HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Bevorzugung von Ärzten bei der Feststellung von Tötungsvorsatz

Von Jessica Krüger, Bucerius Law School, Hamburg

Der Tötungsvorsatz von Ärzten war ursprünglich Gegenstand einer eher theoretischen Diskussion zum dolus eventualis[1] und stand in der Rechtsprechungspraxis bislang nur selten zur Debatte. Die Gerichte haben in den letzten Jahren jedoch durch zahlreiche teils heftig kritisierte Urteile[2] dafür gesorgt, dass insbesondere der Vorwurf, Ärzten bei der Bestimmung des Vorsatzes "eine gewisse Sonderbehandlung"[3] zukommen zu lassen, wieder in den Fokus der Vorsatzdebatte gerückt ist. Nicht zuletzt steht durch die zu erwartenden Entscheidungen zur Strafbarkeit von Ärzten bei der Manipulation der Zuteilungsreihenfolge von Spendenorganen zu erwarten, dass die Diskussion weiter an Aktualität und Relevanz gewinnen wird.[4] Ob Ärzte bei der Vorsatzfeststellung von Literatur und Rechtsprechung tatsächlich bevorzugt behandelt werden, soll hier zweischrittig untersucht werden: Zunächst wird die Debatte um den Tötungsvorsatz bei einer besonders riskanten Operation in den Blick genommen, um anschließend die neueren Urteile der Rechtsprechung zu analysieren.

I. Der Ursprung der Bevorzugung: Das Problem der gefährlichen Operation

Die ursprüngliche Diskussion um den Tötungsvorsatz des Arztes war eher theoretischer Natur und eng verknüpft mit der Debatte darüber, ob der dolus eventualis ein voluntatives Element benötigt oder nicht. Die dabei als Argument für das voluntative Element[5] herangezogene Konstellation ist folgende: Ein Arzt führt eine medizinisch indizierte Operation durch, die jedoch mit so großen Risiken behaftet ist, dass er auf ein Überleben des Patienten nicht mehr ernsthaft vertrauen kann. Tatsächlich weiß ein Arzt um das Risiko einer solchen Operation, nimmt dieses jedoch in Kauf, um das Leben des Patienten doch noch zu retten oder zu verlängern. Dass sich

ein Arzt aber mit jeder einigermaßen riskanten Operation strafbar machen soll – denn selbst bei einer gelungenen Operation stünde immer noch ein Tötungsversuch im Raum – ist ein Ergebnis, dass sinnvollerweise nicht akzeptiert werden kann. Lösungen dieses Problems werden auf Ebene des Vorsatzes, der objektiven Zurechenbarkeit und der Rechtfertigung diskutiert, wobei insbesondere die Vorsatzlösungen höchst umstritten sind.

Die Diskussion um die richtige Vorsatzform findet mittlerweile auf anderer Ebene und mit anderen Beispielsfällen statt, sodass diese konkrete Situation in der Vorsatzdebatte heutzutage kaum mehr Beachtung findet. Eine genaue Betrachtung der Lösungsansätze, die die Literatur für dieses Vorsatzproblem entwickelt hat, ist dennoch aufschlussreich, bestimmen sie doch immer noch die Grundzüge der heutigen Debatte über den Tötungsvorsatz von Ärzten.

1. Ablehnung von Vorsatz

Bockelmann löst das Problem der besonders riskanten Operation durch eine "Modifikation des Vorsatzbegriffs[…], die es gestattet, in solchem Fall den Vorsatz zu verneinen", mit der Begründung, die Rechtsordnung verlange nicht, eine solche Operation zu unterlassen.[6] Andere verneinen den Vorsatz, weil der Arzt den Erfolgseintritt nicht gebilligt habe, das Tatmotiv an sich billigenswert sei[7], oder weil die Absicht, ein Rechtsgut zu retten, den bedingten Vorsatz der Verletzung verdränge.[8]

Die konsequente Anwendung der Billigungstheorie der Rechtsprechung[9] müsste jedoch zu dem Ergebnis kommen, dass der Arzt mit Tötungsvorsatz gehandelt hat.[10] Der Arzt erkennt die Risiken der Operation und entscheidet sich – um das Leben des Patienten zu retten – dafür, eben dieses zu riskieren. Er billigt den Tod des Patienten, um ihn zu verhindern.[11] Dass dies keine leichte Entscheidung ist und auch das Überwinden einer gewissen Hemmschwelle erfordert, verdeutlicht Schmidhäuser anschaulich in seinem Beispiel von Ärzten, die die gefährliche Operation eines Angehörigen oftmals einem anderen Arzt übertragen, "weil sie den notwendigerweise in Kauf zu nehmenden Tod des Patienten für ihre Person eben nicht in Kauf nehmen wollen".[12] Es ist kaum vorstellbar, dass ein Arzt eine lebensgefährliche Operation unternimmt, ohne sich zuvor mit dem möglichen Tod des Patienten abgefunden zu haben – sollte der Patient nämlich tatsächlich versterben, würde dies ansonsten schwere Auswirkungen auf die psychische Verfassung des operierenden Arztes haben. Erinnert sei außerdem nochmals daran, dass ein Billigen im Rechtssinne keinesfalls eine positive Einstellung des Arztes gegenüber dem Tod des Patienten erfordert.[13]

Die Behauptung, der behandelnde Arzt hätte den Erfolg nicht – wenigstens im Rechtssinne – gebilligt, kann somit nicht überzeugen. Auch die anderen Ansätze, die eine "Verdrängung" des Vorsatzes durch die "gute Absicht" annehmen, sind lebensfremd. Wie eine "Verdrängung" des Tötungsvorsatzes durch die Rettungsabsicht im Kopf eines behandelnden Arztes vor sich gehen soll, bleibt schleierhaft.[14] Diese Unterstellung des Verdrängens ist in Wahrheit nicht mehr als ein Versuch, den Vorsatz mit Verweis auf die guten Absichten des Arztes zu verneinen, der jedoch in der Realität der Gedankenvorgänge eines Arztes kaum Bestand haben kann.[15] Ebenso kann das "billigenswerte Motiv" des Arztes nicht bei der Vorsatzbestimmung Beachtung finden, sondern allenfalls auf Rechtfertigungsebene relevant werden.

Auch eine so drastische Lösung wie die Modifikation des Vorsatzbegriffs, die Bockelmann vorschlägt, mag zwar dem Gerechtigkeitsgefühl Genüge tun, ist aber lediglich das Ergebnis einer Gesamtwertung dessen, was die Rechtsordnung möglicherweise als strafwürdig oder nicht strafwürdig ansieht.[16] Eine solche Wertung der Rechtsordnung ist allerdings auf der subjektiven Tatbestandsebene fehl am Platze. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer vollständigen Prüfung von Tatbestand, Rechtfertigung und Schuld.[17] Dies alles bereits bei der Vorsatzfeststellung zu berücksichtigen, würde dieser vom Gesetzgeber gewollten Dogmatik zuwiderlaufen, ohne Not eine einheitliche Rechtsprechung zum Vorsatz unmöglich machen und letztlich eine Berufsgruppe besonders privilegieren.

2. Die Vorzugswürdigkeit alternativer Lösungsansätze

Vorzugswürdig erscheinen daher Ansätze, die eine Strafbarkeit aufgrund anderer Kriterien ablehnen, etwa durch Rechtfertigung[18] oder Verneinung der objektiven Zurechenbarkeit[19]: So kann eine solche Operation durch eine (mutmaßliche) Einwilligung gedeckt sein. [20] Einer solchen Einwilligung steht auch § 228 StGB mit der Schranke des § 216 StGB nicht entgegen. Zwar ist die Grenze der Sittenwidrigkeit grundsätzlich nach dem Grad der Lebensgefahr zu bestimmen[21], die in einem solchen Fall erheblich wäre, jedoch kann ausnahmsweise durch einen "positiv-kompensierenden Zweck"[22] wie der Lebenserhaltung die Sittenwidrigkeit verneint werden.[23] Vogel bringt mit der Risikoverringerungslehre auch Aspekte der objektiven Zurechenbarkeit ins Spiel, die eine Strafbarkeit schon am objektiven Tatbestand scheitern lassen würden.[24] Im Ergebnis gelangt man zum Wegfall des Unrechts, ob nun der Vorsatz abgelehnt, die objektive Zurechnung ausgeschlossen oder eine rechtfertigende Einwilligung angenommen wird. Eine Verneinung des Vorsatzes auf dogmatisch zweifelhaften Wegen ist also keinesfalls notwendig, um ein unerwünschtes Ergebnis zu verhindern. Wie der Arzt zum Patienten und dessen Überlebenschancen steht, ist folglich für dessen Strafbarkeit vollkommen unerheblich, solange er mit der gebotenen Sorgfalt agiert.[25] Die intensiv geführte Diskussion um den Vorsatz des Arztes zeigt jedoch, dass es offenbar mit dem Gerechtigkeitsgefühl Vieler nicht zu vereinbaren ist, dass ein Arzt mit Tötungsvorsatz handeln kann, sodass auf dogmatisch zweifelhafte Weise versucht wird, diesen abzulehnen.

II. Aktuelle Rechtsprechungstendenzen zum Tötungsvorsatz des Arztes

Diese Tendenz lässt sich auch in der neueren Rechtsprechung und deren Rezeption beobachten. Besonders deutlich zeigt sich dies, vergleicht man die Rechtsprechung zum Tötungsvorsatz bei Ärzten mit anderen Fallgruppen von Tötungsdelikten des BGH. Allgemein erfordert der bedingte Vorsatz nach der heutigen Rechtsprechung des BGH sowohl ein Wissens- als auch ein Wollenselement. Der Täter muss die Tatbestandsverwirklichung als möglich und nicht ganz fernliegend erkennen und diese billigend in Kauf nehmen oder sich wenigstens um seines unmittelbaren Zieles willen mit ihr abfinden.[26] Bewusste Fahrlässigkeit dagegen erfordert, dass der Handelnde, obwohl er die Tatbestandsverwirklichung als möglich und nicht ganz fernliegend erkannt hat, ernsthaft und nicht bloß vage darauf vertraut, dass die Tatbestandsverwirklichung ausbleibt.[27] Um dem Tatrichter die Feststellung von Vorsatz zu erleichtern und die immer noch sehr abstrakte Vertrauens-Formel greifbar zu machen, hat der BGH einen umfangreichen Katalog von Indizien und Fallgruppen gebildet. Aus der Persönlichkeit des Täters, seiner Interessenlage, der Tatbegehung und anderen Umständen werden Rückschlüsse gezogen, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung für oder gegen Vorsatz sprechen.[28] Die Schwierigkeit der Vorsatzfeststellung basiert in der Praxis somit nicht auf theoretischen Abgrenzungsschwierigkeiten, sondern auf dem Nachweis von ausreichenden Indizien und deren Gewichtung, aus denen entsprechende Rückschlüsse gezogen werden können.[29] Gerade für Tötungsdelikte existiert eine umfangreiche höchstrichterliche Rechtsprechung, die zahlreiche (teils heftig umstrittene) Anhaltspunkte für die Vorsatzbestimmung hervorgebracht hat.[30] Hat sich die Diskussion um die besonders riskante Operation noch um die richtige materielle Bestimmung von Vorsatz gedreht, muss bei einer Analyse der Rechtsprechung nunmehr auf die richtige Würdigung der einzelnen Indizien für die Vorsatzbestimmung abgestellt werden.

1. Überblick über die Rechtsprechungspraxis zu Tötungsdelikten im Allgemeinen

a) Wissens- und Wollenselement

Grundsätzlich sind bei der Vorsatzfeststellung kognitives und voluntatives Element jeweils für sich festzustellen. In Ausnahmefällen – anzuführen sind hier besonders gefährliche Gewalttaten – kann vom vorliegenden Wissenselement auf das Wollenselement und somit auf bedingten Tötungsvorsatz geschlossen werden, wenn der Täter die Gefährlichkeit der Handlung erkennt und diese dennoch fortsetzt.[31] Ausschlaggebend ist dabei der Grad der Gefahr für das Opfer: "Ein Vertrauen des Täters auf das Ausbleiben des tödlichen Erfolges[wird]dann zu verneinen sein, wenn der von ihm vorgestellte Ablauf des Geschehens einem tödlichen Ausgang so nahe kommen wird, dass nur noch ein glücklicher Zufall diesen verhin-

dern kann".[32] Es handelt sich bei diesem Merkmal um eines von besonderer Relevanz, dennoch müssen auch alle weiteren Indizien, die für oder gegen die Annahme von Vorsatz sprechen könnten, sorgfältig im Rahmen einer Gesamtbetrachtung gegeneinander abgewogen werden.[33]

b) Die Interessenlage bei Tatbegehung

"Billigen" bedeutet nicht, den Erfolg für gut zu befinden. Ein " Billigen im Rechtssinne" kann auch dann gegeben sein, wenn dem Täter der Erfolgseintritt höchst unerwünscht ist.[34] Als typische Fallgruppe sind hier Täter zu nennen, die ihre Opfer lediglich bestrafen und diesen einen "Denkzettel verpassen" wollen, wofür das Überleben des Opfers denklogische Voraussetzung ist. Der BGH führt hierzu aus: "Allenfalls hochgradig interessenwidrige Tatfolgen widerstreiten der Annahme einer Billigung des Erfolges durch einen in der Steuerungsfähigkeit beeinträchtigten, ohnehin überaus unüberlegt handelnden Täter", da ein mit dolus eventualis handelnder Täter kein Tötungsmotiv habe.[35] Hochgradig interessenwidrige Tatfolgen liegen unter anderem dann vor, wenn eine Verknüpfung zwischen den eigenen Rechtsgütern und denen des Opfers existiert. Das Schulbuchbeispiel für eine engere Verknüpfung der Rechtsgüter des Opfers mit denen des Täters sind die so genannten Überholer-Fälle: Ein Autofahrer überholt an einer unübersichtlichen Stelle, wissend, dass dieses Verhalten sowohl für ihn als auch für entgegenkommende Autofahrer lebensgefährlich sein kann. Hier wird der Vorsatz einhellig verneint; hätte der Fahrer den Erfolg gebilligt, hätte er seinen eigenen Tod in Kauf nehmen müssen.[36]

c) Die Hemmschwellentheorie

Das wohl am heftigsten umstrittene Indiz gegen einen Tötungsvorsatz ist die so genannte "Hemmschwellentheorie" des BGH: "Angesichts der hohen Hemmschwellen gegenüber einer Tötung ist[…]immer die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten".[37] Die Hemmschwellentheorie unterstellt, dass ein Mensch vor der Tötung eines anderen Menschen instinktiv zurückschreckt. Diese "Theorie" setzt die Anforderungen für die Annahme von Vorsatz höher und sollte die Gerichte dazu anhalten, das voluntative Element des bedingten Vorsatzes sorgfältig zu prüfen und zu begründen.[38] Im Laufe der Zeit verkam die Hemmschwellentheorie jedoch zu einer leeren Formel, die die Tatgerichte teilweise zu einer pauschalen Ablehnung von Tötungsvorsatz verleitete, sodass sich der BGH mittlerweile von seiner eigenen Theorie distanziert hat und der Hemmschwelle allein kein gesondertes Gewicht in der Gesamtabwägung mehr beimisst.[39].

Bei Unterlassungsdelikten hat der BGH von vornherein andere Maßstäbe angesetzt. Paradebeispiel ist der Autofahrer, der einen Verkehrsunfall verursacht hat und somit nach den Grundsätzen der Ingerenz für die Rettung anderer Unfallbeteiligter einstehen müsste, stattdessen jedoch ohne Hilfe zu holen den Unfallort verlässt. In der Praxis liegt die Schwierigkeit in diesen Fällen zumeist auf der Feststellung des kognitiven Elements, das davon abhängt, wie der Täter den Gesundheitszustand seines Opfers eingeschätzt hat. Hat der Täter erkannt, dass sein Opfer in Lebensgefahr schwebt und lässt er es dennoch ohne Hilfe zu holen zurück, so steht Tötungsvorsatz im Raum, der nur unter hohem Begründungsaufwand abgelehnt werden kann: "In Fällen des Unterlassens bestehen[…]generell keine psychologisch vergleichbaren Hemmschwellen vor einem Tötungsvorsatz wie bei positivem Tun. Vor allem bei unterlassener Hilfeleistung nach schuldhaftem Vorverhalten greift dieses psychologische Moment wegen der typischen gegenläufigen Selbstschutzmotive nicht Platz. Für diese Fälle kommt eine bedingt vorsätzliche Tötung durch Unterlassen auch dann in Betracht, wenn dem Täter der Eintritt des Todes an sich unerwünscht ist, er ihn aber, um unerkannt bleiben und Unfallflucht begehen zu können, gleichwohl in dem Sinne gebilligt hat, daß er sich damit bewußt abgefunden hat"[40]. Bei ingerentem Vorverhalten werden die Maßstäbe für den Begründungsaufwand, den das Gericht zur Feststellung von Vorsatz betreiben muss, folglich stark abgesenkt.[41]

d) Aids-Rechtsprechung

Eine besondere Fallgruppe in der BGH-Rechtsprechung bildet der ungeschützte Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten mit einem darüber nicht aufgeklärten Partner. Der BGH bejaht in solchen Fällen zwar den Körperverletzungsvorsatz, lehnt Tötungsvorsatz jedoch ab. Begründet hat er diese viel kritisierten Entscheidungen mit der Hoffnung des Täters, dass ein Heilmittel gefunden werde, bevor die Krankheit ausbricht.[42]

2. Rechtsprechungspraxis zum Tötungsvorsatz von Ärzten

Im Zusammenhang mit Tötungsdelikten treten Ärzte hauptsächlich im Bereich der Sterbehilfe strafrechtlich in Erscheinung, wobei dort nicht die hier behandelte Vorsatzproblematik virulent wird. Geht es um Fälle, in de-

nen Ärzte lebensgefährliche Kunstfehler begehen, wird oftmals nur eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im Raum stehen.[43] Die Prämisse des BGH, dass die Annahme einer nicht am Wohl des Patienten orientierten Behandlung, auch bei grob fehlerhaftem Verhalten, häufig fernliegt[44] hat zusätzlich dazu geführt, dass sich die Gerichte mit der Annahme von Tötungsvorsatz bei Medizinern deutlich zurückhalten.

Lediglich im Fall eines Arztes hat der BGH das Landgericht auf das Vorliegen von Tötungsvorsatz aufmerksam gemacht, sodass dieser letztlich wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt wurde. Der angeklagte Chirurg rief bei plötzlich auftretenden, schweren inneren Blutungen nach einer Operation zunächst keinen Krankenwagen, weil er sich im Streit mit der zuständigen Rettungsleitstelle befand, und behandelte seine Patientin stattdessen unter grobem Verstoß gegen die lex artis lediglich mit kreislaufstabilisierenden Medikamenten. Als er schließlich einige Stunden später einen Krankenwagen von einer anderen, 50 km entfernten Rettungsleitstelle anforderte, gab er den Rettungssanitätern keinen Arztbrief mit, obwohl dies für die Weiterbehandlung der Patientin unbedingt erforderlich gewesen wäre. Die Patientin verstarb in Folge ihrer inneren Blutungen.[45]

In einem ähnlich gelagerten Fall verneinte der BGH jedoch den Vorsatz des angeklagten Arztes, der eine Schönheitsoperation ohne die gebotene Hinzuziehung eines Anästhesisten durchgeführt hatte, bei der die Patientin aufgrund der riskanten Narkosemittel einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitt. Der Angeklagte behandelte die Patientin anschließend unter groben Verstößen gegen die lex artis, rief viel zu spät einen Krankenwagen ohne die erforderliche intensivmedizinische Ausrüstung, verschwieg den Herzstillstand gegenüber den Rettungssanitätern und weigerte sich, Krankenunterlagen herauszugeben oder in irgendeiner Weise mit dem behandelnden Krankenhaus zu kooperieren. Der angeklagte Chirurg wurde lediglich wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.[46]

Eine weitere Konstellation, in denen die Spezifika des bedingten Vorsatzes relevant werden, sind Manipulationen von Organvergabeverfahren, in denen ein Arzt falsche Patientendaten in ein Verteilsystem eingibt, um so für seinen Patienten einen höheren Listenplatz und damit bessere Chancen auf ein Spenderorgan zu erreichen. Neben Fragen der objektiven Zurechenbarkeit, der Kausalität und zahlreichen anderen Problemen des objektiven Tatbestands[47] steht in solchen Konstellationen auch die Feststellung von dolus eventualis im Mittelpunkt.

a) Wissens- und Wollenselement

Wenn der Täter die Gefährlichkeit seines Handelns erkennt und trotzdem handelt, ist nur ausnahmsweise kein Tötungsvorsatz gegeben. Gerade Ärzte sind aufgrund ihrer Ausbildung grundsätzlich in der Lage, zu erkennen, wie es um den Gesundheitszustand des Patienten bestellt ist. So hat das Landgericht sowohl im Berliner Schönheitschirurgen-Fall als auch im Fall des wegen vorsätzlicher Tötung verurteilten Arztes festgestellt, dass den Mediziner jeweils der äußerst bedenkliche Gesundheitszustand ihrer Patienten bewusst war, und beide auch wussten, dass ihre Rettungsbemühungen, so sie denn erfolgten, völlig unzureichend waren.

Kudlich weist zu Recht darauf hin, dass in den hier diskutierten Fällen die objektive Gefährlichkeit der Handlung[48] "durchaus beachtlich", die Kenntnis der Ärzte davon "vergleichsweise hoch” und die Zeit für eine reflektierte Entscheidung "vergleichsweise lang" ist.[49] In beiden Fällen wäre es ohne ein Eingreifen des Arztes nur ein glücklicher Zufall gewesen, wenn der Patient überlebt hätte, wie sich nicht zuletzt am Tod beider Patienten bestätigt hat. Überträgt man den vom BGH selbst gesetzten Maßstab von Gewalttaten auf die hier vorliegenden Sachverhalte, wären also besondere Feststellungen zur voluntativen Seite des Vorsatzes auf den ersten Blick gar nicht mehr vonnöten. Auch dass in den diskutierten Fällen – im Gegensatz beispielsweise zum Zustechen mit einem Messer – nicht nur das aktive Handeln im Vordergrund steht, sondern vor allem das Unterlassen der gebotenen Rettungshandlung,[50] ist einer Vergleichbarkeit nur bedingt abträglich.[51] Eine Auseinandersetzung mit diesem besonders wichtigen Indiz im Rahmen einer Gesamtabwägung ist jedoch in den einschlägigen Fällen bislang nicht erfolgt.

b) Interessenlage bei Tatbegehung

Für einen Mediziner, der seinen Patienten bedingt vorsätzlich sterben lässt und deswegen verurteilt wird, steht nicht nur die Freiheit auf dem Spiel, sondern auch die Approbation sowie seine gesamte wirtschaftliche und soziale Existenz. Vergleicht man diese Situation mit den klassischen "Denkzettel-Fällen", muss man dennoch einen erheblichen Unterschied in der Interessenlage der beiden Tätergruppen anerkennen. Stirbt das Opfer desjenigen, der es eigentlich nur bestrafen möchte, sind die Folgen für den Täter bei weitem nicht so gravierend: Stirbt das Opfer, hat es dennoch eine "Bestrafung" erfahren. Zudem gehen für den Täter mit dem Tod des Opfers keine vergleichbaren persönlichen Risiken einher. Allerdings liegt auch eine so enge Verknüpfung zwischen den Rechtsgütern des Opfers und des Täters wie in den Überholer-Fällen in den hier dargestellten Fällen nicht vor – Verlust von Reputation und wirtschaftliche Einbußen sind kaum mit dem Verlust des eigenen Lebens zu vergleichen.

Allein aus der Verknüpfung der Rechtsgüter von Ärzten und Patienten ergibt sich demnach kein zwingender Rückschluss auf den Vorsatz. Für die Feststellung von Vorsatz legten BGH und Tatgerichte daher besonderen Wert auf die Bewertung von anderweitigen Motiven, die die angeklagten Ärzte zu einem vorsätzlichen Handeln motiviert haben könnten: In BGH NStZ 2004, 35 war es entscheidend, dass der Chirurg aus sachfremden, egoistischen Motiven keinen Krankenwagen gerufen hatte. Bei der Manipulation von Vergabeverfahren zur Organzuteilung maß das OLG Braunschweig dem Motiv des Arztes – Sorge um seine Patienten – sogar vorsatzbegründende Bedeutung zu.[52] Diese Merkmale sind jedoch einzelfallspezifisch und kaum verallgemeinerbar.

c) Hemmschwelle und Heilungswille

Der BGH erweitert die Hemmschwellentheorie in seiner Rechtsprechung zum Tötungsvorsatz bei Ärzten um den "Heilungswillen", den er jedem Mediziner, der eine Behandlung übernimmt, grundsätzlich unterstellt: "Die Annahme, dass die Art und Weise der Behandlung eines Patienten durch einen Arzt nicht am Wohl des Patienten orientiert war,[wird] auch bei medizinisch grob fehlerhaftem Verhalten des Arztes häufig fernliegen"[53]. Die Literatur hat sich dem weitgehend angeschlossen.[54] Indem der BGH jedoch besondere Umstände fordert, um überhaupt zu erörtern, ob vorsätzliches Handeln gegeben ist, werden die Anforderungen an die Vorsatzfeststellung im Vergleich zur Hemmschwellentheorie nochmals höher gesetzt.

Die Unterstellung des Heilungswillens führt dazu, dass nicht einmal mehr plausibel dargelegt werden muss, dass der angeklagte Mediziner überhaupt mit Heilungswillen gehandelt hat – was bei der konsequenten Weigerung, die zur Rettung der Patientin dringend notwendige Verlegung auf die Intensivstation zu veranlassen und ordnungsgemäß durchzuführen, allerdings nicht so leicht sein dürfte.

Entscheidend muss auch hier nach dem Zeitpunkt differenziert werden, zu dem der Arzt mit Heilungswillen gehandelt hat. Reicht es als Rechtfertigung für die höheren Maßstäbe an die Vorsatzfeststellung bei Ärzten aus, wenn Heilungswille bei Beginn der ursprünglichen Operation vorliegt oder muss nicht vielmehr auf den Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Handlung (bzw. des Unterlassens) abgestellt werden? Ein unterstellter Heilungswillen bei Übernahme der Operation mag noch einleuchten. Zwar stellt sich auch – gerade bei Schönheitsoperationen und sogar noch virulenter bei der Vornahme von medizinisch nicht indizierten Operationen – die Frage, ob nicht der Arzt ein vornehmlich monetäres Interesse an einer Operation hat und das Wohl der Patienten nur so weit im Vordergrund steht, wie es dem wirtschaftlichen Interesse des Arztes dient. Trotzdem dürfte es zu diesem Zeitpunkt nicht besonders abwegig sein, einem Arzt Heilungswillen zu unterstellen. Selbst wenn man dies noch akzeptiert, kann es jedoch kaum einleuchten, warum ein Heilungswille nach Eintritt der lebensbedrohenden Ausnahmesituation unterstellt werden kann. Vielmehr hat sich die Situation – und damit unter Umständen auch die Interessenlage des Arztes – drastisch geändert. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass das Gericht nach Auswertung der Tatumstände zu dem Ergebnis gelangen kann, dass der betroffene Mediziner zum Besten des Patienten handeln wollte. Die "Heilungswillentheorie" des BGH führt jedoch durch die Umkehrung der Begründungsführung dazu, dass dieses eigentlich begründungsbedürftige Ergebnis ohne Begründung von vornherein als gegeben akzeptiert wird.

Aufschlussreich ist auch ein Vergleich mit den Maßstäben, die an die Hemmschwelle bei Unterlassungsdelikten angelegt werden. Der übliche Begründungsaufwand, der betrieben werden muss, um bei sicherer Erkenntnis des Gesundheitszustands des Opfers den Vorsatz abzulehnen,[55] entfällt bei Ärzten völlig unter Hinweis auf den Heilungswillen. Dabei scheint es nicht unbedingt fernliegend, die Begründung für die niedriger angesetzte Hemmschwelle von den Unfallflucht-Fällen auf Ärzte zu übertragen: Die typischen Selbstschutzmotive, die den Täter zur Flucht bewegen und eine niedrigere Hemmschwelle begründen sollen, können in der Form auch bei einem Arzt in Erscheinung treten, der begangene Fehler vertuschen möchte. Auch wenn der BGH – zu Recht – darauf hingewiesen hat, dass im Berliner Schönheitschirurgen-Fall die vom Arzt durchgeführten Vertuschungshandlungen unsinnig waren, da auch sie die Entdeckung seines Fehlers nur unter sehr unwahrscheinlichen Umständen verhindert hätten,[56] kann dies kaum Rückschlüsse auf den Vorsatz des Täters zulassen. Denn der Erfolg von Verdeckungshandlungen ist grundsätzlich nicht Maßstab für bedingten Tötungsvorsatz.[57]

Zudem ist nicht ersichtlich, warum dem Heilungswillen, selbst wenn er vorliegt, überhaupt Indizwirkung für oder wider Vorsatz zukommen kann. Versteht man Heilungswillen dahingehend, dass der Arzt bei medizinischer Indikation mit dem Willen operiert, den Patienten zu heilen, und dabei die erforderlichen Sorgfaltsstandards einhält, entspricht dies der oben behandelten Konstellation der besonders gefährlichen Operation. Wie bereits dargelegt, handelt der operierende Arzt mit Tötungsvorsatz, und dabei zugleich mit Heilungswillen. Heilungswille und Tötungsvorsatz können also nebeneinander vorliegen, was eine Indizwirkung des Heilungswillens in die eine oder andere Richtung ausschließt, wenn sich

Heilungswille und Tötungsvorsatz auf den selben Patienten richten.

Bereits jetzt offenbart sich die gefährliche Tendenz, dass Gerichte eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung unter floskelhaften Hinweisen auf die BGH-Rechtsprechung ablehnen. Das AG Limburg beispielsweise führt in seinem Urteil zum Fall "Céline" – die Patientin starb an einer Narkose, weil der Aufwachraum maschinell und personell unzureichend ausgestattet war – folgendes aus: "Es liegt ein hohes Maß an Pflichtwidrigkeit vor, das das Gericht nur deshalb nicht als bedingt vorsätzlich ansehen kann, weil es sich aufgrund der obergerichtlichen Rechtsprechung wegen der besonderen Anforderungen an die Hemmschwelle bei ärztlichem Fehlverhalten daran gehindert sieht".[58]

Sinnvoll scheint die Einbeziehung des Heilungswillen jedoch als Motiv, das für das Vorliegen von bedingtem Vorsatz streiten kann. In diese Richtung argumentiert das OLG Braunschweig,[59] das den Willen zur Rettung der eigenen Patienten als "vorsatzbegründendes Element" [60] bezeichnet. In der Tat stellt der Heilungswille in diesem Fall ein nachvollziehbares Motiv für die Manipulation des Organvergabesystems und damit die (versuchte) Tötung anderer Patienten dar. Es ist durchaus naheliegend, dass einem Arzt das Leben der eigenen Patienten, die er zu heilen versucht, mehr am Herzen liegt, als das von anonymen, unbekannten Menschen.[61] Die Kritik der Literatur an dieser Entscheidung überzeugt nicht: Wie das OLG Braunschweig zu Recht betont hat, kann sich die Indizwirkung des Heilungswillens gegen den Vorsatz – selbst wenn man ihm Indizwirkung zusprechen könnte – nur auf eigene, und nicht auf fremde Patienten beziehen.[62] Wer betont, dass Ärzte "generell[...]nicht Leben zerstören"[63] wollen, und den Heilungswillen damit auch auf dem Arzt unbekannte Patienten ausweitet,[64] muss diesen Grundsatz konsequenterweise auch auf Körperverletzungs- und Tötungsdelikte außerhalb des Behandlungsraums anwenden, was letztlich zu vollkommen absurden Ergebnissen führen würde. Das Argument, der mögliche Schaden anderer Patienten würde in der Vorstellung des Arztes, der nur am Wohl seines Patienten orientiert ist, verdrängt werden,[65] erinnert stark an die Diskussion um die besonders riskante Operation, und hat sich zu Recht schon damals nicht durchgesetzt. Auch das Verneinen des kognitiven Elements des Vorsatzes durch Schroth [66] kann nicht überzeugen: Der Mediziner hat falsche Daten in das Verteilsystem eingegeben, um seine lebensgefährlich erkrankten Patienten zu retten. Dann muss er jedoch damit rechnen, dass sich andere Patienten, die auch auf ein Organ warten, in einer ähnlich gefährlichen gesundheitlichen Situation befinden.[67] Als Indiz für das Vorliegen von Vorsatz ist der Heilungswillen des Arztes in solchen Konstellationen mithin geeignet. Die formelhafte Verwendung der "Heilungswillentheorie" in der aktuellen Rechtsprechung geht jedoch fehl und verleitet zu pauschaler Ablehnung von Tötungsvorsatz auch in Extremfällen ärztlichen Versagens.

d) Aids-Fälle

Die Entscheidungen zu den Aids-Fällen weisen auch gewisse Parallelen zu Rechtsprechung aus dem Medizinbereich auf. In beiden Fallgruppen wurde durch den Täter bewusst ein unkontrollierbares Risiko – einmal der Infektion, einmal eines tödlichen Verlaufs einer Operation – gesetzt, das sich jedoch mit nur geringer Wahrscheinlichkeit realisiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Urteil des LG Ellwangen, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Ein Mädchen starb an der Folge eines bakteriell verunreinigten Narkosemittels. Der Anästhesist verwendete dieses Narkosemittel wiederholt aus angebrochenen Flaschen, was – wie der Angeklagte wusste – gegen die ausdrücklichen Warnhinweise des Herstellers verstieß und zum Tod des Patienten führen konnte.[68] Indem der Anästhesist bereits angebrochene Flaschen des Narkosemittels verwendete, brachte er also seine Patienten durch die Injektion bewusst in Lebensgefahr. Das LG Ellwangen wertete das Vorgehen des Arztes als Körperverletzung mit Todesfolge, ohne Vorsatz überhaupt anzusprechen. Auch im Fall "Céline"[69], hatten sich die Ärzte bewusst über die ärztlichen Standards hinweggesetzt und wurden wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.

Die Sachverhalte ähneln sich sehr stark. In beiden Fällen setzten sich die Täter über ausdrückliche Warnhinweise hinweg, obwohl sie wussten, dass ihr Verhalten zum Tode des anderen führen konnte. Die Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts war jeweils gering, jedoch nicht vernachlässigenswert. Das Risiko der Übertragung des HI-Virus in den Aids-Fällen war nicht kontrollierbar, wohingegen die Anästhesisten jeweils durch ihre medizinischen Fähigkeiten das Risiko in gewissen Grenzen halten konnten (oder dies zumindest glaubten). Auch handelten alle Täter aufgrund eines eingeschliffenen Verhaltens, also aus Gewohnheit. Ein solches Verhalten begründet regelmäßig Körperverletzungsvorsatz, was bei vorhersehbarer und mit der Körperverletzung verknüpfter Todesfolge eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge zur Folge hat.

Aufgrund der Vergleichbarkeit der Fälle erscheint es in jedem Fall vertretbar, dass der BGH und die Tatgerichte

hier einheitlich auf Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge erkennen, und keinen Tötungsvorsatz annehmen.[70]

3. Gesamtbetrachtung: Vertretbare Ergebnisse bei falscher Würdigung der Indizien durch die Rechtsprechung

Bei den Ärzten handelt es sich um eine besondere Fallgruppe, innerhalb derer sich einzelne Fälle – Extremfälle ärztlichen Versagens – in ihren Details erheblich unterscheiden.

Dennoch kann man eine systematische Bevorzugung bei der Feststellung von Tötungsvorsatz bei Ärzten auf der Ebene der Beweiswürdigung finden. Zum einen stellt der Heilungswille eine außerordentliche Privilegierung dar. Diese tritt besonders virulent zu Tage, wenn man sie an der Aussage des BGH misst, dass ein Unterlassungstäter normalerweise "keine psychologisch vergleichbaren Hemmschwellen"[71] überwinden muss. Der BGH gibt keine ausreichende Begründung, warum dieser Grundsatz bei Ärzten nicht gilt. Der Heilungswille, der den behandelten Ärzten unterstellt wird, muss nicht begründet werden, obwohl dies in einigen Fällen durchaus einer Begründung bedürfte. Wer einen Patienten operiert, obwohl dies nicht medizinisch indiziert ist, hat möglicherweise seine eigenen Interessen bereits zu diesem Zeitpunkt über das Wohl des Patienten gestellt, dem es ohne eine Operation vielleicht besser gehen würde. Abgesehen von diesen Erwägungen kann dem Heilungswillen kaum vorsatzindizierende Wirkung zukommen, da sich Heilungswille und Tötungsvorsatz nicht notwendigerweise ausschließen. Außerdem ist zu kritisieren, dass das sonst so stark gewichtete Indiz der besonderen Gefährlichkeit der Handlung in der Gesamtbetrachtung bei Ärzten nicht als vorsatzindizierend eingeht.

Vergleicht man jedoch die Ergebnisse der Rechtsprechungspraxis, hat sich diese Herangehensweise auf Ebene der Beweiswürdigung bisher nur in einem Fall als fatal erwiesen. Die meisten Fälle ärztlichen Versagens sind tatsächlich dem Bereich der Fahrlässigkeit zuzuordnen. Kritische Vergleiche von Fällen, in denen auf Körperverletzung mit Todesfolge entschieden wurde, erweisen sich mit Blick auf Entscheidungen des BGH zu ähnlich gelagerten Fallgruppen der BGH-Rechtsprechung als vergleichbar in Sachverhalt und Ergebnis. Als Fehlentscheidung sticht vor allem die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Fall des Berliner Schönheitschirurgen heraus. Wer sich weigert, zur Rettung seines Patienten rechtzeitig Hilfe anzufordern und den Patienten in ohnehin bereits lebensbedrohlicher Verfassung noch zusätzlich gefährdet, indem er sich jeglicher Kooperation mit den behandelnden Ärzten verweigert, handelt nicht mehr fahrlässig, sondern vorsätzlich.

III. Fazit

Die gleiche Bevorzugung von Ärzten, die die Literatur zu zweifelhaften Ergebnissen auf der materiellen Ebene des Vorsatzes geführt hat und die sich zu Recht nicht durchgesetzt hat, zeigt sich nun in Ansätzen wieder in der neueren Rechtsprechung auf Ebene der Beweiswürdigung.[72] Zwar wird nicht mehr auf der materiellen Ebene am Tötungsvorsatz von Ärzten gezweifelt, doch führt die Art und Weise der Indizienabwägung unter Einbeziehung von Kriterien wie dem Heilungswillen unter gleichzeitiger Missachtung des Indizes der besonderen Gefährlichkeit teilweise zu einem ebenso verzerrten Ergebnis.

Insbesondere das von der Rechtsprechung bemühte Indiz des Heilungswillens ist zu kritisieren. Die Gerichte müssen nicht begründen, dass der behandelnde Arzt mit Heilungswillen gehandelt hat, sondern unterstellen dies selbst in abwegigen Situationen. Zudem ist der Heilungswille als Indiz gegen den Tötungsvorsatz nicht aussagekräftig, da Heilungswille auch neben Tötungsvorsatz vorliegen kann. Das Ergebnis dieser zweifelhaften Rechtsprechung sind erhebliche Hürden für die Feststellung von Vorsatz durch die Tatgerichte. Als sinnvoll hat sich der Heilungswille bisher lediglich in seiner vorsatzbegründenden Funktion im Zusammenhang mit der Manipulation von Organverteilungssystemen erwiesen.

Auch wenn die Rechtsprechung bis auf wenige Ausnahmen zu vertretbaren Ergebnissen gelangt ist, kann die Beweiswürdigung in der bisherigen Form keinen Bestand haben. Eine Bevorzugung von Ärzten, auch wenn sie auf der Ebene der Indizienabwägung subtiler scheint als auf materieller Ebene, ist nicht gerechtfertigt.


[1] Siehe zu dieser Diskussion u.a. Bockelmann, Strafrecht des Arztes (1968), S. 71 ff. ; Blei, Strafrecht, 18. Aufl. (1983), S. 116; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, 10. Aufl. (2009), § 8 IV Rn. 29; Maurach/Zipf, Strafrecht AT I, 8. Aufl. (1992), § 22 IV Rn. 40; Schmidhäuser GA 1957, 305, 308; m.w.N. NK-Puppe, 14. Erg. Lfg. (2003), § 15 Rn. 124.

[2] BGH NStZ 2004, 35; BGH NJW 2011, 2895 = HRRS 2011 Nr. 978 ("Berliner Schönheitschirurgen-Fall"); AG Limburg, Urt. v. 25.03.2011(Fall "Céline"); OLG Braunschweig, NStZ 2013, 593; LG Ellwangen, Urt. v. 18.07.2007.

[3] Rissing -van Saan NStZ 2014, 233, 244.

[4] Bisher ergangene Rechtsprechung OLG Braunschweig, NStZ 2013, 593; teilw. krit. dazu Schroth NStZ 2013, 437; Böse ZJS 2014, 117; Rissing-van Saan NStZ 2014, 233; Kudlich NJW 2013, 917; Fateh-Moghadam, MedR 2014, 665; Bülte StV 2013, 753.

[5] Vgl. u.a. Blei, a.a.O. (Fn. 1), S. 116.

[6] Bockelmann, a.a.O. (Fn. 1), S. 71.

[7] Vgl. LK-Vogel, 12. Aufl. (2006), § 15 Rn. 132; wohl auch Schroth NStZ 2013, 437, 442.

[8] Vgl. LK-Schroeder, 11. Aufl. (2003), § 16 Rn. 94; Schroth NStZ 2013, 437, 442; Maurach/Schroeder/Maiwald, a.a.O. (Fn. 1), § 8 IV Rn. 29; Maurach/Zipf, a.a.O. (Fn. 1), § 22 IV Rn. 40.

[9] Vgl. dazu u.a. BGH NStZ 2011, 699 = HRRS 2011 Nr. 375: Vorsatz, wenn der "Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet".

[10] So auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 8. Abschn. Rn. 24. e Strafrecht8ahr. Auflagetenen Sorgfalt agierten Strafbarkeit vollkommen unerheblich. tionieren soll, bleibt schleierhaft. Viele

[11] So auch Bockelmann, a.a.O. (Fn. 1), S. 70.

[12] Schmidhäuser GA 1957, 305, 308.

[13] Vgl. das Musterbeispiel BGHSt 7, 363 ("Lederriemenfall"); näher dazu unten II. 1. b).

[14] Dieser Ansatz erinnert vielmehr an eine Umkehrung der umstrittenen Lehre von der normativen Vorsatzzurechnung, der bisher ausschließlich vorsatzausweitende Funktion zukommen sollte, so u.a. Fischer, StGB, 63. Aufl. (2016), Rn. 4; dieser zu Recht kritisch gegenüberstehend Matt/Renzikowski/Gaede (2013), § 15 Rn. 18, 23; ausführlich ders. ZStW 121 (2009), 239.

[15] Umso erstaunlicher ist das Wiederaufgreifen dieses Gedankenkonstrukts durch Schroth NStZ 2013, 437, 442, der den Tötungsvorsatz des Arztes bei der Manipulation von Organvergabeverfahren ablehnt, einerseits, weil dieser durch die Sorge um den eigenen Patienten verdrängt werde, andererseits, weil er ein Billigen des Tötungserfolgs aufgrund der Sorge um den eigenen Patienten ablehnt. Anders zu Recht OLG Braunschweig NStZ 2013, 593; näher dazu unten II. 2. c).

[16] "Das Recht wertet das Verhalten dessen, der in auswegsloser Situation wagt, was allein noch helfen kann, nicht als vorsätzliche[...]Tötung", Bockelmann, a.a.O. (Fn.1), S. 102, wobei diese Wertung an ein Gelingen der Operation geknüpft wird.

[17] Zum dreistufigen Verbrechensbegriff m.w.N. Matt/Renzikowski/Renzikowski, vor § 13 Rn. 1: Straftat als "tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung".

[18] So NK-Puppe, § 15 Rn. 124; Jakobs a.a.O. (Fn.10), 8. Abschn. Rn. 24, der den Eingriff durch das überwiegende Interesse der Erhaltung des Lebens gerechtfertigt sieht.

[19] LK-Vogel, § 15 Rn. 132.

[20] So Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 38.

[21] Mit zahlreichen weiteren Nachweisen BGH NStZ 2013, 342, 342 f. = HRRS 2013 Nr. 342.

[22] BGHSt 49, 166, 171 = HRRS 2004 Nr. 624.

[23] Renzikowski HRRS 2009, 347, 354.

[24] Vgl. LK-Vogel, § 15 Rn. 132; ausführlich zur Risikoverringerungslehre m.w.N. Rengier, AT, 7. Aufl. (2015), § 13 Rn. 56 ff.

[25] NK-Puppe, § 15 Rn. 125; bei Missachtung der lex artis kann jedoch unter Umständen die Einwilligung und damit die Rechtfertigung entfallen, u.a. BGH NJW 2011, 1088 = BGH HRRS 2011 Nr. 284, Rn. 10 ff.

[26] BGH 2 StR 312/15 = HRRS 2016 Nr. 156; BGH NStZ 2016, 25; m.w.N. BGH NStZ 2011, 699 = HRRS 2011 Nr. 375.

[27] BGH NStZ 2008, 421 = HRRS 2007 Nr. 1063; näher dazu m.w.N. LK-Vogel, § 15 Rn. 287.

[28] Ausführlich BGH NStZ 2011, 699 = HRRS 2011 Nr. 375; BGH NStZ 2008, 93 = HRRS 2007 Nr. 1063; Übersicht zu weiteren für die Gesamtabwägung relevanten Indizien in MüKo-Schneider, § 212 Rn. 12; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Neumann, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Auflage 2013, § 212 Rn. 13; LK-Vogel, § 15 Rn. 109.

[29] Vgl. Kudlich NJW 2011, 2856, 2857; Matt/Renzikowski/Gaede, § 15 Rn. 8; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Neumann, § 212 Rn. 11.

[30] Dazu näher unten 1.

[31] BGH NJW 2012, 1524,1525 = HRRS 2012 Nr. 435; BGH NStZ 2006, 98, 99 = HRRS 2005 Nr. 760; BGH NJW 1999, 2533, 2534.

[32] BGH, NStZ 2009, 91, 91 = HRRS 2008 Nr. 710.

[33] BGH NStZ-RR 2012, 369 = HRRS 2012 Nr. 893; m.w.N. BGH NStZ 2011, 338 = HRRS 2011 Nr. 287.

[34] Begründet in BGHSt 7 363 (Lederriemen-Fall); m.w.N. MüKo-Schneider, § 212 Rn. 7; LK-Vogel, § 15 Rn. 107.

[35] BGH NStZ-RR 2006, 317, 318 = HRRS 2006 Nr. 127.

[36] Vgl. Roxin, a.a.O. (Fn. 20), § 12 Rn. 23; MüKo-Schneider, § 212 Rn. 59.

[37] U.a. BGH, NStZ 2011, 338, 339 = HRRS 2011 Nr. 287; BGH NStZ 2010, 571f = HRRS 2010 Nr. 174.; BGH NStZ-RR 2001, 369 f. dem Motiveig gen gerufen hatte. t auf die Bewertung von anderweitigen Motiven, die die angeklagten Ärzte zu einem vorsätzlichen

[38] Vgl. LK-Vogel, § 15 Rn. 111; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Neumann, § 212 Rn. 18, 20.

[39] Vgl. BGH NJW 2012, 1524 = HRRS 2012 Nr. 435; Leitmeier NJW 2012, 2850, 285; Matt/Renzikowski/Gaede, § 15 Rn. 26.

[40] BGH NJW 1992, 583, 584.

[41] Kritisch dazu MüKo-Schneider, § 212 Rn. 20; Matt/Renzikowski/Safferling, § 212 Rn. 63.

[42] Vgl. BGHSt 36, 1; zu Recht kritisch m.w.N. Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Paeffgen, § 224 Rn. 36 f.

[43] Roxin/Schroth/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. (2010), S. 128 f.; Kudlich NJW 2011 2856, 2858.

[44] Zuerst erwähnt in BGH NStZ 2004, 35; angedeutet auch in BGH NJW 2011, 2895 = HRRS 2011 Nr. 978.

[45] BGH NStZ 2004, 35.

[46] Vgl. BGH NJW 2011, 2895 = HRRS 2011 Nr. 978.

[47] Siehe dazu Schroth NStZ 2013, 437, 443 f.; Böse ZJS 2014, 117, 119 ff.; Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 243 f.; Kudlich NJW 2013, 917, 918 ff.; Fateh-Moghadam MedR 2014, 665, 665 f.; Bülte StV 2013, 753, 753 ff.

[48] Bei genauerer Betrachtung wohl eher die Gefährlichkeit des Unterlassens der gebotenen Hilfeleistung, s.u. Fn. 50.

[49] Kudlich NJW 2011, 2856, 2857.

[50] Siehe zu diesem Problem Kudlich NJW 2011, 2856, 2857 f.; Sternberg-Lieben/Reichmann MedR 2012, 97, 99 f.

[51] BGH NJW 1992, 583, 583 f.

[52] Dazu kritisch unten c).

[53] BGH, NStZ 2004, 35, 36. Dies stellt – entgegen der Auffassung Schroths, Gerechtigkeitswissenschaft. Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Phillips (2005), S. 467, 473 – nicht die Regel auf, dass Vorsatz nur fernliegt, wenn und soweit sich die Behandlung durch den Arzt am Wohle des Patienten orientiert. Die Behandlung zum Wohle des Patienten ist gerade die Regel selbst und nicht die Bedingung derselben!

[54] Vgl. Sternberg-Lieben/Reichmann MedR 2012, 97, 99; Kudlich NJW 2011 2856, 2857; Kraatz NStZ-RR, 2012, 1, 3, der dies mit dem Hippokratischen Eid begründet; Rosenau, Festschrift für Schünemann (2004), S. 689, 702; Roxin/Schroth/Schroth, a.a.O. (Fn. 43), S. 128 f.; ders, a.a.O. (Fn. 53), S. 467, 472.

[55] BGH NJW 1992, 583; MüKo-Schneider, § 212 Rn. 20; Matt/Renzikowski/Safferling, § 212 Rn. 63.

[56] Vgl. BGH NJW 2011, 2895 = HRRS 2011 Nr. 978.

[57] So auch Kudlich NJW 2011, 2856, 2858.

[58] AG Limburg, Urt. v. 25.03.2011; kritisch dazu Neelmeier ArztR 2011, 256, der Tötungsvorsatz selbst unter Berücksichtigung des Heilungswillens annimmt.

[59] Das OLG Braunschweig geht dabei – unnötigerweise – gleichzeitig von einer durch den Heilungswillen des Arztes erhöhten Hemmschwelle aus, dazu krit. Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 242.

[60] OLG Braunschweig NStZ 2013, 593, 595.

[61] Der entscheidende Unterschied zur oben diskutierten Konstellation liegt darin, dass sich Heilungswille und Tötungsvorsatz auf verschiedene Personen beziehen.

[62] OLG Braunschweig NStZ 2013, 593, 595; zustimmend Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 242; Böse ZJS 2014, 117, 119.

[63] Rosenau, a.a.O. (Fn. 54), S. 689, 702.

[64] So Rosenau, a.a.O. (Fn. 54), S. 689, 702; Schroth NStZ 2013, 437, 442 f.

[65] Schroth NStZ 2013, 437, 442.

[66] Schroth NStZ 2013, 437, 442.

[67] So auch Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 241 f. Eine Übersicht zur Funktionsweise des Organverteilsystems m.w.N. bei Schroth NStZ 2013, 437, 438 ff.

[68] Vgl. LG Ellwangen, Urt. v. 18.07.2007.

[69] Vgl. AG Limburg, Urt. v. 25.03.2011.

[70] Auch wenn dies in der Literatur gefordert wird, u.a. von Neelmeier ArztR 2011, 256, 263.

[71] BGH NJW 1992, 583, 584.

[72] Dass die eigentlich längst entschiedene Diskussion das Vorstellungsbild vom Tötungsvorsatz des Arztes auch heute noch teilweise bestimmt, zeigt insbesondere das Aufgreifen ähnlicher Argumente durch Rosenau, a.a.O. (Fn. 54), S. 689, 702 und Schroth NStZ 2013, 437, 442.