderen Tatbeteiligten in seiner faktischen Verfügungsgewalt hält. Dies ist auch dann anzunehmen, wenn vor der Weitergabe des Taterlangten eine längere Fahrtstrecke zurückzulegen ist, auf der der Angeklagte faktisch alleine über das Erlangte verfügen kann.

3. Der Einziehung des durch die Tat Erlangten beim Täter steht es nicht entgegen, dass gleichzeitig eine Einziehung des für die Tat erlangten Tatlohns angeordnet wird. Auch eine höhenmäßige Begrenzung der Einziehung nach § 73 Abs. 1 StGB auf den Betrag der Verkaufserlöse als (für den wirtschaftlich Berechtigten) maximal denkbare Bereicherung aus den Betäubungsmittelgeschäften beziehungsweise eine Anrechnung des beim Angeklagten eingezogenen Wertes des Tatlohns auf das durch die Tat erlangte verbietet sich schon deshalb, weil es für die Einziehung nach § 73 Abs. 1 StGB ausschließlich auf den Vermögenszufluss beim jeweiligen Einziehungsadressaten ankommt. Durch oder für die Tat erlangte Vermögensvorteile anderer Tatbeteiligter (insbesondere des Haupttäters als wirtschaftlichem Hauptprofiteur der Straftat), von denen wegen des geltenden Bruttoprinzips etwaige Kosten ohnedies nicht in Abzug zu bringen sind, haben von vornherein außer Betracht zu bleiben.


Entscheidung

74. BGH 1 StR 173/19 – Beschluss vom 24. Oktober 2019 (LG Mannheim)

Einziehung (keine Einziehung bei Erlöschen des zu Grunde liegenden Steueranspruchs durch Verjährung des Anspruchs).

§ 73 Abs. 1 StGB; § 73e Abs. 1 StGB; § 370 Abs. 1 AO; § 47 AO

Das Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis wegen Verjährung (§ 47 AO) führt zum Ausschluss der Einziehung des Tatertrages oder des Wertersatzes nach § 73e Abs. 1 StGB.


Entscheidung

61. BGH 4 StR 408/19 – Beschluss vom 25. September 2019 (LG Magdeburg)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (Schwachsinn: Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose).

§ 20 StGB; § 63 StGB

1. Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des Schwachsinns unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber noch nicht. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters. Dabei ist darzulegen, wie sich die festgestellte Intelligenzminderung auf Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Täters auswirkt und warum das sich daraus ergebende Störungsbild bei wertender Betrachtung in seiner Gesamtheit ein Ausmaß erreicht hat, das die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit in der Erscheinungsform des Schwachsinns rechtfertigt.

2. Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Dazu sind alle wesentlichen prognoserelevanten Umstände in den Urteilsgründen darzustellen und zusammenfassend zu würdigen. Als prognoseungünstig heran-

gezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein.


Entscheidung

10. BGH 5 StR 343/19 – Urteil vom 13. November 2019 (LG Kiel)

Einziehung von Taterträgen (Erlangen eines Vermögenswertes bei mehreren Beteiligten; faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsgewalt; späterer Mittelabfluss; Abgrenzung zu transitorischem Besitz).

§ 73 StGB

1. Ein Vermögenswert ist im Rechtssinne aus der Tat erlangt, wenn er dem Täter oder Teilnehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands in irgendeiner Phase des Tatablaufs so zugeflossen ist, dass er hierüber tatsächliche Verfügungsgewalt ausüben kann.

2. Bei mehreren Beteiligten ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass sie zumindest eine faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand haben. Dies ist der Fall, wenn sie im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf ihn nehmen können. Unerheblich ist bei der gebotenen gegenständlichen (tatsächlichen) Betrachtungsweise dagegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Täter oder Teilnehmer eine unmittelbar aus der Tat gewonnene (Mit)Verfügungsmacht später aufgegeben hat und der zunächst erzielte Vermögenszuwachs durch Mittelabflüsse etwa bei Beuteteilung gemindert wurde


Entscheidung

13. BGH 5 StR 468/19 – Urteil vom 27. November 2019 (LG Berlin)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (erforderliche Wahrscheinlichkeit bei der Prognose der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger Taten; Abwendbarkeit der vom Täter ausgehenden Gefahr durch Behandlung außerhalb des Maßregelvollzugs; Vollstreckung).

§ 63 StGB

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB setzt voraus, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig (§ 20 StGB) oder vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Die bloße Möglichkeit der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten kann die Anordnung der besonders schwerwiegenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hingegen nicht rechtfertigen.


Entscheidung

69. BGH 4 StR 546/19 – Beschluss vom 21. November 2019 (LG Bielefeld)

Grundsätze der Strafzumessung (herabwürdigende Äußerungen des Täters).

§ 46 Abs. 2

Soweit eine Äußerung sich als zulässiger Teil der Verteidigung des Angeklagten darstellt und nicht lediglich dem Zweck dient, das Tatopfer herabzuwürdigen, darf sie nicht straferschwerend gewertet werden.


Entscheidung

67. BGH 4 StR 528/19 – Beschluss vom 24. Oktober 2019 (LG Detmold)

Verminderte Schuldfähigkeit (Anknüpfungstatsachen aus Sachverständigengutachten); Aufhebung des Urteils und der Feststellungen (Tenorierung: Zugrundelegung aufgehobener Feststellungen).

§ 21 StGB; § 353 Abs. 2 StPO

1. Es stellt einen sachlich-rechtlichen Mangel dar, wenn das Tatgericht, welches nach der Aufhebung eines früheren Urteils mit den Feststellungen zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufen ist, seinem Urteil nicht nur eigene, sondern auch aufgehobene Feststellungen zugrunde legt. Ein solcher Rechtsfehler ist hier zu besorgen. Bei der Prüfung einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit infolge einer alkoholischen Intoxikation lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, dass das Landgericht eine eigene Beweiserhebung zu den vom Sachverständigen verwerteten Zusatztatsachen vorgenommen hat.

2. Bei den Tatsachen, auf denen ein Sachverständiger sein Gutachten aufbaut, den „Anknüpfungstatsachen“, sind zwei Gruppen zu unterscheiden: solche, die nur er auf Grund seiner Sachkunde erkennen kann, und solche, die auch das Gericht mit den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Beweismitteln feststellen könnte. Die zur ersten Gruppe gehörenden Tatsachen, z.B. die von einem medizinischen Sachverständigen auf Grund ärztlicher Untersuchung oder ärztlicher Eingriffe gemachten Feststellungen, die sogenannten Befundtatsachen, können durch die gutachtlichen Ausführungen des Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt und vom Gericht verwertet werden. Wenn aber der Gutachter bei seiner Untersuchung außerdem erhebliche, z.B. das Tatgeschehen betreffende Tatsachen dadurch erfährt, dass er eine Auskunftsperson befragt oder der Vernehmung von Zeugen beiwohnt, so tut er dies nicht auf Grund einer fachkundigen Untersuchung, sondern mit Mitteln, deren sich auch das nicht fachkundige Gericht bedienen kann. Diese letzteren vom Sachverständigen ermittelten Tatsachen (Zusatztatsachen) müssen in zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden, etwa durch Vernehmung des Gutachters und (oder) der von ihm Angehörten als Zeugen, sofern es für das Gutachten oder aus anderen Gründen auf derartige Tatsachen ankommt. Sind die vom Sachverständigen – nicht auf Grund seiner besonderen Sachkunde – ermittelten Tatsachen offenkundig oder hat sich das Gericht anderweitig von ihrer Richtigkeit überzeugt, so kann der Sachverständige in seinem Gutachten von ihnen ausgehen.


Entscheidung

70. BGH 4 StR 595/19 – Beschluss vom 4. Dezember 2019 (LG Essen)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe.

§ 52 StGB; 54 StGB; § 55 StGB

1. Nach der Vorschrift des § 55 StGB ist unter Anwendung der §§ 53 und 54 StGB nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden, wenn ein bereits rechtskräftig Verurteilter vor Erledigung der gegen ihn erkannten Strafe wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren

Verurteilung begangen hat. Diese Regelung soll ihrem Grundgedanken nach sicherstellen, dass Taten, die bei gemeinsamer Aburteilung nach den §§ 53 und 54 StGB behandelt worden wären, auch bei getrennter Aburteilung dieselbe Behandlung erfahren, sodass der Täter im Ergebnis weder besser noch schlechter gestellt ist.

2. Hierbei kommt es maßgeblich allein auf die materielle Rechtslage und nicht auf die verfahrensrechtliche Situation an. Folgen der Beendigung der neu abgeurteilten Tat mehrere Verurteilungen des Täters nach, ist bei der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe von der frühesten nicht erledigten Verurteilung auszugehen. Dieser Verurteilung kommt regelmäßig eine Zäsurwirkung zu.


Entscheidung

92. BGH 1 StR 525/19 – Beschluss vom 19. November 2019 (LG Traunstein)

Einziehung (Erlangen eines Vermögenswerts durch die Tat bei mehreren Beteiligten: faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht, Unerheblichkeit der zivilrechtlichen Haftung).

§ 73 Abs. 1 StGB; § 830 BGB; § 840 Abs. 1 BGB

Ein Vermögenswert ist nach § 73 Abs. 1 StGB durch die Tat erlangt, wenn er dem Beteiligten in irgendeiner Phase des Tatablaufs unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands so zugeflossen ist, dass er hierüber tatsächliche Verfügungsgewalt ausüben kann (st. Rspr.). Bei mehreren Beteiligten genügt insofern, dass sie zumindest eine faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand erlangt haben. Dies ist der Fall, wenn sie im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf den Vermögensgegenstand nehmen können. Faktische Mitverfügungsgewalt kann – jedenfalls bei dem vor Ort anwesenden, die Beute oder Teile davon in den Händen haltenden Mittäter – auch dann vorliegen, wenn sich diese in einer Abrede über die Beuteteilung widerspiegelt. Denn damit verfügt der Mittäter zu seinen oder der anderen Beteiligten Gunsten über die Beute, indem er in Absprache mit diesen Teile des gemeinsam Erlangten sich selbst oder den anderen zuordnet. Eine zivilrechtliche (Mit-) Haftung nach § 840 Abs. 1, § 830 BGB genügt für die strafrechtliche Vermögensabschöpfung nicht.


Entscheidung

41. BGH 2 StR 447/19 – Beschluss vom 5. November 2019 (LG Köln)

Einziehung von Tatprodukten, Tatmitteln und Tatobjekten bei Tätern und Teilnehmern (Berücksichtigung bei der Strafzumessungsentscheidung).

§ 74 Abs. 1 Var. 2, Abs. 3 Satz 1 StGB

Eine Maßnahme nach § 74 Abs. 1 Var. 2, Abs. 3 Satz 1 StGB hat den Charakter einer Nebenstrafe und stellt damit eine Strafzumessungsentscheidung dar. Wird dem Täter ein ihm zustehender Gegenstand von nicht unerheblichem Wert auf der Grundlage von § 74 Abs. 1 StGB entzogen, ist dies ein bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafe und insoweit im Wege einer Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen angemessen zu berücksichtigen. Daran ist auch nach der Änderung des § 74 StGB durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I, S. 872) festzuhalten.