HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2009
10. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

im Zentrum dieser Ausgabe stehen ersichtlich die (unzulässig?) rechtsfortbildenden Entscheidungen des 1. Strafsenats des BGH. Die Einführung einer Fristsetzungsbefugnis durch den 1. Strafsenat wird berechtigt hart von Fezer kritisiert. Den Entzug von absoluten Revisionsgründen nach einer Urteilsabsprache durch eben diesen Senat wird von Ventzke ablehnend besprochen. Schließlich ist bereits die Entscheidung des 1. Strafsenats aufgenommen, mit der er insbesondere für eine härtere Strafzumessung im Steuerstrafrecht anhand des Hinterziehungsbetrages eintritt.

Weitere Hauptinhalte der Ausgabe sind die Besprechung des Siemens-Urteils von Schlösser. Wegner bietet anlässlich der Entscheidung BGH HRRS 2008 Nr. 1119 einen ausgezeichneten Überblick über aktuelle Probleme des Insolvenzstrafrechts. In der Rubrik Schrifttum wird „Der Kern des Strafrechts“ von Tonio Walter rezensiert.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR

2. EGMR – Erfolgreicher Antrag auf Entscheidung der Großen Kammer des EGMR im Fall Gäfgen vs. Deutschland

Wie der EGMR in einer Pressemitteilung vom 15. Dezember 2008 bekannt gegeben hat, wurde der Fall Gäfgen gegen Deutschland auf den Antrag des Beschwerdeführers gemäß Art. 43 EMRK zur Entscheidung durch die Große Kammer des EGMR verwiesen. Der Zulassungsausschuss des EGMR hat am 1. Dezember 2008 die – beim EGMR nur ausnahmsweise erfolgende – Verweisung befürwortet. So wird es nun zu einer Überprüfung der Kammerentscheidung des EGMR vom 30. Juni 2008 (EGMR HRRS 2008 Nr. 627) kommen. In ihr wurde eine mangelnde Kompensation der unstreitigen Verletzung des Art. 3 EMRK durch die BRD letztlich verneint (vgl. zur Beurteilung der Entscheidung etwa Esser NStZ 2008, 657 ff. und Schlegel/Streichenberg forumpoenale 2009, 9 ff.). Kern der erneuten Prüfung dürfte die Frage sein, ob nicht eine weitreichendere Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots anzuerkennen ist, das bei der Erhebung von Beweismitteln unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK besteht. Dafür bestünde nicht wenig Grund, wenn man bedenkt, dass etwa die (milde) Bestrafung der gegen Art. 3 EMRK verstoßenden staatlichen Akteure keinen eigentlichen Ausgleich im fairen Verfahren gegen Gäfgen selbst bedeutet. Wer davon ausgeht, dass der Ausgleich prozessualer Verstöße zur Wiederherstellung der Verfahrensfairness gerade in diesem Verfahren selbst erfolgen muss und nicht durch veränderte Rechtsfolgen erfolgen kann (vgl. dazu Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 728 f., 804 ff.), könnte angesichts der besonderen Natur des Verstoßes gegen Art. 3 EMRK auch in diesem Fall für striktere Maßstäbe eintreten (im Ergebnis für ein insbesondere schon aus Art. 3 EMRK abgeleitetes Verwertungsverbot zum Beispiel Esser NStZ 2008, 657, 659, 660, 661 f.).


Entscheidung

3. EuGH C-297/07 (Zweite Kammer) – Urteil vom 11. Dezember 2008 (Klaus Bourquain)

Schengener Durchführungsübereinkommen; Verbot der Doppelbestrafung (Verurteilung in Abwesenheit wegen derselben Tat; Begriff der rechtskräftigen Aburteilung; Begriff der „nicht mehr vollstreckbaren Sanktion“; zeitlicher Anwendungsbereich).

Art. 54 SDÜ

1. Das in Art. 54 SDÜ niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung findet auf ein Strafverfahren Anwendung, das in einem Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet wird, für die der Angeklagte bereits in einem anderen Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, selbst wenn die Strafe, zu der er verurteilt wurde, nach dem Recht des Urteilsstaats wegen verfahrensrechtlicher Besonderheiten (vorliegend die Notwendigkeit eines zweiten Verfahrens bei „Wiederauftauchen“ nach einem Abwesenheitsurteil gemäß französischem Code de justice militaire pour l’armée de terre), nie unmittelbar vollstreckt werden konnte.

2. Art 54 SDÜ gebietet nicht, dass die Sanktion nach dem Recht des Urteilsstaats unmittelbar vollstreckbar gewesen sein muss, sondern verlangt nur, dass die mit einer rechtskräftigen Entscheidung verhängte Strafe „nicht mehr vollstreckt werden kann“. Die Wörter „nicht mehr“ beziehen sich auf den Zeitpunkt der Einleitung einer neuen Strafverfolgung, in Bezug auf die das zuständige Gericht im zweiten Vertragsstaat zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen nach Art. 54 SDÜ erfüllt sind.

3. Grundsätzlich ist auch eine Verurteilung in Abwesenheit vom Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ erfasst und somit ein Verfahrenshindernis für die Einleitung eines neuen Verfahrens.


Entscheidung

4. BVerfG 1 BvR 1318/07 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 5. Dezember 2008 (OLG Hamm/AG Dortmund)

Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Bewertung von Äußerungen; Berücksichtigung des Kontexts); Beleidigung („Dummschwätzer“; Schmähkritik; Recht auf „verbalen Gegenschlag“; gerichtliche Prüfungs- und Darstellungspflichten).

Art. 5 Abs. 1 GG; § 185 StGB; § 193 StGB

1. Eine polemische oder verletzende Formulierung einer Aussage entzieht diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit (vgl. BVerfGE 54, 129, 138 f.; 93, 266, 289; stRspr). Daher kann auch die Bezeichnung als „Dummschwätzer“ in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit fallen.

2. Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vom Gericht eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht (vgl. BVerfGE 93, 266, 293). Das Ergebnis dieser Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, sondern hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab.

3. Herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, lasen die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten (vgl. BVerfGE 82, 43, 51; 99, 185, 196). Der hierzu von der Fachgerichtsbarkeit entwickelte Begriff der Schmähkritik ist aber eng anzulegen. Danach macht auch eine überzogene oder ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Erst wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik – die Diffamierung der Person im Vordergrund steht, hat eine solche Äußerung als Schmähung regelmäßig hinter dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zurückzustehen (vgl. BVerfGE 82, 272, 283 f.; 93, 266, 294).

4. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre erfordern regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung (vgl. BVerfGE 93, 266, 303). Hiervon kann allenfalls ausnahmsweise abgesehen werden, wenn es sich um eine Äußerung handelt, deren diffamierender Gehalt so erheblich ist, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheint und daher unabhängig von ihrem konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden muss, wie dies möglicherweise bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter - etwa aus der Fäkalsprache - der Fall sein kann. Hierzu gehört der Begriff „Dummschwätzer“ im Grundsatz nicht.

5. In die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre ist auch die Überlegung einzustellen, ob und in welchem Umfang ein „Recht zum verbalen Gegenschlag“ zustand.


Entscheidung

5. BVerfG 2 BvR 2369/08, 2 BvR 2380/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 6. Dezember 2008

Voraussetzungen der „Scheinminderjährigkeit“ bei jugendpornographischen Schriften (kein Ausreichen bloßer Zweifel bezüglich der Volljährigkeit); Substantiierungsanforderungen bei einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz (unmittelbare Beschwer; Darlegung eines ernsthaften Risikos für ein Bußgeld- oder Strafverfahren).

§ 184c StGB; § 11 Abs. 3 StGB; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG

1. § 184c StGB erfasst auch das Verbreiten pornographischer Filme, an denen „Scheinjugendliche“ – also tatsächlich erwachsene Personen, die jedoch für einen objektiven Beobachter minderjährig erscheinen – mitwirken.

2. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 184b StGB alter Fassung (vgl. BGHSt 47, 55, 82) genügt es für eine Strafbarkeit nach § 184c StGB nicht, dass die Volljährigkeit der betreffenden Person für den objektiven Betrachter zweifelhaft ist; vielmehr müsste der Beobachter umgekehrt eindeutig zu dem Schluss kommen, dass jugendliche Darsteller beteiligt sind. Dies liegt jedenfalls dann nahe, wenn die in pornographischen Filmen auftretende Personen ganz offensichtlich noch nicht volljährig sind, etwa dann,

wenn sie (fast) noch kindlich wirken und die Filme somit schon in die Nähe von Darstellungen geraten, die als (Schein-)Kinderpornographie unter den Straftatbestand des § 184b StGB fallen.

3. Der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde ist durch ein Gesetz unmittelbar beschwert, wenn er erst das Risiko eines Bußgeld- oder Strafverfahrens eingehen müsste, um Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu erlangen (vgl. BVerfGE 20, 283, 290; 46, 246, 256; 81, 70, 82 f.; 97, 157, 165). Diesbezüglich muss der Betroffene aber substantiiert darlegen, dass ihm ein ernsthaftes Strafbarkeitsrisiko droht.