HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2011
12. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die fehlende Möglichkeit zur konfrontativen Befragung nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und ihre Auswirkungen auf die Beweiswürdigung

Anmerkung von BGH 2 StR 397/09 (HRRS 2010 Nr. 456) = BGHSt 55, 70

Von Privatdozent Dr. Edward Schramm, Universität Tübingen

Im Zentrum des Beschlusses steht die strafprozessuale Fragestellung, ob es einen revisiblen Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren (§ 337 StPO i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK) darstellt, wenn dem Angeklagten und seinen Verteidigern eine konfrontative Befragung der maßgeblichen Belastungszeugen nicht ermöglicht wird. Der BGH hat ein daraus folgendes Beweisverwertungsverbot für das deutsche Strafverfahren verneint und sich hierfür maßgeblich auf die sog. "Stufen-Theorie" des EGMR zum Frage- und Konfrontationsrecht berufen.[1] Insofern steht die BGH-Entscheidung im Einklang mit Teilen der Rechtsprechung des EGMR, namentlich mit seiner in Deutschland vieldiskutierten und von der deutschen Rechtsprechung intensiv rezipierten Entscheidung im Fall Haas ./. Bundesrepublik Deutschland.

Doch sind in der neuesten Rechtsprechung des EGMR Tendenzen erkennbar, dem Recht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d. EMRK eine größere Bedeutung beizumessen,[2] als dies zuletzt der Fall war, und so den verurteilungsfreundlicheren Weg zu verlassen, den der Gerichtshof bis dahin beschritten hatte. Insbesondere scheint der EGMR nunmehr von seiner bisherigen Linie abzuweichen, der Verletzung des Konfrontationsrechts die rechtliche Brisanz dadurch zu nehmen, dass es letztlich darauf ankomme, dass das Verfahren insgesamt gesehen fair gewesen sei. Die Rezeption dieser jüngsten EGMR-Rechtsprechung hat in der BGH-Rechtsprechung offenbar noch nicht stattgefunden. Doch unabhängig von solchen neuesten Entwicklungen in der Judikatur des EGMR begegnet die Entscheidung des 2. Strafsenats mit Blick auf das damit praktisch leerlaufende Konfrontationsrecht gewissen Bedenken.[3]

1. Hintergrund des Beschlusses ist ein von mehreren Brüdern im Jahre 2006 begangener sog. Ehrenmord, der den archaisch anmutenden, in Teilen unserer Welt kulturell noch immer nicht überwundenen Mechanismus von Gewalt und Rache in einer nicht enden wollenden Spirale der Vergeltung und Wiedervergeltung deutlich macht. Der Ortsvorsteher S eines Dorfes im Osten der Türkei hatte im Jahr zuvor den M. D. den jüngsten von vier Brüdern, bei einem Streit um das dort erhobene örtliche Hirtengeld schwer verletzt. Ein Jahr später sannen M. D. und seine drei Brüder auf Rache. S wurde daraufhin in einer Metzgerei von M. D. und seinen zwei Brüdern I. D. und Y. D., mit Beilen und Messern umgebracht. Der Angeklagte (A), der älteste der D-Brüder, soll die Tat maßgeblich mitgeplant und den Mietwagen bei der Fahrt zum Tatort und bei der Flucht von dort gesteuert haben. An dem Tötungsakt in der Metzgerei war er nicht eigenhändig beteiligt. Nach der Tötung des S wurden die Häuser der Familie des Angeklagten angegriffen, geplündert und zerstört; die Familie wurde aus dem Dorf vertrieben.

M. D. und Y. D. werden 2008 in der Türkei wegen der Tötung des S verurteilt, wobei die lebenslange Freiheitsstrafe wegen der vorangegangenen Provokation auf 24 Jahre gemildert wurde.[4] Gegen I. D. konnten bislang

mangels Kenntnis seines Aufenthaltsorts noch keine strafrechtlichen Maßnahmen ergriffen werden. A als vierter Tatverdächtigter lebte in Deutschland, hielt sich hier auch bei seiner Festnahme auf und wurde in Deutschland vor Gericht gestellt, während sein ebenfalls in Deutschland lebender Bruder Y. D. an die Türkei ausgeliefert wurde. A hat seine Tatbeteiligung bestritten. Er wurde vom LG Darmstadt wegen mittäterschaftlich begangenen Mordes aus niedrigen Beweggründen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Die Revision des A hat der BGH als unbegründet verworfen. Das Gericht sah in seinem Beschluss keinen Anlass für Ausführungen zu der Frage, woraus sich bezüglich des Verhaltens von A die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ergab; man kann darüber spekulieren, ob es etwa auf einer (doppelten) deutschen Staatsangehörigkeit des A (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder einer nicht durchgeführten Auslieferung (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB) beruhte.

2. Das Problem des Landgerichts Darmstadt als zuständigem Tatgericht bestand darin, dass die drei zentralen Zeugen – B. und T. in der Metzgerei und sodann der Fotograf A, der als einziger Augenzeuge das Geschehen vor der Metzgerei auf der Straße beobachtet hatte – im Rahmen des Strafverfahrens gegen den Angeklagten nicht als Zeugen vernommen werden konnten. Sie waren nicht bereit (ob etwa aus Angst oder aus anderen nachvollziehbaren Gründen, bleibt dunkel), in der Hauptverhandlung in Deutschland auszusagen; eine audiovisuelle Zeugenvernehmung war technisch nicht möglich.

Das LG behalf sich damit, die Zeugen B. und T. im Wege eines an die türkische Justiz gerichteten Rechtshilfeersuchens zu vernehmen. Doch richtet sich eine solche Untersuchungshandlung, wie der BGH zutreffend ausführt, gem. Art. 3 Abs. 1 des Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhÜbk) nach den Modalitäten, die das Strafverfahren des ersuchten Staates - hier der Türkei – für solche Handlungen vorschreibt.[5] Zwar sieht Art. 84 Abs. 1 des CMUK - der türkischen StPO – durchaus ein Anwesenheitsrecht des Angeklagten und des Verteidigers bei richterlichen Untersuchungshandlungen vor; diese Regelung wird aber, wie der BGH näher rechtlich ausführt, von der türkischen Justiz nicht auf die kommissarische Vernehmung von Zeugen im Rahmen eines ausländischen Rechtshilfeersuchens erstreckt. Insbesondere hat die Türkei nicht das 2. Zusatzprotokoll des EuRhÜbk von 2001 ratifiziert, dessen Art. 8 eine Erledigung des Rechtshilfegesuchs unter Anwendung der Vorschriften des ersuchenden Staates vorschreibt.[6] Trotz aller Bemühungen des LG Darmstadt fand somit die Vernehmung von B und T in der Türkei in Abwesenheit des Angeklagten A und seines Verteidigers statt.

Nicht übersehen werden darf, dass die Vernehmung in der Türkei durch türkische Richter erfolgte. Dabei waren zwei Richter des LG Darmstadt, der sachbearbeitende Staatsanwalt und ein Dolmetscher anwesend, die, soweit ersichtlich, selbst keine Fragen an die Zeugen gestellt haben. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass das Gericht und die Staatsanwaltschaft nur die Zuschauer (und Zuhörer) der Vernehmung waren. Sie hatten offenbar zuvor dem türkischen Gericht einen Fragenkatalog übergeben; die gewünschten Fragen wurden aber durch die türkischen Richter an die Zeugen gestellt. Die deutschen Verteidiger des Angeklagten A wurden übrigens vom LG dazu aufgefordert, einen eigenen Fragekatalog zu erstellen, der dann bei der kommissarischen Vernehmung hätte vorgelesen werden können. Die Verteidiger des A kamen dem jedoch nicht nach und haben sich somit selbst der Möglichkeit beraubt, wenigstens auf diesem Wege Fragen an die beiden Zeugen zu stellen.

Die Vernehmung des einzigen Augenzeugen vor der Metzgerei, des Fotographen A, erfolgte nicht im Wege der Rechtshilfe, sondern in der türkischen Hauptverhandlung gegen die anderen zwei Brüder. Die Strafverteidiger des A haben weder an dieser Zeugenvernehmung noch an der Hauptverhandlung in der Türkei insgesamt teilgenommen.

3. Die Zeugenaussagen von B und T vor dem türkischen Rechtshilfegericht wurden dergestalt in das deutsche Strafverfahren eingebracht, dass vor dem LG Darmstadt gem. § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO die Protokolle der Vernehmungen von B und T in der türkischen Hauptverhandlung, darüber hinaus die Protokolle ihrer Vernehmungen durch das Rechtshilfegericht verlesen und türkische Vernehmungs- und Ermittlungsbeamte vom LG Darmstadt vernommen wurden. Außerdem wurde eine Videoaufzeichnung der Vernehmung von B und T abgespielt und schließlich auch ein an der Rechtshilfevernehmung teilnehmender Landrichter als Zeuge vernommen.

Somit war es A und seinen Verteidigern in keiner Phase des Strafverfahrens möglich, direkt Fragen an die Zeugen B und T zu stellen. Das Recht des Verteidigers, bei richterlichen Zeugenvernehmungen anwesend zu sein, ist im deutschen Strafverfahrensrecht für das Ermittlungsverfahren in § 168c Abs. 2 StPO und für die Hauptverhandlung in § 240 Abs. 2 StPO verbrieft. Das darin festgehaltene Anwesenheitsrecht schließt naturgemäß ein Fragerecht mit ein. Auch der Beschuldigte bzw. Angeklagte hat explizit das Recht, bei der Vernehmung dabei zu sein (§§ 168c Abs. 2 bzw. 240 Abs. 2 StPO), sofern bei einer Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren nicht einer der von der StPO genannten Ausschlussgründe vorliegt (§ 168c Abs. 3, 4 StPO). Wird der Verteidiger nicht von der Zeugenvernehmung benachrichtigt, führt dies jedoch nicht sogleich zu einem Beweisverwertungsverbot, sondern erst dann, wenn er der Verwertung in der Haupt-

verhandlung nicht widerspricht.[7] Im vorliegenden Fall hat einer der beiden Strafverteidiger der Verlesung der Protokolle widersprochen. Daher stellt sich die Frage, ob hier ein Verstoß gegen § 168 c Abs. 2 StPO vorliegt.

Es ist nach dem Rechtshilferecht für die Zeugenvernehmung durch das türkische Rechtshilfegericht das türkische Strafverfahrensrecht maßgeblich. Dieses sieht aber, wie oben bereits angedeutet, keine Anwesenheit des Verteidigers bei einer kommissarischen Zeugenvernehmung durch das Rechtshilfegericht vor. Obwohl sich das LG Darmstadt intensiv um eine Teilnahme des Verteidigers bemüht hatte, wurde diesem von den türkischen Justizbehörden die Anwesenheit nicht gestattet. Es kann daher nicht von einem Verstoß des LG Darmstadt gegen § 168 c II StPO ausgegangen werden, da diese Norm im türkischen Strafprozess nicht zur Anwendung gelangt.

5. Allerdings hat jeder Angeklagte in dem Strafverfahren eines Landes, das Mitgliedsstaat der EMRK ist – so in Deutschland (Ratifikation der EMRK 1952) und in der Türkei (Ratifikation 1954) –, nach Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht auf ein faires Verfahren. Das Konfrontations- und Fragerecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK stellt eine besondere Ausprägung dieses Rechts dar.[8]

Es gehört zu den elementaren Verfahrensrechten des Angeklagten und seines Verteidigers, einen Belastungszeugen ausführlich und intensiv zu befragen, nicht zuletzt, um so seine Glaubwürdigkeit oder zumindest die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu erschüttern. Dieses Recht, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, ist nicht nur Ausdruck der besonderen Wertschätzung der Verteidigungsrechte im Parteiprozess ausländischer Strafverfahren, deren Prozessverständnisse insoweit über die EMRK auch in das deutsche Strafverfahren einwirken.[9] Doch wäre es eine verkürzte Sicht der Dinge, insoweit nur die Waffengleichheit sowie die (formale) Erschütterbarkeit der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage zu betonen. Das Konfrontationsrecht ist zumindest dazu geeignet, zugleich ein Beitrag zur Feststellung der – für das deutsche Strafverfahren zentralen - materiellen Wahrheit im Strafverfahren zu leisten.[10] Kein Beweismittel ist unzuverlässiger als die Zeugenaussage. Das Frage- und Konfrontationsrecht des Angeklagten verringert das Risiko von Falschaussagen vor Gericht. Der Beschuldigte kann mit diesem "Stresstest" die "Belastungszeugen ‚auf Herz und Nieren‘ prüfen (...), womit zugleich klar ist, dass es um die Kontrolle der Zuverlässigkeit des Zeugens i. S. einer ‚tested evidence‘ geht".[11] Das Konfrontationsrecht dient mithin auch der "Sachaufklärung", da damit "die Beweismittel (...) auch durch die Beteiligung der Verteidigung auf ihren tatsächlichen Wahrheitsgehalt ausgetestet werden können."[12] Diese Eignung zur Sachaufklärung besteht ungeachtet des Umstands, dass der Angeklagte nicht zur Wahrheitsfindung beitragen muss und die konfrontative Befragung nicht unbedingt stets der Wahrheitsfindung förderlich ist.[13]

Ist eine solche Befragung nicht möglich, weder im Ermittlungsverfahren noch in der mündlichen Verhandlung, bedeutet dies im Ergebnis eine erhebliche Beeinträchtigung der Beschuldigtenrechte. Würde man dem Anwesenheitsrecht größte Bedeutung beimessen, müsste dies folgerichtig auf ein Beweisverwertungsverbot bereits im Ermittlungsverfahren oder in der späteren Hauptverhandlung hinauslaufen. Dies wäre die rechtsstaatlich stringenteste Lösung.[14] Allerdings wäre eine solche Betrachtungsweise zu undifferenziert, liefe sie doch im Ergebnis auf eine Bevorzugung der Verteidigungsinteressen des Angeklagten hinaus, wie es auch Fallkonstellationen geben mag, in denen der Verzicht auf eine konfrontative Befragung mit Blick auf andernfalls tangierte Menschenrechte der EMRK notwendig erscheint.[15]

a) Der BGH hat in seiner Entscheidung keine Aussage darüber getroffen, dass der Türkei überhaupt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zur Last gelegt werden kann. Vielmehr habe alles im Einklang mit dem türkischen Strafprozessrecht und dem Internationalen Rechtshilferecht gestanden. Dies dürfe im Rahmen der Beurteilung der Fairness des Verfahrens nicht außer Acht gelassen werden. Diese Feststellung des BGH ändert aber nichts daran, dass das Fragerecht des Art. 6 III lit. d EMRK bei der Zeugenvernehmung durch das Rechtshilfegericht nicht umgesetzt wurde. Es dürfte hier durchaus ein Verstoß der türkischen Justiz gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vorliegen.

b) Daher stellt sich durchaus die Frage eines Beweisverwertungsverbots. Doch eine solche Forderung wird in solchen Fällen weder vom EGMR im Fall Haas[16] noch vom BGH[17] und BVerfG im Rahmen ihrer Gesamtbetrachtungstheorie[18] erhoben. Diese Gerichte favorisieren stattdessen eine Beweiswürdigungslösung. Sie stellen allgemein darauf ab, dass das Verfahren insgesamt fair gewesen sein müsse. Dabei sei insbesondere von Bedeutung, wer den Konventionsverstoß zu verantworten habe; dies begründe unterschiedliche Erfordernisse an die Beweiswürdigung. Sei der Verfahrensmangel den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnen, seien "besonders hohe Anforderungen" (BGH aaO Rn.16) an die Beweiswürdigung zu stellen (Theorie der besonders hohen Anforderungen an die Beweiswürdigung). Dann dürfe das Gericht die Zeugenaussage zwar heranziehen, aber die Verurteilung müsse darüber hinaus durch andere, gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestä-

tigt werden. Sei dagegen der Fehler nicht von der Justiz zu verantworten, könne die Verurteilung durchaus maßgeblich auf die Zeugenaussage gestützt werden, sofern diese äußerst sorgfältig gewürdigt werde und es weitere Indizien gebe, welche die Aussage stützten (Theorie der besonders sorgfältigen Beweiswürdigung der Zeugenaussage).

Bei Zeugenaussagen, die im Ausland ohne Fragemöglichkeit des Beschuldigten oder seines Verteidigers stattgefunden haben und die in den deutschen Strafprozess nur im Wege der Verlesung eingeführt werden können, stellt sich daher nach der EGMR- und der ihr folgenden BGH-Rechtsprechung die Frage, wer den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zu vertreten hat. Zumindest die konventionswidrige Zeugenvernehmung im Wege der Rechtshilfe wurde von der deutschen Justiz durch den Antrag auf Rechtshilfe sozusagen sehenden Auges verursacht: das LG Darmstadt war sich vor der Durchführung der Vernehmung dessen bewusst, dass diese Zeugenaussage nicht im Beisein des Angeklagten und seines Verteidigers stattfinden würde. Der Antrag zur Zeugenvernehmung im Ausland begründet somit eine Mitverursachung und damit Mitverantwortung der deutschen Justiz für die unzureichende Zeugenvernehmung in der Türkei. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der ersuchte Staat selbst ein Vertragsstaat der EMRK ist. Eine Verkürzung der Verteidigerrechte nur aufgrund des Umstands, dass die Türkei als ersuchter Vertragsstaat den vom deutschen Staat Angeklagten nicht selbst angeklagt, dürfte heute nicht mehr zu halten sein.[19]

c) Im Übrigen hat der EGMR in seiner Kammerentscheidung Al-Khawaja und Tahery gegen das Vereinigte Königreich vom Januar 2009 in gewisser Weise einen Rechtsprechungswandel vollzogen, der dem Verstoß gegen das Konfrontationsrecht ein größeres Gewicht beimisst, als dies bislang der Fall war, und der bislang praktizierten Gesamtbetrachtung ein neues Gepräge gibt.

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK könne nicht bloß als ein Faktor ("illustration") von mehreren verstanden werde, der in die Abwägung innerhalb der Gesamtbetrachtung, ob das Verfahren insgesamt fair gewesen sei, einzustellen sei. Vielmehr garantiere er ein rechtliches Minimum ("minimum right"), das jedermann zustehe, dem eine Straftat vorgeworfen werde.[20] Dieser Verfahrensmangel könne, so der EGMR, auch nicht dadurch geheilt werden, dass andere Zeugenaussagen geprüft werden können oder eine eigene Beweisführung möglich sei. Dies gelte auch in Verfahren, die durch eine Jury entschieden würden und in denen eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung durch eine richterliche Belehrung praktiziert werde.

Auch hat der EGMR dem Umstand, dass die Beeinträchtigung der Verteidigerrechte nicht dem Staat zuzurechnen sei, keine Relevanz für seine Entscheidung beigemessen, dass das englische Gericht Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK missachtet habe. Es bleibt abzuwarten, ob diese Linie sich in der EGMR-Rechtsprechung durchsetzen wird. Offenbar hat die Große Kammer des EGMR die Fälle Al-Khawaja und Tahery zur Entscheidung angenommen, um die Divergenzen zwischen der älteren und neuesten EGMR-Rechtsprechung aufzuheben.[21]

6. Hinsichtlich der Zeugenaussage des Fotographen A hat das deutsche Gericht das Protokoll der Vernehmung im türkischen Strafverfahren verlesen sowie dessen Vernehmungspersonen vernommen; im Rahmen der türkischen Hauptverhandlung hätte für den Angeklagten A bzw. seinem Verteidiger ohnehin keine Möglichkeit bestanden, Fragen an den Zeugen zu stellen. Insofern steht ein Verstoß der türkischen Justiz gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK hier ohnehin nicht zur Diskussion.

Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage, ob das Protokoll einer solchen Zeugenvernehmung verlesen werden darf und welche Beweiskraft dieser zukommt. Denn dem Angeklagten ist es unmöglich, die verlesenen Aussagen des Zeugen in einer direkten Konfrontation mit ihm in Zweifel zu ziehen. Darin liegt zwar auf den ersten Blick kein Verstoß gegen das Gebot der Waffengleichheit, da auch das Gericht und die Staatsanwaltschaft nicht die Möglichkeit besitzen, den Zeugen "face to face" direkt zu befragen. Auch kann der Angeklagte und sein Verteidiger die verlesene Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung mittelbar gegenüber dem Gericht zu widerlegen versuchen.

Dies ändert aber nichts daran, dass das Korrektiv der Befragung des Zeugen durch Angeklagten und Verteidiger in solchen Fallkonstellationen zur Gänze entfällt. Es wäre daher zwar kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, aber doch ein Verstoß gegen die Fairness im Strafverfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn eine solche Zeugenaussage als alleinige oder doch maßgebliche Grundlage einer Verurteilung herangezogen werden würde. Es kann daher – entgegen dem EGMR und dem BGH – für die Anforderungen an die Beweiswürdigung nicht darauf ankommen, ob ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vorliegt und wer ihn zu vertreten hat. Entscheidend muss vielmehr sein, dass einer verlesenen Zeugenaussage, ohne dass die Möglichkeit einer konfrontativen Befragung bestand, von vorneherein ein geringerer Beweiswert zukommt, der nur dadurch kompensiert werden kann, dass gewichtige andere Indizien die Aussage des Zeugen stützen.[22]

Der BGH hat hier zwar einen Verfahrensverstoß der Türkei verneint, aber selbst unter der Annahme, dass ein solcher vorgelegen habe und der deutschen Justiz zurechenbar sei, die Verwertbarkeit der Aussagen bejaht. Das LG Darmstadt habe die Verurteilung nicht allein auf die Zeugenaussagen, sondern auf weitere Indizien gestützt, "insbesondere die traditionell gewichtige innerfamiliäre Position des Angeklagten als ältester Sohn" (BGH aaO Rn. 28). Es dürfte freilich Konsens sein, dass es auch in

Ehrenmord-Fällen keine strafrechtliche Sippenhaftung geben darf. Eine Familie, die eine Verletzung ihrer Ehre durch einen Mord sühnt, ist keine Bande oder eine kriminelle Vereinigung, bei der man sich als Bruder kraft Abstammung strafbar macht. Zwar spricht vieles dafür, dass bei einem Ehrenmord, an dem drei von vier Brüdern erwiesenermaßen unmittelbar am Tötungsakt beteiligt waren, auch der vierte Bruder eine wichtige Rolle gespielt hat, insbesondere mit Blick auf das im Beschluss geschilderte, auffällige Verhalten des Angeklagten vor und nach der Tat. Die Typizität des Geschehens befreit aber nicht von der konkreten Feststellung der Schuld eines jeden der vier Brüder. Das Vorliegen einer bloßen Anstiftung oder Beihilfe erscheint nicht völlig ausgeschlossen.[23]

7. Es ist - schon aufgrund der praktischen Relevanz deutsch-türkischer Fallkonstellationen im Strafrecht - eine unbefriedigende Situation, wenn bei auf einer Rechtshilfe beruhender Vernehmung von Zeugen in der Türkei die türkische Justiz dem Verteidiger kein Anwesenheitsrecht gewährt. Es bleibt zu hoffen, dass die Türkei das 2. Zusatzprotokoll zum EuRhÜbk ratifiziert und so diesen verfahrensrechtlichen Mangel beseitigt.

Damit ist aber das andere, grundsätzliche Problem nicht behoben: Bei der Verlesung von Protokollen einer Zeugenvernehmung, die im Ausland stattgefunden hat, ohne dass der Beschuldigte und Verteidiger zugegen waren, läuft das Konfrontationsrecht des Beschuldigten und seines Verteidigers praktisch leer. Dies entspricht aber nicht dem Geist der EMRK, die mit dem Konfrontationsrecht des Angeklagten und Verteidigers auch zu einer "tested evidence" und damit zur materiellen Wahrheitsfindung im Strafverfahren beitragen möchte.

Für die Frage, wie eine solche Aussage im Rahmen der Beweiswürdigung im deutschen Strafverfahren zu gewichten ist, kann es nicht darauf ankommen, ob die Justiz (sei es die ausländische, sei es die deutsche) diesen Zustand zu verantworten hat - sie wird ihn vielfach gerade nicht zu verantworten haben. Impossibilium nulla obligatio est, wie schon der EGMR in diesem Zusammenhang festgestellt hat. Auch setzen Menschenrechtsverletzungen nicht am staatlichen Verschulden an, sondern daran, dass in der staatlichen Praxis die Ziele, die mit dem Menschenrecht verfolgt werden, nicht erreicht werden.[24]

Zudem hat selbst der EGMR jüngst dem Umstand, dass der Staat die Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte nicht verschuldet hat, keine entscheidende Bedeutung beigemessen.[25] Ergänzungsbedürftig wäre in der BGH-Entscheidung darüber hinaus, worin der tiefere Grund dafür liegt, dass es auf eine solche staatliche Zurechnung des Verfahrensverstoßes ankommen soll und unter welchen Voraussetzungen diese imputatio genau stattfinden kann; abgesehen davon spricht eher vieles dafür, dass der EGMR gerade auf die Verantwortlichkeit des Angeklagten (und nicht des Staates) für das Konfrontationshindernis abstellt.[26] Es ist daher – entgegen der Ansicht des BGH – auch nicht der entscheidende Punkt, ob ein Verfahrensgang in einem Mitgliedsstaat der EMRK dem anderen Mitgliedsstaat (negativ) zugerechnet werden kann. Auch dass eine Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK nicht zulässig ist, wenn die gerügte Handlung dem beklagten Staat nicht zurechenbar ist, ist nicht ausschlaggebend.

Denn zu allererst ist der Blick auf die Eigenverantwortung und Verfahrensherrschaft des deutschen Gerichts zu richten und zu fragen, welche rechtlichen Konsequenzen sich bei einem solchen Beweismitteltransfer für die deutsche Justiz durch ihre eigene originäre Bindung an die EMRK (als einfaches Gesetz) ergeben. Soweit die EMRK dabei Aussagen trifft, die für alle Mitgliedsstaaten maßgeblich sind, stellt sie insoweit in der Tat ein einheitliches Verfahrensrecht der einzelnen Mitgliedsstaaten dar.

Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Eine in der Hauptverhandlung nur verlesene Zeugenaussage ohne konfrontatives Korrektiv ist ein defizitäres Beweismittel auch dann, wenn dem deutschen Gericht dieses Defizit nicht zur Last gelegt werden kann. Eine solche Zeugenaussage kann dann nicht das zentrale und schon gar nicht das alleinige Beweismittel für eine Verurteilung sein. Auch eine besonders sorgfältige Würdigung der Zeugenaussage kann dieses Defizit nicht ausgleichen. Das "Minus" bei der Zeugenaussage muss vielmehr durch ein "Plus" an weiteren Beweisen kompensiert werden, d. h. durch weitere, gewichtige Indizien möglichst breit beweisrechtlich abgesichert werden. Andernfalls entspricht das Verfahren nicht den Anforderungen eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Fehlen diese zusätzlichen Beweise, ist an der Schuld des Angeklagten zu zweifeln und muss nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freigesprochen werden.[27]


[1] Vgl. EGMR NJW 2006, 2753 = HRRS 2006 Nr. 63 (Haas./.Bundesrepublik Deutschland) mit Anm. Esser NStZ 2007, 106 und Gaede JR 2006, 292.

[2] EGMR HRRS 2009, Nr. 459 (Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich) m. Bspr. Esser/Gaede/Tsambikakis NStZ 2011, 140, 148 und Dehne-Niemann HRRS 2009, 195.

[3] Krit. auch Sommer StraFo 2010, 204; dem BGH dagegen zustimmend Mosbacher JuS 2010, 689, 693; Zöller JZS 2010, 441.

[4] Entgegen den landläufigen Vorstellungen in Deutschland stellt die Blutrache in der Türkei einen qualifizierten, mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Totschlag dar, und dies schon seit 1953; vgl. dazu etwa Grünewald NStZ 2010, 1, 3 sowie Fischer, StGB, 58. Aufl. (2011), § 211 Rn. 29a m. w. N. Zum Ehrenmord vgl. auch Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, 4. Kapitel C. I. (erscheint im Sommer 2011).

[5] Art. 3 Abs. 1 EuRhÜbk lautet: Rechtshilfeersuchen in einer Strafsache, die ihm von den Justizbehörden des ersuchenden Staates zugehen und die Vornahme von Untersuchungshandlungen oder die Übermittlung von Beweisstücken, Akten oder Schriftstücken zum Gegenstand haben, lässt der ersuchte Staat in der in seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Form erledigen.

[6] Artikel 8 des 2. Zusatzprotokolls lautet: Werden in Ersuchen Formvorschriften oder Verfahren genannt, die nach dem Recht der ersuchenden Vertragspartei erforderlich sind, so erledigt die ersuchte Vertragspartei, selbst wenn ihr diese Formvorschriften oder Verfahren nicht bekannt sind, diese Ersuchen (...).

[7] BGH NJW 1996, 2239; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. (2011), § 168 c Rn. 9.

[8] Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. (2011), Rn. 241.

[9] Vgl. dazu Gaede, Ungehobene Schätze in der EGMR-Rechtsprechung für die Verteidigung? in: HRRS-Festgabe für G. Fezer (2008), 21, 25.

[10] Zu eng Zöller, ZJS 2010, 441, 443.

[11] Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 10 Rn. 30.

[12] Beulke Konfrontation und Strafprozessreform, in: Festschrift für Peter Rieß (2002), S. 3, 29.

[13] Gegen die Wahrheitsfindung als Zweck der Konfrontation daher Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, 2010, S. 28; Safferling NStZ 2006, 75, 82.

[14] Bei unkonfrontiert belastenden Aussagen von Mitbeschuldigten erscheint ein solches Verwertungsverbot mehr als diskutabel; vgl. Dehne-Niemann HRRS 2010, 204.

[15] So etwa bei der Gefährdung eines Belastungszeugen; vgl. Krausbeck (Fn. 13 ), S. 191.

[16] EGMR NJW 2006, 2753 = HRRS 2006 Nr. 63 (Haas./.Bundesrepublik Deutschland).

[17] So bereits BGHSt 51, 150, 155.

[18] BVerfG NJW 2001, 2245.

[19] Dazu und zu weiteren Zurechnungsproblemen vgl. Gaede JR 2006, 294 m. w.N.

[20] EGMR HRRS 2009, Nr. 459 Rn. 26.

[21] So Esser/Gaede/Tsambikakis NStZ 2011, 140, 148.

[22] Kritisch zur Beweiswürdigungslösung des EGMR im Fall Haas und tendenziell in den Konfrontationsfällen eher ein Beweisverbot bejahend Gaede JR 2006, 292, 297 ("unverhältnismäßige Rechtseinbuße"); krit. auch Esser, NStZ 2007, 106: "Das Verfahren wird nicht dadurch fairer, dass man den Beweiswert einer unter Beschränkung zentraler Verteidigungsrechte gewonnenen Zeugenaussage reduziert".

[23] Krit. zur vorgenommenen Beweiswürdigung auch Sommer StraFo 2010, 284, der sogar bloß eine (straflose) Mitwisserschaft für möglich hält.

[24] Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007, S. 842.

[25] So die Analyse der Entscheidung EGMR HRRS 2009, Nr. 459 (Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich) durch Esser/Gaede/Tsambakis NStZ 2011, 148 und Dehne-Niemann, HRRS 2010, 197.

[26] Dehne-Niemann, HRRS 2009, 197.

[27] BGHSt 49, 112 mit Anm. Gaede StraFo 2004, 195; Kudlich JuS 2004, 929; Müller JZ 2004, 926.