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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 61

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 408/19, Beschluss v. 25.09.2019, HRRS 2020 Nr. 61


BGH 4 StR 408/19 - Beschluss vom 25. September 2019 (LG Magdeburg)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (Schwachsinn: Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose).

§ 20 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des Schwachsinns unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber noch nicht. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters. Dabei ist darzulegen, wie sich die festgestellte Intelligenzminderung auf Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Täters auswirkt und warum das sich daraus ergebende Störungsbild bei wertender Betrachtung in seiner Gesamtheit ein Ausmaß erreicht hat, das die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit in der Erscheinungsform des Schwachsinns rechtfertigt.

2. Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Dazu sind alle wesentlichen prognoserelevanten Umstände in den Urteilsgründen darzustellen und zusammenfassend zu würdigen. Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 9. April 2019 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bleiben bestehen.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.

1. Nach den Feststellungen lernte der Beschuldigte im Herbst 2014 den damals acht Jahre alten Geschädigten G. kennen. In der Folgezeit wurde er in dessen Familie als „guter Freund“ integriert und hielt sich dort fast täglich auf. Teilweise schlief er mit dem Geschädigten mit Zustimmung von dessen Mutter in einem Einzelbett. In der Zeit von Januar bis Juni 2015 kam es zu mehreren sexuellen Handlungen zwischen dem Beschuldigten und dem Geschädigten.

In einem Fall folgte der Beschuldigte dem Geschädigten, als sich dieser zum Urinieren in ein Gebüsch begab. Dort zog er ihm Hose und Boxershorts herunter und bat ihn, in seinen Mund zu urinieren. Der Geschädigte kam der Bitte nach. Der Beschuldigte verspürte hierbei sexuelle Befriedigung (Fall II. 1. der Urteilsgründe). Als sich der Beschuldigte bei einer anderen Gelegenheit allein mit dem Geschädigten in dessen Familienwohnung aufhielt, folgte er ihm in das Badezimmer. Dort nahm er mit dem Einverständnis des Geschädigten dessen Penis in den Mund und manipulierte daran (Fall II. 2. der Urteilsgründe). Bei zwei verschiedenen Gelegenheiten manipulierte der Beschuldigte an dem Penis des Geschädigten. Dabei hielten sich beide in dem einen Fall allein in der Wohnung des Betreuers des Beschuldigten auf (Fall II. 3. der Urteilsgründe). Der andere Fall ereignete sich in der Umkleidekabine eines Schwimmbades (Fall II. 5. der Urteilsgründe). Schließlich veranlasste der Beschuldigte den Geschädigten in dessen Wohnung auch noch dazu, das Geschlechtsteil des Beschuldigten anzufassen und daran zu manipulieren (Fall II. 4. der Urteilsgründe).

Das Landgericht hat die Handlungen des Beschuldigten als schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in zwei Fällen (Fälle II. 1. und 2. der Urteilsgründe) und sexuellen Missbrauch von Kindern in drei Fällen bewertet (Fälle II. 3. bis 5. der Urteilsgründe). Dabei ist es davon ausgegangen, dass der Beschuldigte in allen Fällen wegen einer bei ihm bestehenden Minderbegabung, die die Voraussetzungen des Schwachsinns im Sinne des § 20 StGB erfülle, nicht in der Lage gewesen sei, das Unrecht seiner Taten einzusehen. Da von ihm aufgrund seines Zustands weitere gleichartige Taten zu erwarten seien, müsse davon ausgegangen werden, dass er auch für die Allgemeinheit gefährlich sei.

2. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Die Urteilsgründe belegen bereits nicht, dass bei dem Beschuldigten ein „Schwachsinn“ im Sinne des § 20 StGB vorliegt.

aa) Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund - wie bei dem Beschuldigten festgestellt - dem Eingangsmerkmal des Schwachsinns unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber noch nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2017 - 1 StR 55/17, Rn. 8; Urteil vom 31. August 1994 - 2 StR 366/94, BGHR StGB § 63 Zustand 17). Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters (vgl. BGH, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 StR 299/17, Rn. 12; Beschluss vom 5. Juli 2011 - 3 StR 173/11). Dabei ist darzulegen, wie sich die festgestellte Intelligenzminderung auf Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Täters auswirkt (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2013 - 4 StR 287/13, Rn. 8) und warum das sich daraus ergebende Störungsbild bei wertender Betrachtung in seiner Gesamtheit ein Ausmaß erreicht hat, das die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit in der Erscheinungsform des Schwachsinns rechtfertigt.

bb) Dem werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Das Landgericht hat lediglich mitgeteilt, dass der Beschuldigte bei der durchgeführten Testung einen Gesamtintelligenzquotienten von 67 IQ-Punkten aufgewiesen habe. Die Leistungen des Verbalteils seien dabei schlechter als die knapp über der Grenze zur Intelligenzminderung liegenden Leistungen im Handlungsteil gewesen. Bei den verschiedenen Subtests habe er teilweise durchschnittliche, aber auch sehr weit unterdurchschnittliche Leistungen gezeigt (UA 13). Der Beschuldigte sei deshalb in seiner Urteilsund Kritikfähigkeit erheblich eingeschränkt (UA 14). Angesichts dieses offensichtlich eine sehr hohe Schwankungsbreite aufweisenden Testergebnisses hätte näher dargestellt werden müssen, in welchen Bereichen der Beschuldigte deutlich unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten aufweist, wie sich diese Defizite in den verschiedenen Lebensbereichen auswirken und welches Ausmaß das Störungsbild in seiner Gesamtheit tatsächlich hat.

b) Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit bei den jeweiligen Taten begründet hat, erweisen sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Die Strafkammer hat angenommen, der Beschuldigte sei von einer „Legitimierung“ seiner Taten ausgegangen, weil seine gemeinsamen Übernachtungen mit dem Geschädigten in einem Einzelbett von dessen Mutter gebilligt worden seien. Dies ergebe sich schon daraus, dass der Beschuldigte keine Anstalten gemacht habe, um einer Entdeckung seiner Taten vorzubeugen (UA 14). Diese Schlussfolgerung wird von den Feststellungen nicht getragen. Die dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten fanden jeweils in eins-zu-eins-Situationen mit dem Geschädigten statt. Auch wurden jeweils abgeschirmte Örtlichkeiten (Gebüsch, Umkleidekabine, Wohnung des Betreuers in dessen Abwesenheit, alleiniger Aufenthalt in der Familienwohnung) für die Tatbegehung ausgewählt. Schließlich hätte sich die Strafkammer an dieser Stelle auch damit auseinandersetzen müssen, dass es während der gemeinsamen Übernachtungen offensichtlich zu keinen Übergriffen kam.

c) Zuletzt begegnet auch die Gefährlichkeitsprognose durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338 mwN). Dazu sind alle wesentlichen prognoserelevanten Umstände in den Urteilsgründen darzustellen und zusammenfassend zu würdigen. Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juli 1992 - 2 StR 293/92, BGHR § 56 Abs. 1 Sozialprognose 24).

bb) Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht. Soweit die Strafkammer darauf abgestellt hat, dass es bei dem Beschuldigten bereits seit 2010 zu Schwierigkeiten bei der „Einhaltung von Distanz und Nähe zu anderen Personen“ gekommen sei und dabei auch Vorwürfe „möglicher sexueller Missbrauchshandlungen im Sinne von grenzüberschreitendem Verhalten“ (UA 14) erhoben worden seien, fehlt es dafür an hinreichend konkreten tatsächlichen Feststellungen und entsprechenden Belegen. Auch wird nicht dargelegt, warum dem Umstand, dass die „partnerschaftlichen Aktivitäten“ des Beschuldigten inzwischen mehr im Bereich der Prostitution liegen, eine prognoseungünstige Bewertungsrichtung im Hinblick auf die Wiederholung von Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern zukommen soll. Schließlich hätte die Strafkammer auch erörtern und in ihre Gesamtwürdigung einstellen müssen, dass die Anlasstaten vor dem Hintergrund einer besonderen Täter-Opfer-Konstellation begangen wurden (Integration die Familie des Geschädigten, Billigung von gemeinsamen Übernachtungen durch die Mutter des Geschädigten), die sich nicht ohne weiteres wiederholen wird.

3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Geschehen bei den Anlasstaten können bestehen bleiben.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 61

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 36

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner