HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

620. BGH 2 StR 278/09 – Urteil vom 19. Mai 2010 (LG Köln)

Versuchter Totschlag (Rücktritt; individuelle Unterscheidung des fehlgeschlagenen, des unbeendeten und des beendeten Versuchs: maßgeblicher Rücktrittshorizont); Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz (Eventualvorsatz; dolus eventualis); Nebentäterschaft durch Unterlassen (Mittäterschaft; Beihilfe); wissentliche schwere Körperverletzung.

§ 212 StGB; § 22 StGB; § 24 StGB; § 226 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Var. 1 StGB; § 15 StGB; § 261 StPO

1. Auf Rücktrittsbemühungen im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1, Alt. 2 StGB kommt es nicht an, wenn der Versuch fehlgeschlagen ist (ständ. Rspr.). Das ist der Fall, wenn der Täter nach seiner letzten auf den Taterfolg gerichteten Ausführungshandlung erkennt, dass der Erfolg nicht eingetreten ist und mit nahe liegenden Mitteln ohne

wesentliche Änderung des Tatplans und Begründung einer neuen Kausalkette auch nicht mehr verwirklicht werden kann. Für die Beurteilung kommt es daher im Ausgangspunkt auf die Sicht des Täters nach der (objektiv erfolglosen) Tathandlung an. Liegt ein Fehlschlag vor, scheidet ein Rücktritt vom Versuch nach allen Varianten des § 24 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB aus. Diese Prüfung ist für jeden einzelnen Tatbeteiligten durchzuführen und kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Fehlschlag aus der nachträglich erkannten mangelnden Unterstützung durch andere Tatbeteiligte folgt.

2. Auf die Unterscheidung zwischen dem unbeendeten und dem beendeten Versuch kommt es für die vom Täter zu erbringende Rücktrittsleistung in Fällen des § 24 Abs. 1 StGB stets, in solchen des § 24 Abs. 2 StGB mittelbar dann an, wenn sich die (gemeinsame) Verhinderungsleistung von Versuchsbeteiligten in einem einverständlichen Unterlassen des Weiterhandelns erschöpfen kann (vgl. BGHSt 42, 158, 162; BGH NStZ 1989, 317, 318).

3. Für die Unterscheidung zwischen unbeendetem (§ 24 Abs. 1 Satz 1, Alt. 1 StGB) und beendetem (§ 24 Abs. 1 Satz 1, Alt. 2 StGB) Versuch ist nach ständiger Rechtsprechung und ganz h.M. auf den sog. „Rücktrittshorizont“, also auf die subjektive Vorstellung des Täters nach Abschluss der letzten auf den Erfolg abzielenden Ausführungshandlung abzustellen (vgl. etwa BGH NStZ 2005, 263, 264); dieser ist unabhängig vom Tatplan (BGHSt 35, 92) und bedarf stets konkreter Feststellungen durch den Tatrichter (BGH StV 2003, 213 f.).

4. Verfehlt ist die Annahme, die Anwendung des § 24 StGB setze „naturgemäß“ voraus, dass der Täter selbst für die Rettung des Opfers ursächlich oder mitursächlich werde. Dies gilt allenfalls beim beendeten Versuch. Der Rücktritt setzt auch nicht voraus, dass es dem Täter darauf ankommt, „das Opfer um jeden Preis zu retten“ (vgl. BGHSt 48, 147 ff.).

5. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann bei Vornahme offenkundig äußerst gefährlicher Gewalthandlungen das Vertrauen auf einen glücklichen Ausgang so fern liegen, dass sich die Annahme bedingten Vorsatzes aufdrängt und eine nähere Erörterung in den Urteilsgründen nicht erforderlich ist. Zu einer Anwendung auf das Anzünden des Opfers.


Entscheidung

626. BGH 4 StR 92/10 – Beschluss vom 12. Mai 2010 (LG Bielefeld)

Wahlfeststellung zwischen besonders schwerem sexuellen Missbrauch einer Widerstandsunfähigen und besonders schwerer Vergewaltigung sowie wegen unerlaubter Überlassung von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch an eine Minderjährige.

Vor § 1 StGB; § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 7 StGB; § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 2a StGB

1. Eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage darf nur erfolgen, wenn rechtsfehlerfrei festgestellt ist, dass sich der Angeklagte nach allen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme verbleibenden Sachverhaltsvarianten wegen der in die Wahlfeststellung einbezogenen Delikte schuldig gemacht hätte.

2. Es bleibt offen, ob die Straftatbestände der §§ 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 7 i.V.m. 177 Abs. 4 Nr. 2 a StGB und des § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 2 a StGB, wie nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für eine ungleichartige Wahlfeststellung erforderlich, rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind (vgl. nur BGHSt 9, 390, 393 f. und BGHSt 25, 182, 183 f.).

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

635. BGH 4 StR 139/10 – Beschluss vom 18. Mai 2010 (LG Essen)

BGHR; Tateinheit zwischen dem schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes nach Abs. 1 und nach Abs. 2; Voraussetzungen der Rückfallklausel.

§ 176a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB

1. Tateinheit liegt vor, wenn dieselbe Handlung des Täters sowohl § 176a Abs. 1 StGB als auch § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB verletzt. (BGHR).

2. Die Rückfallklausel des § 176a Abs. 1 StGB setzt voraus, dass die Wiederholungstat nach einer einschlägigen rechtskräftigen Vorverurteilung begangen worden ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

585. BGH 1 ARs 6/10 – Beschluss vom 19. Mai 2010 (BGH)

Ausspähen von Daten (Skimming; im regulären Handel erhältliche Software); redaktioneller Hinweis.

§ 202a StGB

Skimming ist jedenfalls dann nicht als Ausspähen von Daten strafbar, wenn die zum Auslesen benutzte Software auch im regulären Handel erhältlich ist.


Entscheidung

581. BGH 1 StR 148/10 – Beschluss vom 19. Mai 2010 (LG Augsburg)

Störung des öffentlichen Friedens (Eignung; Öffentlichkeit; Tatbegehung gegenüber öffentlichen Stellen); Vortäuschen einer Straftat.

§ 126 Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 145d StGB

1. Gestört ist der öffentliche Frieden, wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird oder wenn potentielle Täter durch Schaffung eines ‚psychischen Klimas‘, in dem Taten wie die angedrohten begangen werden können, aufgehetzt werden (BGH NJW 1978, 58, 59; BGHSt 34, 329, 331). Allerdings muss eine solche Störung noch nicht eingetreten sein; jedoch muss die Handlung zumindest konkret zur Störung des öffentlichen Friedens geeignet gewesen sein (BGHSt 34, 329, 331 f.). Dies ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn die entsprechende Ankündigung in der Öffentlichkeit erfolgt. Eine Ankündigung gegenüber einem Einzelnen kann dann genügen, wenn nach den konkreten Umständen damit zu rechnen ist, dass der angekündigte Angriff einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden wird, entweder bei einer Zusendung an die Medien oder an einen nicht näher eingegrenzten Kreis von Personen, von deren Diskretion nicht auszugehen ist (BGHSt 34, 329, 332); bei einer Mitteilung an Betroffene könnte dies gelten, wenn man davon ausgehen könnte, dass diese aus Sorge um Opfer oder aus Empörung über die Drohung sich an die Öffentlichkeit wenden könnten (BGH aaO).

2. Sind Adressaten der Drohungen staatliche Organe, wird regelmäßig damit zu rechnen sein, dass diese zwar Maßnahmen zur Vermeidung der angedrohten Taten ergreifen oder veranlassen, jedoch regelmäßig im Übrigen mit Diskretion vorgehen, einerseits um die Präventivmaßnahmen nicht zu gefährden (BGHSt aaO), andererseits um auch die Öffentlichkeit nicht ohne Weiteres zu beunruhigen.


Entscheidung

627. BGH 4 StR 104/10 – Beschluss vom 27. April 2010 (LG Detmold)

Strafrahmenwahl bei der Vergewaltigung (Gesamtwürdigung bei der Begründung eines besonders schweren Falles über ein Regelbeispiel).

§ 177 Abs. 2, Abs. 5 StGB; § 46 StGB

Liegt das Regelbeispiel des § 177 Abs. 2 StGB vor, muss das Gericht bei der Strafrahmenwahl zunächst zu prüfen, ob der Strafrahmen des § 177 Abs. 2 StGB trotz Vorliegens des Regelbeispiels wegen anderer erheblich schuldmindernder Umstände nicht anzuwenden ist, sondern von dem Normalstrafrahmen des Abs. 1 auszugehen ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 6. März 2001 – 4 StR 558/00, StV 2001, 456 und vom 13. September 2005 – 4 StR 163/05, NStZ-RR 2006, 6, jew. m.w.N.).


Entscheidung

646. BGH 4 StR 497/09 – Beschluss vom 16. März 2010 (LG Bielefeld)

Bandendiebstahl (Voraussetzungen der Bande; Feststellung; Bandenabrede; Täterschaft und Teilnahme in Abgrenzung zur Bandenmitgliedschaft); erweiterter Verfall (Feststellungen; entgegenstehende Ansprüche der Verletzten).

§ 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 25 StGB; § 73d StGB; § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die Bande im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich zur fortgesetzten Begehung einer noch unbestimmten Zahl von Diebstählen verbunden haben (BGHSt [GS] 46, 321, 325). Erforderlich ist ferner eine – ausdrücklich oder konkludent getroffene – Bandenabrede, bei der das einzelne Mitglied den Willen hat, sich mit mindestens zwei anderen Personen zur Begehung von Straftaten in der Zukunft für eine gewisse Dauer zusammenzutun (BGHSt 50, 160, 164).

2. Als Bandenmitglied ist anzusehen, wer in die Organisation der Bande eingebunden ist, die dort geltenden Regeln akzeptiert, zum Fortbestand der Bande beiträgt und sich an den Straftaten als Täter oder Teilnehmer beteiligt. Nicht erforderlich ist hingegen, dass sich alle Bandenmitglieder persönlich miteinander verabreden oder einander kennen (BGH aaO).