HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2018
19. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

991. BVerfG 2 BvR 1845/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 1. Oktober 2018 (KG)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Menschenwürdegarantie; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Mindestanforderungen an die Haftbedingungen im ersuchenden Staat; Beschränkung der Prüfung auf die Anstalten, in denen eine Inhaftierung konkret zu erwarten ist; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 3 EMRK; Art. 4 GRCh

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise die Menschenwürde des Verfolgten und sein Recht auf den gesetzlichen Richter und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht die Überprüfung der Haftbedingungen trotz allgemeiner Anhaltspunkte für eine Verletzung der konventions- und unionsgrundrechtlichen Mindeststandards im rumänischen Strafvollzug unter Berufung auf die jüngste Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 25. Juli 2018, C-220/18) lediglich auf diejenigen Anstalten beschränkt, in denen der Verfolgte absehbar inhaftiert sein wird, und wenn es die Mindeststandards insoweit ohne Vorlage an den EuGH für gewahrt erachtet.


Entscheidung

989. BVerfG 2 BvR 708/18 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. September 2018 (LG Aurich)

Auswertung sichergestellter Datenträger (Verdacht des Besitzes kinderpornographischer Schriften aufgrund eines Internet-Chats; Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; vorläufige Sicherstellung zur Durchsicht unter denselben Voraussetzungen wie eine Durchsuchung; Anfangsverdacht nur bei ausreichender tatsächlicher Grundlage; kriminalistische Erfahrung; Begründung eines Verdachts durch legales Verhalten; Beweisverwertungsverbot nicht ohne Weiteres bei rechtswidriger Beweiserhebung; Abwägung im Einzelfall; Gewicht des Verstoßes; hypothetisch rechtmäßiger Ermittlungsverlauf; regelmäßig kein Beschlagnahmeverbot bei beschuldigtem Zeugnisverweigerungsberechtigtem).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 13 GG; Art. 14 Abs. 1 GG; § 97 Abs. 5 StPO; § 102 StPO; § 110 StPO; § 184b StGB

1. Die Annahme eines Anfangsverdachts des Besitzes kinderpornographischer Schriften beruht auf einer ausreichenden tatsächlichen Grundlage, wenn aus einem Chat-Verlauf ein offenkundiges sexuelles Interesse des Urhebers an Kindern hervorgeht und die Gerichte es deshalb nach kriminalistischer Erfahrung für möglich halten, dass der mutmaßliche Verfasser der Beiträge zur Befriedigung seiner sexuellen Neigung strafrechtlich relevantes kinderpornographisches Material besitzt (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 25. April 2018 [= HRRS 2018 Nr. 464]).

2. Ein Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat kann bei Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte auch durch ein an sich legales Verhalten begründet werden. Solche Anhaltspunkte bestehen bei Internet-Chats, in denen der Verfasser offen und konkret von schweren Straftaten wie dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen und Kindern berichtet, auch dann, wenn es sich möglicherweise um bloße Phantasien handelt.

3. Die gerichtliche Bestätigung einer vorläufigen Sicherstellung der im Rahmen einer Durchsuchung aufgefundenen Datenträger zum Zwecke ihrer Sichtung greift in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung sowie – angesichts der Nähe der Maßnahme zur Beschlagnahme – in sein Besitzrecht ein. Das Wohnungsgrundrecht ist hingegen nicht mehr tangiert. Für die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Sicherstellung kommt es allerdings darauf an, ob bei ihrer Anordnung die Voraussetzungen für eine Durchsuchung (noch) erfüllt sind.

4. Voraussetzung jeder Durchsuchung und damit auch der Durchsicht nach § 110 StPO ist ein Anfangsverdacht, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.

5. Ein allgemeiner Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ohne Weiteres ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, ist dem Strafverfahrensrecht fremd. Die Frage ist vielmehr nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei können insbesondere die willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug oder ein besonders schwerwiegender Fehler ein Verwertungsverbot nach sich ziehen. Bei weniger schwerwiegenden Rechtsverletzungen kann auch ein Abstellen auf einen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlauf vertretbar sein.

6. Das Beschlagnahmeverbot aufgrund journalistischer Tätigkeit nach § 97 Abs. 5 StPO findet regelmäßig keine Anwendung, wenn der Zeugnisverweigerungsberechtigte selbst Beschuldigter ist.


Entscheidung

988. BVerfG 2 BvR 286/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. September 2018 (Hanseatisches OLG / LG Hamburg)

Vollzug der Sicherungsverwahrung und vollzugsöffnende Maßnahmen (Resozialisierungsgebot; Vollzugslockerungen; Ausführungen; begleitete Ausgänge; Versagung nur bei konkreter Flucht- oder Missbrauchsgefahr; Begleitung durch Vollzugsbedienstete; keine pauschale Koppelung von Ausführungen an vor- und nachbereitende Gespräche); Recht auf effektiven Rechtsschutz (Verbot der verkürzenden Auslegung von Anträgen; Absehen von einer Entscheidungsbegründung durch das Rechtsbeschwerdegericht).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 119 Abs. 3 StVollzG; § 13 HmbSVVollzG

1. Das Recht eines Sicherungsverwahrten auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn die Strafvollstreckungskammer seinen Antrag auf „Begleitausgänge“ verkürzend dahingehend auslegt, er begehre lediglich die Gewährung künftiger Ausgänge in Begleitung einer von der Justizvollzugsanstalt zugelassenen Person, obwohl er hilfsweise ausdrücklich auch Ausführungen durch Vollzugsbedienstete beantragt hatte.

2. Hat ein bereits langjährig in der Sicherungsverwahrung Untergebrachter in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Ausführungen oder Ausgänge beanstandungsfrei wahrgenommen, so verletzt die Versagung erneuter Ausführungen das Resozialisierungsgebot, wenn sie pauschal von vor- und nachbereitenden Gesprächen zur Entdeckung von Missbrauchs- und Fluchtrisiken abhängig gemacht werden.

3. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung auszurichten, schädlichen Auswirkungen insbesondere eines langjährigen Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Inhaftierten zu erhalten und zu festigen. Dies gilt auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung.

4. Der Wiedereingliederung und dem Erhalt der Lebensfähigkeit dienen unter anderem die Möglichkeiten vollzugslockernder und vollzugsöffnender Maßnahmen, durch die der Gefangene sich zudem beweisen und zu einer günstigeren Prognose gelangen kann.

5. Bei langjährig Inhaftierten können auch ohne Bestehen einer konkreten Entlassungsperspektive zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen verfassungsrechtlich geboten sein, bei denen die Justizvollzugsanstalt einer angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt.

6. Die Versagung von Lockungen darf nicht auf lediglich abstrakte Wertungen gestützt werden. Vielmehr sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu begründen. Ein Mangel an therapeutischer Aufarbeitung darf dabei berücksichtigt werden.

7. Die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte, Anträge sachgerecht im Sinne einer effektiven Durchsetzung des Begehrens auszulegen und ein „Leerlaufen“ des Rechtsschutzes zu verhindern.

8. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz bereits dann unvereinbar, wenn erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung bestehen.


Entscheidung

990. BVerfG 2 BvR 1649/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. September 2018 (KG / LG Berlin)

Versagung von Lockerungen und Langzeitbesuchen im Strafvollzug (Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen; Vollzugslockerungen; Ausführungen; Versagung nur bei konkreter Flucht- oder Missbrauchsgefahr; Beurteilungsspielraum der Justizvollzugsanstalt; Nachprüfung durch die Vollstreckungsgerichte; Schutz von Familienbeziehungen des Gefangenen; Besuchskontakte zum Ehepartner; Schutz des Besuchers als ungeeigneter Versagungsgrund); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtswegerschöpfung bei unzulässigem Rechtsmittel).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 11 Abs. 2 StVollzG; § 24 Abs. 2 StVollzG; § 109 StVollzG

1. Eine Strafvollstreckungskammer verkennt Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsanspruchs des Strafgefangenen, wenn sie der Justizvollzugsanstalt hinsichtlich der Versagung von Vollzugslockerungen einen deutlich zu weiten Beurteilungsspielraum einräumt, indem sie sich auf die Feststellung beschränkt, allein der Anstalt obliege die Einschätzung, ob der Gefangene für Lockerungsmaßnahmen geeignet sei.

2. Die Versagung von Langzeitbesuchen des Ehepartners eines Strafgefangenen in den geschlossenen Räumen der Justizvollzugsanstalt wird dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht gerecht, wenn als ausschlaggebender Versagungsgrund der Schutz des Besuchers vor möglichen Übergriffen des Gefangenen herangezogen wird, obwohl bereits ein regelmäßiger Besuchskontakt besteht und beide Ehepartner den Besuch wollen.

3. Die Versagung von Vollzugslockerungen nach mehrjährigem Freiheitsentzug berührt den grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen. Sie darf nicht auf lediglich abstrakte Wertungen gestützt werden. Vielmehr sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu begründen.

4. Bei langjährig Inhaftierten können auch ohne Bestehen einer konkreten Entlassungsperspektive zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen verfassungsrechtlich geboten sein, bei denen die Justizvollzugsanstalt einer angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt.

5. Der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eröffnet der Vollzugsbehörde bei ihrer Prognoseentscheidung einen Beurteilungsspielraum. Gleichwohl haben die Vollstreckungsgerichte den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat.

6. Beschränkungen der Besuchskontakte im Freiheitsentzug greifen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein; geht es um den Besuchskontakt zu Familienangehörigen, so ist das insoweit speziellere Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG berührt. Unter dessen Schutz stehen Familienbeziehungen des Gefangenen unabhängig davon, ob sie im Einzelfall zu dessen Resozialisierung beitragen können.

7. Eine Verfassungsbeschwerde ist regelmäßig mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf in unzulässiger Weise erhoben worden ist. Abweichendes gilt jedoch, wenn das Fachgericht den Antrag nicht hinreichend am Rechtsschutzziel orientiert ausgelegt und damit die Zulässigkeitsanforderungen überspannt hat oder wenn es hilfsweise Ausführungen zur Begründetheit gemacht und dem Bundesverfassungsgericht dadurch seine Fall- und Rechtsanschauung vermittelt hat.