HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2016
17. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

258. BGH 4 StR 252/15 - Beschluss vom 19. Januar 2016 (LG Zweibrücken)

Rechtsstaatswidrige Tatprovokation (Voraussetzungen: erhebliche Stimulierung des Täters durch polizeiliche Vertrauensperson, völkerrechtskonforme Bestimmung).

Art. 6 Abs. 1 EMRK

1. Der Bundesgerichtshof nimmt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund polizeilicher Tatprovokation an, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch eine von einem Amtsträger geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt (vgl. BGH, NStZ 2016, 52, 54 f., Rn. 24). Ein in diesem Sinne tatprovozierendes Verhalten ist gegeben, wenn eine polizeiliche Vertrauensperson in Richtung auf das Wecken der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt. Auch bei anfänglich bereits bestehendem Anfangsverdacht kann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorliegen, soweit die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist (vgl. BGH NStZ 2016, 52, 54 f., Rn. 24).

2. Spricht eine polizeiliche Vertrauensperson eine betroffene Person lediglich ohne sonstige Einwirkung darauf an, ob diese Betäubungsmittel beschaffen könne, handelt es sich nicht um eine Tatprovokation. Ebenso fehlt es an einer Provokation, wenn die Vertrauensperson nur die offen erkennbare Bereitschaft zur Begehung oder Fortsetzung von Straftaten ausnutzt (vgl. BGHSt 45, 321, 338).

3. In der Judikatur des Bundesgerichtshofes sind die Kriterien, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an eine Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzende Tatprovokation stellt, berücksichtigt (vgl. BGH NStZ 2015, 541, 544, Rn. 29).


Entscheidung

198. BGH 3 StR 482/15 - Beschluss vom 12. Januar 2016 (LG Rostock)

Besorgnis der Befangenheit (öffentlich zugänglicher privater Facebook Account des Vorsitzenden; innere Haltung; Zusammenhang mit konkretem Strafverfahren; Befürchtung des Fehlens der gebotenen Neutralität).

§ 24 Abs. 2 StPO

Veröffentlicht ein Vorsitzender auf einer für jeden Verfahrensbeteiligten zugänglichen öffentlichen Facebook-Seite ein privates Foto, auf dem er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause: JVA“ trägt, begründet das jedenfalls dann die Besorgnis der Befangenheit, wenn auf derselben Seite auch ein Hinweis auf die berufliche Tätigkeit des Richters zu finden ist. Dies lässt besorgen, der Vorsitzende beurteile die von ihm zu

bearbeitenden Strafverfahren nicht objektiv, sondern habe Spaß an der Verhängung hoher Strafen und mache sich über die Angeklagten lustig. Unter diesen Umständen bedarf es keines engeren Zusammenhanges mit dem konkreten Strafverfahren, um bei dem Angeklagten die berechtigte Befürchtung zu begründen, dem Vorsitzenden mangele es an der gebotenen Neutralität.


Entscheidung

210. BGH 1 StR 169/15 - Beschluss vom 3. Dezember 2015 (LG Augsburg)

Ablehnung eines Richters wegen des Verdachts der Befangenheit (Vorbefassung mit dem Verfahrensgegenstand: Rechtsfehler in vorherigen Entscheidungen); Mitteilung über Verständigungsgespräche außerhalb der Hauptverhandlung (Zeitpunkt der Mitteilung; Wiedergabe des wesentlichen Inhalts: keine Mitteilung darüber erforderlich, von wem Initiative zu Gesprächen ausging; kein Beruhen des Urteils auf unterlassener Mitteilung über Gespräche alleine mit Mitangeklagten).

§ 24 Abs. 1, Abs. 2 StPO; § 243 Abs. 4 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

1. Knüpft die Besorgnis der Befangenheit an eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vorbefassung der abgelehnten Richter an, ist jenseits gesetzlicher Ausschließungsgründe dieser Umstand als solcher regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, wenn und soweit nicht besondere Umstände hinzutreten (st. Rspr.).

2. Dies gilt nicht nur für die Vorbefassung mit Zwischenentscheidungen im selben Verfahren, etwa die Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss oder an Haftentscheidungen, sondern auch für die Befassung eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte derselben Tat (st. Rspr.).

3. Zu der Vorbefassung in dem vorstehenden Sinne hinzutretende besondere Umstände können etwa dann gegeben sein, wenn frühere Entscheidungen, an denen der jetzt abgelehnte Richter mitgewirkt hat, unnötige oder sachlich unbegründete Werturteile über einen der jetzigen Angeklagten enthalten oder sich der betroffene Richter bei oder in Verbindung mit einer Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert hat (vgl. BGH NStZ 2015, 46).

4. Dabei können Rechtsfehler in Entscheidungen bei Vorbefassung mit dem Verfahrensgegenstand für sich genommen eine Ablehnung der mitwirkenden Richter grundsätzlich nicht begründen (vgl. BGH NStZ 2010, 342); etwas Anderes gilt jedoch, wenn die von den abgelehnten Richtern getroffene Entscheidung bzw. die darin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung sich als rechtlich völlig abwegig erweist oder gar als willkürlich erscheint (vgl. BGHSt 48, 4, 8). Besondere Umstände können aber auch dann gegeben sein, wenn sich aus der Art und Weise der Begründung von Zwischenentscheidungen die Besorgnis der Befangenheit ergibt.

5. Zwar wird es im Hinblick auf die mit § 243 Abs. 4 StPO verfolgten Zwecke in den Konstellationen des Satzes 1 regelmäßig angezeigt sein, möglichst umgehend nach der Verlesung des Anklagesatzes über vor Beginn der Hauptverhandlung geführte Gespräche gemäß §§ 202a, 212 StPO zu informieren (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 379 f.). Maßgeblich ist jedoch, dem Angeklagten um der Gewährleistung einer informierten Entscheidung über sein Einlassungsverhalten und der Öffentlichkeit um der Gewährleistung der von ihr ausgehenden Kontrollfunktion willen die gebotene Information über vor der Hauptverhandlung erfolgte verständigungsbezogene Gespräche vor der durch § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO vorgeschriebenen Belehrung zu verschaffen.

6. Eine Information darüber, auf wessen Initiative vor der Hauptverhandlung geführte, auf eine mögliche Verständigung bezogene Gespräche zustande gekommen sind, gebietet § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht; es handelt sich dabei nicht um einen zum „wesentlichen Inhalt“ gehörenden Umstand (vgl. NStZ 2015, 293 f.).

7. Durch die unzureichende Erfüllung von Transparenz- und Mitteilungspflichten von Verständigungsgesprächen, die allein Mitangeklagte betroffen haben, können die daran nicht beteiligten Angeklagten selbst bei einem einheitlichen Verfahren regelmäßig nicht in eigenen Rechten betroffen sein (vgl. BVerfG NStZ 2014, 528 f.).


Entscheidung

200. BGH 3 StR 490/15 - Beschluss vom 12. Januar 2016 (OLG Düsseldorf)

Unzulässige Änderung des Geschäftsverteilungsplans durch wiederholte Einzelzuweisungen (gesetzlicher Richter; abstrakt-generelle Vorgaben; „scheibchenweise“ Einzelzuweisung; Änderung des Geschäftsverteilungsplans im laufenden Geschäftsjahr; Eignung zur Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs; erkennbare dauerhafte Überlastung; anhängige Verfahren; Gesamtkonzept zum Belastungsausgleich; Beschleunigungsgebot; Haftsache; Besetzungsrüge); keine Präklusion der Besetzungsrüge (Anforderungen an den Revisionsvortrag; Vorlage des Geschäftsplanes in der Tatsacheninstanz regelmäßig entbehrlich). 

§ 21e Abs. 3 Satz 1 GVG; Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 338 Nr. 1 lit. b StPO; § 222b Abs. 1 StPO

1.  Das Gebot, den zur Entscheidung berufenen Richter so eindeutig wie möglich im Voraus zu bestimmen, schließt eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans im laufenden Geschäftsjahr nicht grundsätzlich aus. In Ausnahmefällen kann sogar eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans zulässig sein, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren überträgt, wenn nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen angemessen Rechnung getragen werden kann und die Eignung zur Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs gegeben ist (näher bereits BGH HRRS 2015 Nr. 716). 

2. Werden neu eingehende Verfahren im Wege der „scheibchenweisen“ Einzelzuweisung im laufenden Geschäftsjahr je nach konkreter, momentaner Belastungssituation einem bestimmten Senat zugewiesen, ist die vor dem Hintergrund des Postulats des gesetzlichen Richters regelmäßig kein rechtlich tragfähiges Konzept zur Verteilung der anfallenden Geschäfte. Denn eine solche Vorge-

hensweise ist nicht geeignet, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen.


Entscheidung

185. BGH 3 StR 163/15 - Beschluss vom 10. Dezember 2015 (LG Düsseldorf)

Beruhensprüfung bei Verstößen gegen die Mitteilungspflicht bei verständigungsbezogenen Gesprächen (Kausalität; keine Ergänzung um normative Gesichtspunkte; verspätete Mitteilung; kein Anspruch der Öffentlichkeit auf unverzügliche Mitteilung; Transparenz; Art und Schwere des Verstoßes; „Sanktionsschere“); Rüge nicht ordnungsgemäßer Verteidigung (Anforderungen an den Revisionsvortrag; Pflichtverteidiger; Ablehnung des Entpflichtungsantrags; nachhaltige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses); Zulässigkeit der Rüge einer Ablehnung des Beweisantrags wegen Prozessverschleppung.

§ 243 Abs. 4 StPO; § 257c StPO; § 202a StPO; § 212 StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; Art. 6 EMRK

1. Ein Urteil beruht auf einem Rechtsfehler, wenn es ohne diesen möglicherweise anders ausgefallen wäre. An einer solchen Möglichkeit fehlt es, wenn ein ursächlicher Zusammenhang mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann bzw. rein theoretischer Natur ist. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dieser bereits vom Reichsgericht begründeten Auslegung des § 337 StPO nicht entgegensteht und die maßgebend auf die Kausalität abstellende Beruhensprüfung auch bei Verletzung von § 243 Abs. 4 StPO nicht um normative Gesichtspunkte zu ergänzen ist (BGH HRRS 2015 Nr. 1125).

2. Das Schutzgut der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit ist regelmäßig nicht verletzt, wenn über ein Gespräch zwar verspätet, aber ausreichend detailliert unterrichtet wird. Zwar ist die Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO in der Regel unverzüglich zu machen; dies betrifft indes lediglich die Unterrichtung des Angeklagten, da die Mitteilung auf sein Prozessverhalten entscheidenden Einfluss haben kann. Die Öffentlichkeit hat hingegen keinen Anspruch auf eine rechtzeitige Unterrichtung.


Entscheidung

209. BGH StB 15/15 - Beschluss vom 17. Dezember 2015

Umgrenzungsfunktion der Anklage (unzureichende individualisierende Angaben beim Tötungsdelikt); Konkurrenzverhältnis zwischen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und im Zuge dessen verwirklichten anderen Straftaten; teilweise Eröffnung des Hauptverfahrens.

§ 200 StPO; § 207 StPO;§ 264 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB; § 52 StGB; § 53 StGB

1. Nennt die Anklage bzgl. eines Tötungsdeliktes lediglich eine ungefähre zeitliche Einordnung der Tat (hier: zwischen dem 13. Oktober 2013 und dem 25. Januar 2014) und als Tatort geographisch ein Land (hier: „Syrien“), so wird damit regelmäßig der Umgrenzungsfunktion der Anklage nicht hinreichend Rechnung getragen. Es fehlt an individualisierenden Merkmalen, mit denen sich das angeklagte Delikt von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden ließe.

2. Der Senat hat seine bisherige Rechtsprechung, wonach alle mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte an einer kriminellen (oder terroristischen) Vereinigung zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit zusammengefasst werden, aufgegeben. Vielmehr unterbleibt eine tateinheitliche Verknüpfung solcher Handlungen, die zwar der Zwecksetzung der Vereinigung oder sonst deren Interessen dienen, aber auch den Tatbestand einer anderen Strafvorschrift erfüllen (näher BGH HRRS 2016 Nr. 110).


Entscheidung

188. BGH 3 StR 322/15 - Beschluss vom 10. November 2015 (LG Trier)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung des eine Indiztatsache betreffenden Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit (antizipierte Beweiswürdigung; Einstellen in das bisherige Beweisergebnis; nähere Darlegung im Ablehnungsbeschluss; konkrete Erwägungen mögliche Schlussfolgerung; inhaltsleere Aussage).

§ 244 StPO

1. Es ist dem Tatgericht grundsätzlich nicht verwehrt, Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung bedeutungslos zu betrachten, wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Hierzu hat es die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung - gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelssatzes - in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

2. In dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 StPO) ist mit konkreten Erwägungen zu begründen, warum das Tatgericht aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen ziehen will. Denn dieser hat zum einen den Antragsteller sowie die weiteren Prozessbeteiligten so weit über die Auffassung des Gerichts zu unterrichten, dass diese sich auf die neue Verfahrenslage einstellen und gegebenenfalls noch in der Hauptverhandlung das Gericht von der Erheblichkeit der Beweistatsache überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen können; zum anderen muss er dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist und ob die Feststellungen und Erwägungen des Ablehnungsbeschlusses mit denjenigen des Urteils übereinstimmen.

3. Nach diesen Maßstäben erweist es sich in aller Regel als rechtsfehlerhaft, wenn die Ablehnung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit allein auf die inhaltsleere Aussage gestützt wird, die unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache lasse keinen zwingenden, sondern lediglich einen möglichen Schluss zu, den das Gericht nicht ziehen wolle.


Entscheidung

233. BGH 2 StR 4/15 - Beschluss vom 27. Oktober 2015 (LG Bonn)



Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung (Gesamtwürdigung: Ausschluss eines alternativen Geschehens, hier: „Mord ohne Leiche“).

§ 261 StPO

1. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter sämtliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert voneinander bewertet, sondern sie müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden.

2. Werden diese Grundsätze beachtet, kann der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auch dann gewinnen, wenn ein auf das Kerngeschehen der Tat bezogenes Beweismittel fehlt und die Überführung des Angeklagten darauf beruht, dass alle konkret in Frage kommenden Alternativen ausgeschlossen werden (vgl. BGH StraFo 2012, 466).

3. Dieses methodische Vorgehen ist allerdings nur dann eine tragfähige Grundlage für die Verurteilung wegen eines Tötungsverbrechens, wenn alle relevanten Alternativen mit einer den Mindestanforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung genügenden Weise abgelehnt werden, wobei ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht auf bloß denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt (vgl. BGH StraFo 2012, 466).

4. Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit setzt zudem ausreichende objektive Grundlagen voraus. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage beruht, und dass sich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht als bloße Vermutung erweist, die nicht mehr als einen - wenn auch schwerwiegenden - Verdacht zu begründen vermag (vgl. BGH NStZ 1981, 33).


Entscheidung

271. BGH 4 StR 484/15 - Beschluss vom 19. Januar 2016 (LG Essen)

Urteilsgründe (Umgang mit Sachverständigengutachten: Wahrscheinlichkeitsberechnungen aufgrund molekulargenetischer Vergleichsuntersuchungen).

§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 81h StPO

1. Das Tatgericht hat in den Fällen, in denen es dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind.

2. Für die Darstellung des Ergebnisses einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung ist danach erforderlich, dass der Tatrichter mitteilt, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, inwieweit dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war (vgl. BGH NJW 2014, 2454).


Entscheidung

192. BGH 3 StR 386/15 - Beschluss vom 14. Januar 2016 (LG Oldenburg)

Fehlende Belehrung über die Möglichkeit eines Entfallens der Bindung des Gerichts an die Verständigung; Beruhen.

§ 257c Abs. 4, 5 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

Der Angeklagte ist über die in § 257c Abs. 4 StPO geregelte Möglichkeit eines Entfallens der Bindung des Gerichts an die Verständigung zu belehren, um sicherzustellen, dass er vor dem Eingehen einer Verständigung vollumfänglich über Tragweite und Risiken seiner Mitwirkung informiert ist. Fehlt eine solche Belehrung, beruht das Urteil regelmäßig auf diesem Fehler, wenn die Verurteilung auf die geständige Einlassung gestützt wird. Dass der Angeklagte möglicherweise auch aufgrund anderer Beweismittel hätte überführt werden können, führt insoweit zu keiner anderen Beurteilung der Beruhensfrage.


Entscheidung

196. BGH 3 StR 462/15 - Beschluss vom 12. Januar 2016 (LG Koblenz)

Keine Prüfung oder Bewertung der Gründe für das Aussageverhalten des verweigerungsberechtigten Zeugen; sachlich-rechtliche Grenzen der Revisibilität der tatrichterlichen Beweiswürdigung.

§ 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO ; § 261 StPO

Der unbefangene Gebrauch des Schweigerechts eines verweigerungsberechtigten Zugen wäre nicht gewährleistet, wenn dieser die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der nur anfänglichen Zeugnisverweigerung dem Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen werden. Einer Würdigung zugänglich ist allein das nur teilweise Schweigen des Zeugen zur Sache.


Entscheidung

190. BGH 3 StR 344/15 - Beschluss vom 13. Oktober 2015 (LG Lüneburg)

Keine Bewertung oder Prüfung der Gründe für das Aussageverhalten des Angeklagten (Schweigerecht).

§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

Der unbefangene Gebrauch des Schweigerechts des Angeklagten, das notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens ist, wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der anfänglichen Aussageverweigerung - und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte erstmals einlässt - nachteilige Schlüsse gezogen werden.


Entscheidung

279. BGH 4 StR 561/15 - Beschluss vom 3. Februar 2016 (LG Siegen)



Verbotene Vernehmungsmethoden (revisionsrechtliche Rügbarkeit: kein Widerspruch gegen Verwertung erforderlich, Widerspruchslösung).

§ 136a Abs. 1, Abs. 3 StPO

Die Verfahrensrüge, eine Aussage sei durch verbotene Vernehmungsmethoden zustande gekommen (§ 136a Abs. 1 StPO), kann auch dann zulässig erhoben werden, wenn der Angeklagte der Verwertung der Aussage in der Hauptverhandlung nicht widersprochen hat.


Entscheidung

234. BGH 2 StR 258/15 - Urteil vom 2. Dezember 2015 (LG Frankfurt a. M.)

Beschränkung der Revision auf den Strafausspruch (ausnahmsweise Untrennbarkeit von Schuld- und Strafausspruch); Strafzumessung (Berücksichtigung weiterer Taten des Angeklagten).

§ 344 Abs. 1 StPO; § 46 StGB

1. Schuld- und Strafausspruch sind zwar in der Regel trennbar. Ausnahmsweise ist eine Trennbarkeit aber dann zu verneinen, wenn die Schuldfeststellungen eine Überprüfung des Strafausspruchs nicht ermöglichen.

2. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Umstände vorliegen, aus denen sich eine Verknüpfung der Erörterungen zur Schuld- und Straffrage ergibt, wenn also vom Landgericht strafmildernd gewertete und deshalb von der Revision angegriffene Umstände, tatsächlich (auch) den Schuldspruch beträfen.

3. Eine Trennbarkeit ist aber auch dann zu verneinen, wenn unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat, denn derartige Feststellungen können nicht Grundlage eines Strafausspruchs sein (st. Rspr.).

4. Demgegenüber lässt zwar allein die fehlerhafte Rechtsanwendung beim Schuldspruch eine Revisionsbeschränkung noch nicht notwendigerweise unwirksam werden (vgl. BGH NStZ 1996, 352, 353). Eine Trennbarkeit zwischen Schuld- und Strafausspruch ist aber dann zu verneinen, wenn die Feststellungen zum Schuldspruch so weitgehende Lücken aufweisen, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen (vgl. BGH NStZ 1994, 130). Eine Revisionsbeschränkung ist daher auch unwirksam, wenn die Tatsachenfeststellungen unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht erkennen lassen und keine taugliche Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfolgenentscheidung.

5. Zwar hat der Tatrichter gemäß § 46 Abs. 2 StGB bei der Strafzumessung die für und gegen den Täter sprechenden Umstände gegeneinander abzuwägen und dabei namentlich auch sein Vorleben zu berücksichtigen. Insoweit ist er bei der Feststellung und Bewertung von Strafzumessungstatsachen durch den Anklagegrundsatz nicht beschränkt und kann daher auch strafbare Handlungen ermitteln und würdigen, die nicht Gegenstand der Anklage bzw. nach § 154 StPO eingestellt worden sind, soweit diese für die Persönlichkeit eines Angeklagten bedeutsam sein können und Rückschlüsse auf dessen Tatschuld gestatten. Allerdings müssen solche Taten - wie jeder andere für die Strafzumessung erhebliche Umstand - prozessordnungsgemäß und damit hinreichend bestimmt festgestellt werden und zur Überzeugung des Tatrichters feststehen (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 207).


Entscheidung

215. BGH 1 StR 419/15 - Beschluss vom 2. Februar 2016

Erstattung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers (Verurteilung wegen einer den Nebenkläger betreffenden Tat: Voraussetzungen).

§ 472 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 264 StPO

Eine den Nebenkläger betreffende Tat liegt immer vor, wenn sie sich auf denselben geschichtlichen Vorgang im Sinne des § 264 StPO bezieht, welcher der Nebenklage zu Grunde liegt, und wenn sie sich gegen den Nebenkläger als Träger eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts richtet. Dies setzt keinen Schuldspruch wegen eines nebenklagefähigen Delikts voraus. Die abgeurteilte Tat betrifft den Nebenkläger auch dann, wenn ihr ein Vorgang (i.S.v. StPO § 264) zugrunde liegt, der zum Anschluss berechtigte, und wenn die Verurteilung auf einer Norm beruht, die ein dem Nebenkläger zustehendes Recht unmittelbar schützt (vgl. BGHSt 38, 93).


Entscheidung

182. BGH 3 StR 163/15 - Beschluss vom 10. Dezember 2015 (LG Düsseldorf)

Beruhensprüfung bei Verstoß gegen Mitteilungspflichten (verständigungsbezogenes Gespräch; Kausalität; keine Ergänzung um normative Gesichtspunkte; keine Verletzung der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit trotz verspäteter Unterrichtung; Recht auf ein faires Strafverfahren).

§ 243 Abs. 4 Satz 2 StPO; § 337 Abs. 1 StPO; Art. 6 EMRK

1. Die maßgeblich auf die Kausalität abstellende Beruhensprüfung im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO ist entgegen der Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch bei Verletzung von § 243 Abs. 4 StPO nicht um normative Gesichtspunkte zu ergänzen.

2. Das Schutzgut der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit wird nicht verletzt, wenn der Vorsitzende über ein verständigungsbezogenes Gespräch nicht unverzüglich, sondern nur verspätet ausreichend detailliert unterrichtet.


Entscheidung

184. BGH 3 StR 163/15 - Beschluss vom 10. Dezember 2015 (LG Düsseldorf)

Beruhensprüfung bei Verstößen gegen die Mitteilungspflicht bei verständigungsbezogenen Gesprächen (Kausalität; keine Ergänzung um normative Gesichtspunkte; verspätete und formelhafte Mitteilung; Transparenzgebot; Beurteilung Art und Schwere des Verstoßes bei nicht beabsichtigter Verständigung)

§ 243 Abs. 4 StPO; § 257c StPO; § 202a StPO; § 212 StPO

Ein Urteil beruht auf einem Rechtsfehler, wenn es ohne diesen möglicherweise anders ausgefallen wäre. An einer solchen Möglichkeit fehlt es, wenn ein ursächlicher Zusammenhang mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann

bzw. rein theoretischer Natur ist. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dieser bereits vom Reichsgericht begründeten Auslegung des § 337 StPO nicht entgegensteht und die maßgebend auf die Kausalität abstellende Beruhensprüfung auch bei Verletzung von § 243 Abs. 4 StPO nicht um normative Gesichtspunkte zu ergänzen ist (BGH HRRS 2015 Nr. 1125).


Entscheidung

272. BGH 4 StR 491/15 - Beschluss vom 15. Dezember 2015 (LG Halle)

Rücknahme eines Rechtsmittels (Verhandlungs- und prozessualen Handlungsfähigkeit des Angeklagten).

§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Ein Angeklagter muss bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung in der Lage sein, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird allein durch eine Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen.

2. Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit des Angeklagten, geht dies zu seinen Lasten (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 341).


Entscheidung

262. BGH 4 StR 361/15 - Urteil vom 14. Januar 2016 (LG Frankenthal)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an die Darstellung in einem freisprechenden Urteil: Gesamtwürdigung; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO

1. Die revisionsrechtliche Prüfung der Beweiswürdigung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr). Rechtsfehlerhaft ist es regelmäßig auch, wenn sich der Tatrichter bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen.

2. Allerdings können und müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt vielmehr von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab; dieser kann so beschaffen sein, dass sich die Erörterung bestimmter einzelner Beweisumstände erübrigt. Insbesondere wenn das Tatgericht auf Freispruch erkennt, obwohl nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht, muss es jedoch in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung die ersichtlich möglicherweise wesentlichen gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen und in einer Gesamtwürdigung betrachten (vgl. BGH wistra 2007, 18, 19).


Entscheidung

270. BGH 4 StR 483/15 - Beschluss vom 17. Dezember 2015 (LG Paderborn)

Begründung der Revision zu Protokoll der Geschäftsstelle (erforderliche inhaltliche Beteiligung des Urkundsbeamten).

§ 345 Abs. 2 StPO

Wird die Revision zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle begründet, muss sich der Urkundsbeamte an der Anfertigung der Begründung gestaltend beteiligen und die Verantwortung für ihren Inhalt übernehmen. Daran fehlt es, wenn der Rechtspfleger als bloße Schreibkraft des Angeklagten tätig wird und vom Angeklagten vorgegebene Rügen ungeprüft übernimmt. Auch bei einem Juristen als Angeklagtem darf der Urkundsbeamte nicht als bloße Schreibkraft tätig werden.