HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2018
19. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

372. EuGH C-524/15 – Urteil der Großen Kammer vom 20. März 2018 (Luca Menci)

Vorabentscheidungsverfahren zur Mehrwertsteuer-Richtlinie 2006/112/EG (Steuerhinterziehung; Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer; ne bis in idem bei Sanktionen nach nationalen Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine (andere) strafrechtliche Sanktion vorsehen; ECLI:EU:C:2018:197).

Art. 50 GRC; Art. 49 Abs. 3 GRC; Art. 52 Abs. 1 GRC; Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 belegt wurde, sofern diese Regelung

– eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung hat, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, nämlich die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,

– Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung enthält, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und

– Regeln vorsieht, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird. (EuGH)

2. Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht. (EuGH)

3. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion. (Bearbeiter)

4. Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen. (Bearbeiter)


Entscheidung

573. EuGH C-537/15 – Urteil der Großen Kammer vom 20. März 2018 (Carlsson Real Estate SA, Stefano Ricucci und Magiste International SA)

Vorabentscheidungsverfahren zur Richtlinie 2003/6/EG (Marktmanipulation; ne bis in idem bei Sanktionen nach nationalen Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine (andere) strafrechtliche Sanktion vorsehen; ECLI:EU:C:2018:193).

Art. 50 GRC; Art. 51 GRC; Art. 49 Abs. 3 GRC; Art. 52 Abs. 1 GRC; Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. (EuGH)

2. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundsatz ne bis in idem verleiht dem Einzelnen ein Recht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist. (EuGH)

3. Der Umstand, dass die Verhängung dieser strafrechtlichen Sanktion von einem im Vergleich zur Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zusätzlichen Tatbestandsmerkmal abhängt, kann für sich allein die Identität der betreffenden materiellen Tat nicht in Frage stellen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen in einem solchen Falle die Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und das Strafverfahren, um die es im Ausgangsverfahren geht, dieselbe Straftat zu betreffen. (Bearbeiter)

4. Dieses Ergebnis wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass eine der verhängten rechtskräftigen Strafen gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt im Wege einer Begnadigung erlassen werden kann. Aus Art. 50 der Charta ergibt sich nämlich, dass der durch den Grundsatz ne bis in idem gewährte Schutz Personen zugutekommen muss, die bereits freigesprochen oder durch ein rechtskräftiges Strafurteil verurteilt wurden, und damit auch denjenigen, die durch ein solches Urteil mit einer später im Wege einer Begnadigung erlassenen strafrechtlichen Sanktion belegt wurden. Daher ist ein solcher Umstand für die Beurteilung der zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen unerheblich. (Bearbeiter)

5. Nach ständiger Rechtsprechung lassen die Bestimmungen des Primärrechts, die klare und unbedingte Verpflichtungen aufstellen, deren Anwendung kein weiteres Eingreifen der Unionsbehörden oder der nationalen Behörden erfordert, unmittelbar in der Person der Bürger Rechte entstehen. (Bearbeiter)


Entscheidung

574. EuGH C-596/16 (597/16) – Urteil der Großen Kammer vom 20. März 2018 (Enzo Di Puma und Antonio Zecca)

Vorabentscheidungsverfahren zur Richtlinie 2003/6/EG / Richtlinie 2014/57/EU (Insider-Geschäfte; ne bis in idem bei Sanktionen nach nationalen Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine (andere) strafrechtliche Sanktion vorsehen; Erstreckung der Rechtskraft eines endgültigen Strafurteils auf das Verwaltungsverfahren; endgültiges Strafurteil, mit dem vom Vorwurf der Insider-Geschäfte freigesprochen wird; ne bis in idem: unverhältnismäßige Einschränkung; ECLI:EU:C:2018:192).

Art. 50 GRC; Art. 51 GRC; Art. 52 Abs. 1 GRC; Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

1. Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) ist im Licht von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion nicht fortgesetzt werden darf, nachdem in einem endgültigen freisprechenden Strafur-

teil festgestellt wurde, dass die Tat, die einen Verstoß gegen die Rechtsvorschriften über Insider-Geschäfte begründen kann und auf deren Grundlage auch dieses Verfahren eingeleitet wurde, nicht erwiesen ist. (EuGH)

2. Die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Verwaltungssanktionen, die Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 bei Verstößen gegen das Verbot von Insider-Geschäften vorsieht, setzt jedoch voraus, dass die zuständigen nationalen Behörden Tatsachen feststellen, die im betreffenden Einzelfall das Vorliegen eines Insider-Geschäfts belegen, so dass die Verhängung einer Verwaltungssanktion gerechtfertigt ist. (Bearbeiter)

3. In Anbetracht der Bedeutung, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt, verlangt das Unionsrecht nicht, von der Anwendung nationaler Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen. (Bearbeiter)

4. Diese Beurteilung lässt die in Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK vorgesehene Möglichkeit unberührt, das Strafverfahren gegebenenfalls wiederaufzunehmen, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. (Bearbeiter)

5. Der Grundsatz ne bis in idem beschränkt sich schon nach dem Wortlaut von Art. 50 der Charta nicht auf die Fälle einer strafrechtlichen Verurteilung des Betroffenen, sondern erstreckt sich auch auf den Fall, dass er endgültig freigesprochen wird. (Bearbeiter)


Entscheidung

371. BVerfG 2 BvR 2601/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. April 2018 (OLG München / AG Neu-Ulm)

Zulässigkeit der weiteren Beschwerde gegen einen aufgehobenen oder gegenstandslos gewordenen Haftbefehl (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Feststellungsinteresse bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen; Rehabilitierungsinteresse bei Freiheitsentziehungen; Überprüfung der Untersuchungshaft und der Sitzungshaft auch nach deren Beendigung; Auslegung des Begriffs der „Verhaftung“; Vorrang des fachgerichtlichen Rechtsschutzes).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 230 Abs. 2 StPO; § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO

1. Mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange anzunehmen, wie in dem gerichtlichen Verfahren eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff beseitigt werden kann.

2. Darüber hinaus kann ein Feststellungsinteresse allerdings auch bei schwerwiegenden, tatsächlich nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffen fortbestehen. Hierunter fallen insbesondere Anordnungen, die nach dem Grundgesetz einem vorbeugenden Richtervorbehalt unterliegen.

3. Die Anordnung der Untersuchungs- oder Sitzungshaft steht wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht einer gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Überprüfung auch dann offen, wenn die Maßnahme inzwischen beendet ist. Dies gilt wegen des bei Freiheitsentziehungen bestehenden Rehabilitierungsinteresses unabhängig vom Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme sowie davon, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann.

4. Die Vorschrift des § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO, die für den Fall der „Verhaftung“ eine weitere fachgerichtliche Überprüfungsinstanz eröffnet, ist mit Blick auf die vorrangig den Fachgerichten übertragene Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes dahingehend auszulegen, dass die weitere Beschwerde auch noch zulässig ist, nachdem der (Sitzungs-)Haftbefehl aufgehoben worden oder – angesichts des Endes der Hauptverhandlung – gegenstandlos geworden ist.


Entscheidung

370. BVerfG 2 BvR 1509/15 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 22. März 2018 (OLG Hamm)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung („Altfall“; schutzwürdiges Vertrauen; Verhältnismäßigkeit; hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte; psychische Störung; gesetzliche Übergangsregelung; erhöhte Begründungstiefe und verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht als milderes Mittel); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtsschutzbedürfnis; Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 316f Abs. 2 EGStGB; § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB; § 68b StGB; § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG

1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326, 331 f. = HRRS 2011 Nr. 488) beeinträchtigt die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der bis zum 31. Mai 2013 geltenden Fassung ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen, wenn dieser die Anlasstaten vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat (sog. Altfälle).

2. Die Fortdauer der Unterbringung ist in diesen Fällen nur verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und wenn bei ihm eine psychische Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) besteht. Dem entspricht die vom Gesetzgeber geschaffene Übergangsregelung des Art. 316f Abs. 2 EGStGB.

3. Bei langandauernden Unterbringungen erhöhen sich aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs die Anforderungen an die Begründung einer Fortdauerentscheidung und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Die Gerichte müssen Art und Grad der

Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten des Betroffenen darlegen und dabei auf die Besonderheiten des Einzelfalles eingehen.

4. Eine Fortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn sich ihr bereits der zugrunde gelegte Prüfungsmaßstab nicht zweifelsfrei entnehmen lässt, wenn sie die Art der von dem Untergebrachten drohenden Missbrauchstaten innerhalb des Spektrums der §§ 176, 176a und 176b StGB nicht näher spezifiziert und wenn sie sich nicht damit auseinandersetzt, ob der Gefährlichkeit dadurch ausreichend begegnet werden kann, dass der mittlerweile über 70 Jahre alte und beinamputierte Betroffene – wie von dem herangezogenen Sachverständigen angeraten – angewiesen wird, in einem ununterbrochen mit Pflegepersonal besetzten Altenheim zu leben.

5. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen ist.