HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2013
14. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

693. BVerfG 2 BvR 2302/11, 2 BvR 1279/12 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 11. Juli 2013 (Saarländisches OLG / LG Saarbrücken)

Verfassungsmäßigkeit des Therapieunterbringungsgesetzes (Gesetzgebungskompetenz; Abstandsgebot; Rechtsstaatsprinzip; Vertrauensschutzgebot; erhöhter Gefährlichkeitsmaßstab; verfassungskonforme Auslegung; psychische Störung; Bestimmtheitsgebot; Einzelfallgesetz; objektiver Grundrechtsverstoß).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e EMRK; Art. 7 Abs. 1 EMRK; § 1 ThUG; § 2 ThUG; Art. 316e Abs. 4 EGStGB

1. Zur Verfassungsmäßigkeit des Therapieunterbringungsgesetzes (BVerfG).

2. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers zum Erlass des Therapieunterbringungsgesetzes folgt – ungeachtet seiner präventiven Zielsetzung – aufgrund seines Regelungsgegenstandes und seines lückenfüllenden Charakters bezüglich der Sicherungsverwahrung aus dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG („Strafrecht“). (Bearbeiter)

3. Die Therapieunterbringung beeinträchtigt als nachträgliche freiheitsentziehende Maßnahme ein schutzwür-

diges Vertrauen des Betroffenen und ist daher an den zum Recht der Sicherungsverwahrung entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen (Bezugnahme auf BVerfGE 128, 326 <399> [= HRRS 2011 Nr. 488]; BVerfGE 129, 37 <46 f.> [= HRRS 2011 Nr. 740]; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Februar 2013 - 2 BvR 2122/11 u.a. [= HRRS 2013 Nr. 228]). (Bearbeiter)

4. Eine Therapieunterbringung ist daher nur zulässig, wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK erfüllt sind. Insoweit ist § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG hinsichtlich der Gefahrprognose verfassungskonform auszulegen. (Bearbeiter)

5. Mit § 2 ThUG ist der verfassungsrechtlich gebotene Abstand der nicht als Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG und des Art. 7 Abs. 1 EMRK zu qualifizierenden Therapieunterbringung zur Vollstreckung der Strafhaft gewahrt. (Bearbeiter)

6. Das Tatbestandsmerkmal der psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 ThUG steht trotz seiner Loslösung von der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§§ 20, 21 StGB) nicht in Widerspruch zu den Wertungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK, soweit es im Einklang mit der Gesetzesbegründung dahingehend ausgelegt wird, dass sich ein klinisch erkennbarer Komplex von solchen Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen muss, die mit Belastungen und Beeinträchtigungen auf der individuellen und oft auch der kollektiven oder sozialen Ebene verbunden sind. (Bearbeiter)

7. Der unbestimmte Rechtsbegriff der psychischen Störung ist auch hinreichend bestimmt im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Dies gilt insbesondere angesichts seiner Anknüpfung an Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK, seiner Anlehnung an die in der Psychiatrie genutzten Diagnoseklassifikationssysteme sowie seines erforderlichen Kausalzusammenhangs mit der von dem Unterzubringenden ausgehenden Gefahr. (Bearbeiter)

8. Das Therapieunterbringungsgesetz verstößt nicht gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG, weil es zwar einen eng begrenzten Personenkreis betrifft, in der abstrakten Begrenzung des Anwendungsbereichs jedoch keine Individualisierung der Betroffenen liegt. (Bearbeiter)

9. Die Anordnung einer Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz verstößt gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, wenn sie im Einzelfall den aus Vertrauensschutzgründen heranzuziehenden erhöhten Gefährlichkeitsmaßstab einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten nicht zur Anwendung bringt. Dies gilt unabhängig davon, ob dem anordnenden Gericht die Grundrechtsverletzung vorwerfbar ist, weil es für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung ankommt. (Bearbeiter)


Entscheidung

702. VGH Hessen 8 B 1005/13; 8 D 1006/13 – Beschluss vom 29. Mai 2013 (VG Wiesbaden 4 L 219/13 WI)

Anordnung der Zustimmung zur Vernehmung einer Vertrauensperson als Zeuge in einem Strafverfahren (audiovisuelle Vernehmung des Zeugen an einem geheim gehaltenen Ort; optische und akustische Verfremdung von Bild und Ton; Zeugensperrung: weitere Verwendung als Vertrauensperson, Beeinträchtigung der Bereitschaft anderer Vertrauenspersonen; Konfrontationsrecht; Fragerecht; Zeuge vom Hörensagen; Wahrheitsermittlung; Lockspitzeleinsatz; Tatprovokation); Zulässigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Sperrerklärung (keine Vorwegnahme der strafrechtlichen Hauptsacheentscheidung).

Art. 6 Abs. 3 lit. c, Abs. 1 EMRK; Art. 8 EMRK; § 247 StPO; § 96 StPO; § 172 Nr. 1 a GVG

1. Für die Rechtmäßigkeit einer aus der Sicht der obersten Dienstbehörde primär an der Gefahrenabwehr ausgerichteten Sperrerklärung ist maßgeblich, ob von der zuständigen obersten Dienstbehörde Gründe für die Feststellung geltend gemacht und im Rahmen des Möglichen belegt werden, dass die Weigerung, dem Strafgericht bestimmte Beweismittel zugänglich zu machen, aus einem in § 96 StPO ausgeführten Hinderungsgrund unumgänglich ist. Das Gebot einer rechtsstaatlichen und fairen Verfahrensgestaltung ist nicht nur von den Gerichten, sondern auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten. Eine derartige Erklärung kann daher vor der Verfassung nur Bestand haben, wenn die darin liegenden Einwirkungsmöglichkeiten auf ein Strafverfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren Weise gehandhabt werden und Beweismittel der Beurteilung durch das Gericht nicht weiter entzogen werden, als dies zur Wahrnehmung verfassungsrechtlich geschützter Belange unumgänglich nötig ist.

2. Soll der Zeuge der Vernehmung durch eine Sperrerklärung ganz entzogen werden, muss auch glaubhaft gemacht werden, weshalb eine abgeschirmte audiovisuelle Vernehmung des begehrten Zeugen, die seine Identität nicht preis gibt, ausscheidet. Insoweit muss überzeugend dargelegt werden, weshalb selbst eine Kumulation denkbarer Schutzmaßnahmen unzureichend sein sollte.

3. Die in der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geltend gemachten Bedenken, die audiovisuelle Vernehmung eines Zeugen sei nach dem Gesetz schon nicht zulässig, sind spätestens seit der letzten Änderung des § 247a StPO überholt.

4. Der Umstand, dass eine audiovisuelle Vernehmung für eine Vertrauensperson und für andere künftige Vertrauenspersonen mit Unannehmlichkeiten verbunden sein dürfte, die ihn und andere Vertrauenspersonen künftig davon abhalten könnten, sich als Lockspitzel und Informanten der Polizei zur Verfügung zu stellen, muss im Hinblick auf eine erhebliche Bedeutung der beabsichtigten Zeugenvernehmung der Vertrauensperson für das Strafverfahren in Kauf genommen werden.

5. Das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Angeklagten unter anderem, zur Wah-

rung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Insoweit sind bei der Bestimmung der Beteiligungsrechte des Angeklagten auch die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die diese konkretisierenden Leitlinien der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Für das sich aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe d EMRK ergebende Konfrontationsrecht bedeutet dies, dass dem Angeklagten die effektive Möglichkeit verschafft werden muss, einen Zeugen zu befragen und seine Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit in Frage zu stellen. Davon ausgehend hat der Beschuldigte – als eine besondere Ausformung des Grundsatzes der Verfahrensfairness – ein Recht darauf, Belastungszeugen unmittelbar zu befragen oder befragen zu lassen. Die Befragung des Zeugen hat dabei grundsätzlich, aber nicht zwingend in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Beschuldigten zu erfolgen, wobei in bestimmten Fällen jedoch auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten verzichtet werden kann, etwa aus Gründen des Zeugenschutzes oder des Staatswohls.

6. Die Nachteile einer Sperrerklärung für den die Beweiserhebung beantragenden Beschuldigten werden nicht dadurch ausgeglichen, dass das Strafgericht eine nur eingeschränkte Sachaufklärung durch eine Beweiswürdigung „in aller Schärfe“ zu kompensieren hat. Der Strafrichter unterliegt dem „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“, d.h. er ist verpflichtet, die Wahrheit zu ermitteln und alle für die Tatsachenermittlung bedeutsamen Umstände in der Hauptverhandlung zu erörtern. Lediglich in Ausnahmefällen – etwa bei einer rechtmäßigen Sperrerklärung i.S.d. § 96 StPO – kann er auf Beweissurrogate ausweichen, muss den Mangel der Beweisführung dann jedoch durch eine besonders sorgfältige und vorsichtige Beweiswürdigung hinsichtlich der nur eingeschränkt zugänglichen Beweismittel ausgleichen. Diese Möglichkeit ist jedoch stets nur die „ultima ratio“, wenn der Rückgriff auf den unmittelbaren Beweis in rechtmäßiger Weise versperrt und damit unmöglich ist. Sie rechtfertigt es nicht, dem Angeklagten schon im Vorfeld effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG im Rahmen eines Eilverfahrens zu verweigern. Zunächst ist alles Zumutbare zu tun, um die der Heranziehung eines verfahrensrelevanten Beweismittels entgegenstehenden Gründe auszuräumen und zu der Beweisquelle in der unter Wahrung entgegenstehender Belange bestmöglichen Weise Zugang zu gewähren, damit die erforderliche Sachaufklärung und die damit verbundenen Rechte der Verfahrensbeteiligten nicht mehr als unvermeidlich beeinträchtigt werden.


Entscheidung

687. BVerfG 1 BvR 444/13, 1 BvR 527/13 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 24. Juli 2013 (LG Potsdam / AG Potsdam)

Schutz der Meinungsfreiheit und üble Nachrede (Abgrenzung von Tatsachenbehauptung und Werturteil; Bewertung im Gesamtkontext; Verbot der Sinnentstellung); Schmähkritik (enge Auslegung) und kritische Äußerung gegenüber Behörden (Recht auf polemische Zuspitzung).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 186 StGB; § 185 StGB; § 193 StGB

1. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, sind nicht die Äußerungsteile isoliert zu betrachten, sondern ist die Äußerung in ihrem Gesamtkontext zu würdigen. Soweit eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung nicht ohne Verfälschung ihres Sinns möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden.

2. Die öffentliche Äußerung des Mitarbeiters einer Flüchtlingsorganisation, eine Ausländerbehörde habe bei einer Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels „absichtlich“ und „bewusst“ bestimmte Tatsachen ignoriert, ist bei der vorzunehmenden Bewertung im Gesamtkontext nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Meinung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG einzustufen, wenn sie das betreffende Hintergrundgeschehen zusammenfassend würdigt und wenn sie in einem vorrangigen inhaltlichen Zusammenhang mit weiteren Wertungen wie der Bezeichnung eines Vorgehens als „völlig unverständlich“ steht.

3. Die Einstufung einer Äußerung als strafwürdige Schmähkritik ist nur dann mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar, wenn der Begriff der Schmähkritik eng ausgelegt und lediglich im Sinne einer persönlichen Herabsetzung verstanden wird, bei der ein zugrunde liegendes sachliches Anliegen völlig in den Hintergrund gedrängt wird. Dies wird bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage – wie der Bewertung des Vorgehens einer Behördenmitarbeiterin in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren – kaum jemals der Fall sein.

4. Bei der strafrechtlichen Würdigung kritischer Äußerungen gegenüber Behördenmitarbeitern erlaubt es die Meinungsfreiheit nicht, den Betroffenen auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.


Entscheidung

688. BVerfG 2 BvR 298/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. Juli 2013 (OLG München / LG Deggendorf)

Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug); Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Begründungsanforderungen an eine Fortdauerentscheidung; Abwägung im Einzelfall; Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte); Gefährlichkeitsprognose (erhebliche Gefahr künftiger rechtswidriger Taten; leichte Kriminalität); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Dauer der Unterbringung; milderes Mittel; Auflagen; Führungsaufsicht).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus entfällt nicht deshalb, weil der Betroffene zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist.

2. Bei der Fortdauerentscheidung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden, wobei insbesondere auch die Dauer des bereits erlittenen Freiheitsentzuges zu berücksichtigen ist.

3. Die für eine Fortdauerentscheidung erforderliche konkrete Gefahr erheblicher Straftaten ist nur anzunehmen, wenn die Taten mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen sind, den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Hierzu gehören regelmäßig nicht Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind.

4. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

5. Eine Fortdauerentscheidungen genügt den Begründungsanforderungen nicht, wenn die Anlasstaten mehrere Hausfriedensbrüche und eine Nötigung sowie ein nach heutiger Rechtslage als Nachstellung zu beurteilendes Verhalten waren und das Gericht lediglich von einer erheblichen Gefahr „deliktsanaloger Taten“ ausgeht. In diesem Fall genügt auch der Verweis auf eine „gewisse sexuelle Komponente“ der Anlasstaten nicht, wenn sich der Fortdauerentscheidung nicht entnehmen lässt, dass und ggf. aufgrund welcher konkreten Tatsachen das Gericht eine Gefahr künftiger Sexualstraftaten sieht.

6. Dem sich mit zunehmender Vollzugsdauer verstärkenden Gewicht des Freiheitsanspruchs ist insbesondere dann nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn das Gericht nach einer über elfjährigen Unterbringung im Maßregelvollzug und bei nur wenig schwerwiegenden Anlasstaten die Fortdauer der Unterbringung ohne weitere Begründung für verhältnismäßig erklärt.

7. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.

8. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden.


Entscheidung

695. BVerfG 2 BvR 2957/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2013 (OLG Düsseldorf / LG Kleve)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Begründungsanforderungen an eine Fortdauerentscheidung; Abwägung im Einzelfall; Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte); Gefährlichkeitsprognose (künftige rechtswidrige Taten; Konkretisierung; Deliktstypus; Wahrscheinlichkeit höheren Grades); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (milderes Mittel; Auflagen; Führungsaufsicht); Sachverständigengutachten (Abweichung des Gerichts von der Einschätzung eines Sachverständigen; Auseinandersetzung mit Anknüpfungstatsachen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden, wobei insbesondere auch die Dauer des bereits erlittenen Freiheitsentzuges zu berücksichtigen ist.

2. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen. Dabei trägt nur eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades eine Fortdauerentscheidung; nicht ausreichend ist demgegenüber die bloße Möglichkeit der Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten.

3. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

4. Eine Fortdauerentscheidung genügt den Begründungsanforderungen nicht, wenn das Gericht ohne Konkretisierung des Deliktstypus und des Wahrscheinlichkeitsgrades künftiger Taten lediglich ausführt, es müsse damit gerechnet werden, dass der Untergebrachte in alte destruktive Verhaltensweisen zurückfalle, die ihn gegebenenfalls wieder in deliktische Situationen führen könnten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Unterbringung bereits über zwölf Jahre andauert und damit die Dauer einer zugleich verhängten Freiheitsstrafe erheblich übersteigt.

5. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann. Ausführungen sind insbesondere dann erforderlich, wenn für den Untergebrachten die konkrete Möglichkeit einer Arbeit und einer ambulanten Therapie besteht. Der bloße Hinweis auf eine bislang fehlende Erprobung in Freiheit genügt dann nicht.

6. Einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf es, wenn ein Gericht von einem eingeholten Sachverständi-

gengutachten abweichen will. Stützt ein Sachverständiger eine positive Prognose auf eine Persönlichkeitsreifung des Untergebrachten, eine Abkehr vom Suchtmittelmissbrauch und eine Übernahme von Verantwortung für begangene Taten, so genügt es nicht, wenn das Gericht ohne Auseinandersetzung mit den der Prognose zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen allein unter Verweis auf eine abweichende Einschätzung der Unterbringungseinrichtung die Fortdauer der Maßregel anordnet.


Entscheidung

690. BVerfG 2 BvR 708/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2013 (OLG Dresden / LG Leipzig)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Jugendlicher; Verfassungsmäßigkeit; Unbefristetheit; Möglichkeiten der Entlassung); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (umfassende Abwägung im Einzelfall; Begründungsanforderungen; Freiheitsgrundrecht; überwiegendes Sicherungsinteresse der Allgemeinheit); Behandelbarkeit (Gleichheitssatz; Ungleichbehandlung; Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; fehlende konkrete Behandlungsaussichten).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 64 Satz 2 StGB; § 67d StGB; Art. 37 Buchst. a Kinderrechtskonvention

1. Die gesetzliche Regelung zur – grundsätzlich unbefristeten – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus genügt angesichts der Möglichkeiten einer Aussetzung zur Bewährung und einer Erledigungserklärung sowie angesichts der zwingenden jährlichen Überprüfung auch bei der Unterbringung von zur Tatzeit Jugendlichen den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

2. Wenngleich für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus eine Regelung fehlt, die – wie § 64 Satz 2 StGB für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt – die konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges voraussetzt, ist der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verletzt. Grund für die Differenzierung ist der durch die staatliche Schutzpflicht gerechtfertigte Vorrang des Sicherungsgedankens gegenüber dem Resozialisierungsgedanken bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus.

3. Bei Entscheidungen über die Anordnung und Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen mit dem Erfordernis des Schutzes der Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen abzuwägen. Dabei gebietet es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Freiheit der Person nur insoweit zu beschränken, als dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist.

4. Eine Fortdauerentscheidung genügt den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Begründungsanforderungen nur, wenn sie alle für die Abwägung wesentlichen Aspekte berücksichtigt und auf alle spezifischen Besonderheiten des Falles eingeht. Erörterungsbedürftig ist es insbesondere, wenn ein Untergebrachter die Anlasstaten als Jugendlicher begangen und mehr als die Hälfte seines Lebens in der Unterbringung verbracht hat und ein Therapieerfolg nicht konkret absehbar ist. Auch unter solchen Umständen kann eine Fortdauer verhältnismäßig sein, wenn – bei grundsätzlich bestehenden Behandlungsmöglichkeiten – angesichts einer hohen Gefahr weiterer sexuell motivierter Tötungsdelikte das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit den Freiheitsanspruch des Untergebrachten überwiegt.

5. Der Kinderrechtskonvention kommt aufgrund der Entscheidung des Bundesgesetzgebers vom 17. Februar 1992 Gesetzesrang zu. Sie kann als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes herangezogen werden. Dies verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Kinderrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen ihrer Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist (vgl. BVerfGE 111, 307, 317; 128, 326, 371 f.).

6. Dies Wertungen des Art. 37 Buchstabe a Kinderrechtskonvention stehen der Vereinbarkeit der §§ 63, 67d StGB mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht entgegen.


Entscheidung

691. BVerfG 2 BvR 789/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2013 (OLG Hamm)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Begründungsanforderungen an eine Fortdauerentscheidung; Abwägung im Einzelfall; Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte); Gefährlichkeitsprognose (künftige rechtswidrige Taten; Konkretisierung; Deliktstypus; Grad der Wahrscheinlichkeit); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (milderes Mittel; Auflagen; Führungsaufsicht; fehlende Behandlungsaussichten).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden, wobei insbesondere auch die Dauer des bereits erlittenen Freiheitsentzuges zu berücksichtigen ist.

2. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen.

3. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

4. Lag der Unterbringung die Drohung mit einer Sprengstoffexplosion anlässlich einer Auseinandersetzung des Betroffenen mit einer Behörde zugrunde, so genügt es zur Begründung einer Fortdauerentscheidung nicht, wenn das Gericht lediglich ausführt, der Untergebrachte könnte angesichts seines fortbestehenden Wahnsystems erneut in behördliche Auseinandersetzungen verwickelt werden, die in mit der Anlasstat vergleichbare Taten münden könnten. Es ist vielmehr darzulegen, ob das Gericht nur mit weiteren Drohungen oder auch mit deren Umsetzung in die Realität rechnet und wie hoch es den Grad der Wahrscheinlichkeit hierfür ansieht.

5. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.

6. Wenngleich bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus der Resozialisierungsgedanke grundsätzlich hinter dem Sicherungsgedanken zurücktreten kann, bedarf es bei einer Fortdauerentscheidung der Erörterung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, wenn die bei dem Untergebrachten bestehende Störung therapeutisch kaum beeinflussbar ist.


Entscheidung

694. BVerfG 2 BvR 2815/11 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 10. Juli 2013 (OLG Karlsruhe / LG Karlsruhe)

Körperliche Durchsuchung im Strafvollzug (allgemeines Persönlichkeitsrecht; Eingriffsschwere; Verhältnismäßigkeit; Zweckerreichung; Vollzugsaufwand); effektiver Rechtsschutz (Begründung einer Beschwerdeentscheidung; Leerlaufen der Beschwerdemöglichkeit).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 84 Abs. 3 StVollzG; § 109 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG; § 64 Abs. 3 JVollzGB III BW

1. Durchsuchungen von Strafgefangenen, die mit einer Entkleidung und einer Inspektion von Körperöffnungen verbunden sind, greifen in schwerwiegender Weise in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein und dürfen daher nicht routinemäßig, sondern nur verdachtsbezogen und in schonender Art und Weise durchgeführt werden.

2. Bei der mit einer Entkleidung verbundenen Durchsuchung eines Strafgefangenen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, so dass von der Maßnahme abzusehen ist, wenn der erstrebte Zweck sie nicht erfordert, weil etwa die Gefahr des Einschmuggelns verbotener Gegenstände bei Rückkehr in die JVA gänzlich fernliegend erscheint. Dieser Maßgabe genügt die Vorschrift des § 64 Abs. 3 JVollzGB III BW über körperliche Durchsuchungen im Grundsatz.

3. Die mit einer mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung bei der Rückkehr in die Strafanstalt verletzt einen Strafgefangenen in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wenn der Gefangene bereits beim Verlassen der Anstalt körperlich durchsucht worden ist, während seiner Ausführung ununterbrochen gefesselt und von zwei Justizbediensteten begleitet war und einzig Kontakt zu einer Richterin während eines Anhörungstermins hatte.

4. Wenngleich mit der Mitteilung und zuverlässigen Weitergabe solcher Umstände, die ein Einschmuggeln ausschließen und die daher eine Durchsuchung verbieten, ein zusätzlicher Vollzugsaufwand verbunden sein kann, rechtfertigt dies wegen der Schwere des Eingriffs die ausnahmslose und verdachtsunabhängige Durchsuchung nicht.

5. Sieht das Beschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung der Beschwerdeentscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch die Beschwerdemöglichkeit nicht leer läuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung mit Grund- bzw. Menschenrechten bestehen, etwa weil die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abweicht.


Entscheidung

689. BVerfG 2 BvR 370/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2013 (LG Neubrandenburg)

Durchsuchung von Geschäftsräumen (Begriff der Wohnung; weite Auslegung); effektiver Rechtsschutz (Rechtsschutzinteresse; tiefgreifender Grundrechtseingriff; kurzzeitige Eingriffe).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 304 StPO

1. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange anzunehmen, wie in dem gerichtlichen Verfahren eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff beseitigt werden kann.

2. Darüber hinaus verpflichtet Art. 19 Abs. 4 GG allerdings die Gerichte, jedenfalls bei gewichtigen Grundrechtsbeeinträchtigungen vom Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses auch dann auszugehen, wenn sich die direkte Belastung durch den Eingriff typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann.

3. Die strafprozessuale Wohnungsdurchsuchung gehört als eine vom Grundgesetz selbst unter Richtervorbehalt gestellte Maßnahme zu den tiefgreifenden Grundrechtseingriffen, die typischerweise vor der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung bereits wieder beendet sind.

4. Der Begriff der Wohnung ist in diesem Zusammenhang weit auszulegen, so dass es für den Schutz nach Art. 13 Abs. 1 GG und für das Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses keinen Unterschied macht, ob die angefochtene Durchsuchung Wohnräume oder lediglich Betriebs- oder Geschäftsräume betrifft.


Entscheidung

692. BVerfG 2 BvR 1541/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 10. Juni 2013 (OLG Naumburg / LG Stendal)

Freiheitsgrundrecht (Freiheitsstrafe; Reststrafaussetzung zur Bewährung nach Unterbringung im psychiat-

rischen Krankenhaus; Zweispurigkeit des Sanktionensystems; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Gesamtbetrachtung; Legalprognose); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Verfassungsbeschwerdefrist; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Büroversehen; Organisationsverschulden; Überwachungsverschulden).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 57 Abs. 1 StGB; § 67 Abs. 4 StGB; § 93 Abs. 2 BVerfGG

1. Auch wenn dem Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde das Verschulden seines Bevollmächtigten zuzurechnen ist, ist ihm hinsichtlich der versäumten Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn die Verfassungsbeschwerde lediglich aufgrund des Versehens einer über mehrere Jahre zuverlässig tätigen Bürokraft des Bevollmächtigen verspätet eingeht, so dass den Bevollmächtigten insoweit kein Organisations- oder Überwachungsverschulden trifft.

2. Bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel ist das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen mit dem Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs bzw. am Schutz der Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen abzuwägen. Dabei gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Freiheit der Person nur beschränkt wird, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist.

3. Angesichts ihrer unterschiedlichen Zielrichtung dürfen Strafen und freiheitsentziehende Maßregeln zwar grundsätzlich nebeneinander angeordnet werden. Dabei müssen sie einander jedoch so zugeordnet werden, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unverhältnismäßiger Weise eingegriffen wird. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit.

4. Wenngleich bei Strafen bereits im Strafurteil über die Verhältnismäßigkeit der zu vollstreckenden Strafe grundsätzlich entschieden worden ist, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Rahmen der Prüfung einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen. Dabei kann die Dauer einer vorangegangenen Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug aus Anlass derselben Tat nicht außer Betracht bleiben, auch wenn sie gemäß § 67 Abs. 4 StGB in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise nur auf zwei Drittel der Strafe angerechnet wird.

5. Ein Gericht verletzt das Freiheitsgrundrecht eines Strafgefangenen in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn es eine Reststrafaussetzung zur Bewährung allein unter Hinweis auf eine negative Legalprognose ablehnt, ohne die Frage zu erörtern, ob die Vollstreckung des Strafrestes verhältnismäßig ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Maßregel gerade deshalb für erledigt erklärt worden war, weil ihr weiterer Vollzug angesichts dessen langer Dauer für unverhältnismäßig gehalten wurde. Besonders sorgfältiger Erörterung bedarf die Verhältnismäßigkeit der (weiteren) Strafvollstreckung auch dann, wenn die Gesamtdauer des Freiheitsentzuges nicht nur die Höhe der verhängten Strafe, sondern auch die gesetzliche Höchststrafe des zugrunde liegenden Delikts um ein Vielfaches übersteigt.