HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2009
10. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1. BGH 1 StR 323/08 - Beschluss vom 22. September 2008 (LG Koblenz)

BGHR; Beihilfe zu mehreren Taten der Steuerhinterziehung durch jeweils selbständige Unterstützung-

shandlungen Hilfe (Verhältnis zur Beihilfe zur Anbahnung des Gesamtgeschäfts; Hinterziehung von Tabaksteuer; besonders schwerer Fall beim Gehilfen); Unzulässigkeit einer Rüge der Besorgnis der Befangenheit nach zwischenzeitlicher Verfahrensabsprache (Verbot widersprüchlichen Rügeverhaltens; Rechtsschutzinteresse; Verwirkung; Missbrauchsverbot; staatliches Effizienzgebot; unzulässige Rechtsfortbildung); redaktioneller Hinweis.

Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 AO; § 27 StGB; § 11 Abs. 3 TabStG; § 18 Abs. 1 Satz 1 TabStG

1. Leistet der Gehilfe zu mehreren Taten der Steuerhinterziehung durch jeweils selbständige Unterstützungshandlungen Hilfe im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB, steht der Umstand, dass der Angeklagte bereits bei der Anbahnung des Gesamtgeschäfts, auf das die einzelnen Haupttaten zurückgehen, beteiligt war, der Annahme von mehreren im Verhältnis der Tatmehrheit (§ 53 Abs. 1 StGB) zueinander stehenden Taten der Beihilfe zur Steuerhinterziehung nicht entgegen. (BGHR)

2. Die Annahme eines besonders schweren Falles nach § 370 Abs. 3 AO setzt beim Gehilfen eine eigenständige Bewertung aller Umstände einschließlich seines Tatbeitrages voraus (vgl. BGH NStZ 1983, 217; wistra 2007, 461). (Bearbeiter)

3. Eine Befangenheitsrüge ist unzulässig, wenn der Angeklagte nach sachlicher Bescheidung des Befangenheitsantrags mit den zuvor als befangen abgelehnten Richtern eine Urteilsabsprache getroffen hat und keine Umstände vorgetragen werden, die trotz dieser Absprache ein Fortbestehen der von dem Angeklagten mit seinem Befangenheitsantrag geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könnten. (Bearbeiter)

4. Ein vorhandenes und fortbestehendes Rechtsschutzinteresse ist eine allen Prozessordnungen gemeinsame Sachentscheidungsvoraussetzung (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 1514, 1515 m.w.N.). Das Rechtsschutzinteresse kann fehlen, wenn die Ausübung eines an sich gegebenen Rechts zu früherem Prozessverhalten in einem unauflösbaren Selbstwiderspruch steht (BGH StV 2001, 100 und StV 2001, 101). Die Rechtsausübung kann dann auch mit dem auch im Strafprozess bestehenden Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns (vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2003, 1514, 1515) nicht zu vereinbaren sein. (Bearbeiter)

5. Der Senat verkennt nicht, dass bei besonderen Umständen trotz vorheriger Urteilsabsprache ein Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung einer Befangenheitsrüge gegeben sein kann. Dies ist etwa der Fall, wenn sich eine neue Sachlage ergibt, die dazu führt, dass das Gericht seine Zusage nicht mehr aufrechterhält. Dasselbe gilt, wenn besondere Umstände vorhanden sind, die bei verständiger Würdigung des Sachverhalts trotz der Urteilsabsprache ein fortbestehendes Misstrauen in die Unparteilichkeit des Gerichts rechtfertigen. (Bearbeiter)


Entscheidung

68. BGH 1 StR 322/08 – Beschluss vom 10. Dezember 2008

BGHSt: Besetzungsrüge (Teilabordnung eines OLG-Richters an ein LG; gesetzlicher Richter; Verhinderungsfall); Begriff des Steuervorteils bei der Steuerhinterziehung (gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen; Feststellungsbescheid als konkrete Steuergefährdung; Steuerverkürzung; Steuerhinterziehung als Vermögensgefährdungsdelikt).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 37 DRiG; § 27 Abs. 2 DRiG; § 21f Abs. 1 GVG; § 192 GVG; § 180 AO; § 370 AO

1. Die Teilabordnung eines (Vorsitzenden) Richters am Oberlandesgericht an ein Landgericht ist nach § 37 DRiG zulässig. § 27 Abs. 2 DRiG steht dem weder unmittelbar noch in analoger Anwendung entgegen. (BGHSt)

2. Vorsitzender eines Spruchkörpers bei einem Landgericht kann auch ein Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht sein, der an das Landgericht (rück-)abgeordnet wurde. (BGHSt)

3. Scheidet ein Richter aus einem Spruchkörper aufgrund der Übertragung eines Richteramtes bei einem anderen Gericht aus, ist ein Verhinderungsfall i.S.v. § 192 Abs. 2 GVG nicht gegeben, wenn die Hauptverhandlung, die unter Beteiligung des Richters begonnen wurde, aufgrund einer Rückabordnung nach § 37 DRiG innerhalb der Fristen des § 229 StPO in der ursprünglichen Besetzung der Richterbank fortgesetzt werden kann. (BGHSt)

4. Die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 180 Abs. 1 Nr. 2a AO kann einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil im Sinne von § 370 Abs. 1 AO darstellen. (BGHSt)

5. Ein unrichtiger Feststellungsbescheid bewirkt als bloßer Grundlagenbescheid keine Steuerverkürzung. (Bearbeiter)

6. Eine genaue betragsmäßige Bestimmung der bei einer späteren Umsetzung der festgestellten Besteuerungsgrundlagen in einem Folgebescheid eintretenden Steuerverkürzung ist nicht Voraussetzung für die Annahme eines Steuervorteils. (Bearbeiter)

7. Die Steuerhinterziehung ist zwar Erfolgsdelikt, jedoch nicht notwendig Verletzungsdelikt. Wie die Vorschrift des § 370 Abs. 4 Satz 1 AO zeigt, genügt z.B. für eine Steuerverkürzung schon die zu niedrige Festsetzung von Steuern, also eine konkrete Gefährdung des Steueranspruchs. (Bearbeiter)

8. Die durch eine Umsetzung der festgestellten unrichtigen Besteuerungsgrundlagen bei der Steuerfestsetzung in den Folgebescheiden bewirkte Steuerverkürzung stellt lediglich einen weitergehenden Taterfolg dar, der insbesondere für den Zeitpunkt der Tatbeendigung und damit für den Verjährungsbeginn der Steuerhinterziehung von Bedeutung ist (vgl. BGH wistra 1984, 142). (Bearbeiter)


Entscheidung

76. BGH 1 StR 583/08 - Beschluss vom 5. November 2008 (LG München I)

BGHR; Wahrung der Unterbrechungsfrist nach § 229 Abs. 1 StPO (Konzentrationsmaxime; verkürzte Hauptverhandlung aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse; Verfahrensförderung; Schiebetermine).

Art. 6 EMRK; § 228 Abs. 1 StPO; § 229 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 StPO

1. Zur Wahrung der Unterbrechungsfrist nach § 229 Abs. 1 StPO, wenn eine Hauptverhandlung aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse nur in wesentlich geringerem Umfang als vorgesehen, insbesondere nur durch eine Entscheidung über die Unterbrechung des Verfahrens nach § 228 Abs. 1 StPO gefördert werden kann. (BGHR)

2. Eine Hauptverhandlung gilt dann im Sinne des § 229 Abs. 4 StPO als fortgesetzt und muss nicht wegen Überschreitung der Frist des § 229 Abs. 1 StPO ausgesetzt werden, wenn in dem Fortsetzungstermin zur Sache verhandelt und das Verfahren gefördert wird (vgl. BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 6 m.w.N.). Insofern ist auch nach der Verlängerung der Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I 2198) anerkannt, dass hierfür jedenfalls eine auch nur geringfügige Beweisaufnahme genügt. Aber auch die Erörterung von Verfahrensfragen reicht zumindest dann, wenn der Sitzungstag nicht von vornherein als sog. Schiebetermin konzipiert war. (Bearbeiter)


Entscheidung

107. BGH 5 StR 412/08 – Urteil vom 9. Dezember 2008 (LG Braunschweig)

Vergewaltigung (Strafzumessung: Grenzen der Revisibilität bei minder schweren und besonders schweren Fällen, vorheriger Austausch von Zärtlichkeiten); Aufklärungsrüge (Darlegungsvoraussetzungen; Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung); Behinderungsrüge (kausaler Zusammenhang).

§ 177 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 46 StGB

1. Eine unterbliebene vollständige Ausschöpfung erhobener Beweise kann nicht Gegenstand einer Aufklärungsrüge sein, weil sich das Revisionsgericht nicht über das Verbot der Rekonstruktion der Beweisaufnahme hinwegsetzen darf (vgl. BGHSt 43, 212, 214; BGH NJW 2003, 150, 152, insoweit in BGHSt 48, 34 nicht abgedruckt). Das Tatgericht ist nämlich zur umfassenden Dokumentation der Beweisaufnahme im Urteil nicht verpflichtet (vgl. BGHSt 15, 347, 348; BGH NStZ 2007, 720), sondern lediglich zur Darstellung seiner – wenn auch rational zu begründenden und tatsachengestützten (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08 Rdn. 16) – Beweisführung.

2. Das Gericht muss von Amts wegen Beweis erheben, wenn ihm aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung noch Umstände und Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der – aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten – Überzeugung wecken müssen (BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aufdrängen 6 m.w.N.).

3. Die Wertung, im Vorfeld einer Vergewaltigung ausgetauschte Zärtlichkeiten – ersichtlich auch in Verbindung mit dem weiteren vertrauten persönlichen Umgang zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin – hätten dem Angeklagten Hoffnung auf einverständliche sexuelle Handlungen gemacht, ist als zulässiger Schluss des Tatgerichts (vgl. BGHSt 36, 1, 14; BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abgedruckt) nicht zu beanstanden.


Entscheidung

75. BGH 1 StR 568/08 - Beschluss vom 18. November 2008 (LG Mannheim)

Verfahrensrüge bei der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (Vortrag von Negativtatsachen); verfehlter doppelter Rabat; redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 13 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 46 StGB

1. Zwar dürfen die Anforderungen an den Umfang der Darstellung der den Mangel enthaltenden Tatsachen bei der Beanstandung einer konventionswidrigen Verzögerung während eines wie hier mehrere Jahre währenden Verfahrens nicht überzogen werden. Von einem Beschwerdeführer ist aber zu erwarten, dass er einen realistischen Überblick über den tatsächlichen Ablauf des Strafverfahrens gibt (BGH NJW 2008, 2451, 2452). Dieser Darstellung bedarf es deswegen, weil für die Frage der Konventionswidrigkeit das Verfahren insgesamt zu beurteilen ist, regelmäßig beginnend mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschuldigte von der Einleitung des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens Kenntnis erlangt.

2. Auch wenn der Angeklagte bei seiner Darstellung des Verfahrensablaufs auf den Zeitraum zwischen der Verkündung und der Zustellung des Urteils allein abstellt und damit eine verfahrensabschnittsbezogene Verletzung des Art. 6 EMRK darlegen will, muss er über den Verfahrensgang vor dieser Zeit einen Überblick geben.


Entscheidung

116. BGH 5 StR 511/08 - Beschluss vom 9. Dezember 2008 (LG Berlin)

Anforderungen an die Beweiswürdigung bei der Vergewaltigung (Begründungsanforderungen bei Aussage gegen Aussage: Darlegungen zur Einstellung eines ähnlichen Tatvorwurfs der Belastungszeugin nach § 154 StPO).

§ 177 Abs. 2 StGB; § 261 StPO; § 154 StPO

In rechtlich anspruchsvollen Konstellationen der Beweiswürdigung kann sich die Notwendigkeit ergeben, auf nach § 154 Abs. 2 StPO ausgeschiedene Straftaten im Rahmen der Beweiswürdigung näher einzugehen. Zu derartigen Sachverhalten zählen unter anderem serielle Fälle aus dem Bereich des Sexualstrafrechts, in denen Aussage gegen Aussage steht und damit die Überzeugungsbildung des Gerichts allein von der Einschätzung der Wertigkeit der Angaben des Belastungszeugen abhängt. Verhält es sich so und besteht die Möglichkeit, dass Umstände der ausgeschiedenen Straftaten Einfluss auf die Überzeugungsbildung in den abgeurteilten Fällen haben können, muss sich das Gericht gedrängt sehen,

hierauf im Urteil näher einzugehen (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2008 – 5 StR 143/08 – [= StV 2008, 449]).


Entscheidung

59. BGH 3 StR 375/08 - Urteil vom 30. Oktober 2008 (LG Stade)

Tat im prozessualen Sinne (Individualisierung der Tat bei Serienstraftaten; Umgestaltung der Strafklage); Akkusationsprinzip; Anklagegrundsatz; Tatidentität (Tatort; Begleitumstände); Strafzumessung bei Sexualstraftaten (Vergewaltigung: Gesamtwürdigung bei der Verneinung des besonders schweren Falles und Bejahung eines minder schweren Falles; schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; Voraussetzungen der Strafschärfung bei Einbeziehung weiterer, nicht einzeln angeklagter sexuellen Handlungen in die Strafzumessung bei Serienstraftaten).

§ 264 Abs. 1 StPO; § 200 StPO; § 46 StGB; § 177 StGB; § 176a StGB

1. Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat im verfahrensrechtlichen Sinne (§ 264 Abs. 1 StPO). Hierzu gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. In diesem Rahmen muss der Tatrichter seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden (Umgestaltung der Strafklage).

2. Die Umgestaltung der Strafklage darf nicht dazu führen, dass das der Anklage zu Grunde liegende Geschehen vollständig verlassen und durch ein anderes ersetzt wird, mag dieses auch gleichartig sein, da es dann an der erforderlichen Tatidentität im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO fehlt. So liegt es etwa bei einem Geschehen an einem anderen Tatort und unter anderen Begleitumständen, wenn sich der Lebenssachverhalt von den Anklagevorwürfen deutlich unterscheidet.

3. Auch bei Serienstraftaten muss der Tatrichter von jeder einzelnen individuellen Straftat überzeugt sein. Zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken dürfen zwar aufgrund der Feststellungsschwierigkeiten bei oft gleichförmig verlaufenden Taten über einen langen Zeitraum zum Nachteil von Kindern und/oder Schutzbefohlenen, die in der Regel allein als Beweismittel zur Verfügung stehen, keine überzogenen Anforderungen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil gestellt werden. Der Tatrichter muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist.

4. Die Entscheidung über die Annahme eines minder schweren Falles und - entsprechend - über das Absehen von der Regelwirkung des § 177 Abs. 2 StGB ist auf Grund einer Gesamtbetrachtung zu treffen, die alle Umstände einzubeziehen hat, die für die Wertung der Tat und des Täters bedeutsam sind, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (BGHR StGB vor § 1/minder schwerer Fall, Gesamtwürdigung 8). Eine Bewertung nur des engeren Tatgeschehens ist unzulässig (BGHR StGB vor § 1/minder schwerer Fall, Gesamtwürdigung 5; Gesamtwürdigung, unvollständige 10). Es stellt daher einen durchgreifenden Rechtsfehler dar, wenn der Tatrichter bei der Strafrahmenwahl einen bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkt (vgl. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) erkennbar außer Betracht lässt.


Entscheidung

119. BGH 5 StR 526/08 – Beschluss vom 27. November 2008 (LG Chemnitz)

Hinweispflicht bei der strafschärfenden Einbeziehung aus der Hauptverhandlung ausgeschiedener Tatvorwürfe (ausnahmsweise Entbehrlichkeit).

§ 265 StPO; § 154 Abs. 2 StPO

Durch die Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO wird regelmäßig ein Vertrauen des Angeklagten darauf begründet, dass ihm der ausgeschiedene Prozessstoff nicht mehr angelastet werde. Deswegen gebieten es die faire Verfahrensgestaltung, aber auch der Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs, vor einer dennoch beabsichtigten nachteiligen Verwertung einen Hinweis zu erteilen, um den Vertrauenstatbestand wieder zu beseitigen (BGHSt 30, 197; BGHR § 154 Abs. 2 Hinweispflicht 4; BGH StV 2004, 162).


Entscheidung

113. BGH 5 StR 496/08 - Beschluss vom 27. November 2008 (LG Hamburg)

Wahrung der einmonatigen Revisionsbegründungsfrist (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Anbringung von Verfahrensrügen; Mitwirkung des Rechtspflegers).

Art. 6 EMRK; Art. 19 Abs. 4 GG; § 44 StPO; § 345 Abs. 1 StPO

1. Das Recht eines Revisionsführers, die Revision zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, besteht nur innerhalb der normalen Dienststunden (BGH NStZ 1996, 353; BGHR StPO § 45 Abs. 1 Satz 1 Frist 1). In diesem Zusammenhang kann aber nicht erwartet werden, dass der Rechtspfleger während seiner gesamten Dienststunden für die Prüfung der vorliegenden Revisionsbegründung zur Verfügung steht.

2. Nichts anderes gilt für den Fall, in dem der Angeklagte dem Rechtspfleger eine von ihm, dem Angeklagten, verfasste umfangreiche Revisionsbegründungsschrift vorlegt, die der Rechtspfleger gewissenhaft zu prüfen hat, um dem Erfordernis einer gestaltenden Beurteilung gerecht zu werden.

3. Ein amtliches Verschulden ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt zu erkennen, dass der Rechtspfleger bei der Vorlage dieser Revisionsbegründungsschrift gehalten gewesen wäre, den „gerichtserfahrenen“ Angeklagten während der Überprüfungszeit darüber zu informieren, dass er seine Überprüfung nicht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist wird bewältigen können.


Entscheidung

111. BGH 5 StR 491/08 – Beschluss vom 25. November 2008 (LG Berlin)

Beweiswürdigung bei überwiegender Belastung durch (frühere) Mitangeklagte.

§ 261 StPO

Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, dass

ein für den Angeklagten ungünstiger Sachverhalt nicht festgestellt werden darf, wenn Umstände vorliegen oder auch nur als nicht widerlegbar zugunsten des Angeklagten angenommen werden müssen, die bei objektiver Betrachtung zu vernünftigen Zweifeln an der Zuverlässigkeit der den Angeklagten belastenden Beweismittel führen. Vernünftige Zweifel können besonders dann auftreten, wenn ein Angeklagter allein oder überwiegend durch Angaben eines (früheren) Mitangeklagten belastet wird, zumal wenn es nahe liegt, dass der (frühere) Mitangeklagte sich durch die den anderen belastende Aussage selbst entlasten will (vgl. hierzu BGHR StPO § 261 Mitangeklagte 1 und Zeuge 5; BGH StV 1990, 533; 1991, 452).


Entscheidung

92. BGH 4 StR 301/08 - Beschluss vom 18. November 2008 (LG Saarbrücken)

Unzulässiges Rechtsmittel der Nebenklage nach Tod der Verletzten (Anschlussberechtigung des Nebenklägers; Existenz des Anschlusserklärenden).

§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO; § 349 Abs. 1 StPO; § 402 StPO

1. Anschlusserklärungen der Nebenkläger verlieren durch deren Tod ihre Wirkung. Eine Fortführung der Nebenklage durch Angehörige der Nebenkläger kommt nicht in Betracht.

2. Dem Strafverfahren als Nebenkläger anschließen kann sich nur eine existente Person. Bestehen an der Existenz des Anschlusserklärenden Zweifel, so gilt nicht der Zweifelsgrundsatz, vielmehr hat sich das Gericht – grundsätzlich im Wege des Freibeweises – positiv von dessen Existenz zu überzeugen.


Entscheidung

98. BGH 4 StR 480/08 - Beschluss vom 11. November 2008 (LG Bielefeld)

Mitwirkung eines befangenen oder ausgeschlossenen Richters (Besorgnis der Befangenheit: Telefonat mit dem Sachverständigen außerhalb der Hauptverhandlung; verworfenes Ablehnungsgesuch); Ausschluss des Richters bei Vernehmung als Zeuge.

§ 338 Nr. 3 StPO; § 22 Nr. 5 StPO

§ 22 Nr. 5 StPO schließt den Richter nicht allein schon deshalb aus, weil seine Vernehmung als Zeuge zu Umständen, die im Zusammenhang mit dem Verfahren stehen, möglicherweise in Betracht kommt, falls im Einzelfall eine dienstliche Erklärung hierzu nicht ausreicht.


Entscheidung

83. BGH 4 StR 167/08 - Beschluss vom 14. Oktober 2008 (LG Saarbrücken)

Sexuelle Nötigung; Nötigung (konkludente Drohung; besonders schwerer Fall); Notwendigkeit eigener neuer Feststellungen nach Urteilsaufhebung trotz Geständnisses.

§ 177 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 240 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 und 2 Nr. 1 StGB; § 267 StPO; § 353 StPO; § 354 StPO

Wenn die Feststellungen des früheren Urteils aufgehoben worden sind, hat der neu entscheidende Tatrichter umfassende eigene Feststellungen zu treffen und in den Urteilsgründen mitzuteilen. Dies gilt auch bei einem Geständnis. Nur wenn die neue Hauptverhandlung die Richtigkeit der Feststellungen des aufgehobenen Urteils ergeben hat, dürfen sich die neuen Feststellungen an diese anlehnen; es ist dann sogar zulässig, in dem Umfang den Text des aufgehobenen Urteils wörtlich zu übernehmen.


Entscheidung

74. BGH 1 StR 541/08 - Beschluss vom 18. November 2008 (LG Heilbronn)

Unbegründete Befangenheitsanträge gegen vorbefasste Mitglieder des 1. Strafsenats nach vorheriger Aufhebung eines Freispruchs wegen unzureichender Beweiswürdigung (Recht auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht; Vorbefassung; Besorgnis der Befangenheit).

Art. 101 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 24 Abs. 2 StPO; § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO

1. Eine den Verfahrensgegenstand berührende Vortätigkeit eines Richters ist, soweit kein gesetzlicher Ausschließungsgrund vorliegt (vgl. § 22 Nr. 4, 5, § 23, § 148a Abs. 2 Satz 1 StPO), für sich allein nie ein Ablehnungsgrund. Auch „ein Richter, der bei einer vom Revisionsgericht aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist nach Zurückweisung der Sache weder kraft Gesetzes von der Mitwirkung bei der neuen Entscheidung ausgeschlossen, noch rechtfertigt seine Mitwirkung bei der früheren Entscheidung für sich allein die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit“ (BGHSt 21, 142).

2. Ein verständiger Angeklagter wird von der (zutreffenden) Erwägung ausgehen, dass ein Richter sich auf Grund der ihm nach seiner Stellung, Erziehung und Ausbildung eigenen Haltung von Befangenheit frei hält und sich nicht durch dienstliche Vorentscheidungen bei künftigen Entscheidungen, namentlich dem Urteil, beeinflussen lässt. Ein Befangenheitsantrag, der lediglich damit begründet wird, der Richter sei an einer Vorentscheidung zu Lasten des Angeklagten beteiligt gewesen, ist deshalb schon unzulässig gemäß § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

3. Hat sich ein Richter im früheren Verfahren sachlich verhalten, so rechtfertigen auch Prozessverstöße oder Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts grundsätzlich nicht die Annahme seiner Voreingenommenheit gegenüber dem Angeklagten (vgl. BGH, Beschl. vom 18. Mai 1994 - 3 StR 628/93). Eine andere Beurteilung ist dann geboten, wenn darüber hinaus die Unparteilichkeit eines abgelehnten, mit der Sache vorbefassten Richters aufgrund von - das Gebot der Sachlichkeit verletzenden - Äußerungen, Maßnahmen oder Verhalten in Zweifel zu ziehen ist. Ebenso können in der Sache nicht gebotene abträgliche Werturteile über den Angeklagten oder sein Verhalten in den Urteilsgründen die Ablehnung in einem späteren Verfahren rechtfertigen (BGH, Beschl. vom 27. April 1972 - 4 StR 149/72 [= BGHSt 24, 336, 338]). Auch grobe, insbesondere objektiv willkürliche oder auf Missachtung grundlegender Verfahrensrechte von Prozessbeteiligten beruhende Verstöße gegen das Verfahrensrecht können aus der Sicht eines Angeklagten die Befangenheit eines Richters begründen (BGH, Beschl. vom 4. Oktober 1984 - 4 StR 429/84).


Entscheidung

43. BGH 2 StR 500/08 - Beschluss vom 3. Dezember 2008 (LG Mühlhausen)

Schriftliche Erteilung der Vollmacht zu den Akten; Wirksamkeit einer Zustellung.

§ 145a Abs. 1 StPO

1. Das bloße Auftreten des Verteidigers in der Hauptverhandlung ohne schriftliche Erteilung der Vollmacht zu den Akten genügt nicht den Anforderungen an eine Zustellungsbevollmächtigung.

2. Eine Zustellung an einen Verteidiger ist unwirksam, wenn sich seine Vollmacht nicht bei den Akten befindet (§ 145a Abs. 1 StPO).


Entscheidung

121. BGH 5 StR 542/08 – Beschluss vom 10. Dezember 2008 (LG Berlin)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Schuldfähigkeit beim Vorwurf der Vergewaltigung (mangelnde Sachkunde; besondere Umstände des Einzelfalles).

§ 244 Abs. 4 StPO; § 177 Abs. 2 StGB; § 21 StGB

Einzelfall der unzureichenden Ablehnung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Schuldfähigkeit des Angeklagten durch den Verweis auf die eigene Sachkunde des Gerichts nach Darlegung einer Reihe von besonderen Umständen in der Person des Angeklagten und dem Beziehungsgeflecht zur Nebenklägerin dargelegt, die geeignet gewesen sind, Bedenken hinsichtlich für § 21 StGB relevanter psychischer Befindlichkeiten zu begründen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 1).


Entscheidung

35. BGH 2 StR 394/08 - Urteil vom 19. November 2008 (LG Marburg)

Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage; Gesamtwürdigung der für und gegen die Glaubhaftigkeit einer Angabe sprechenden Indizien); Doppelverwertungsverbot bei der Vergewaltigung.

§ 177 Abs. 2 StGB; § 46 Abs. 3 StGB; § 261 StPO

1. In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Hierbei ist das Gewicht und Zusammenspiel der einzelnen Indizien zusammenfassend zu bewerten. Das gilt in besonderem Maße, wenn die Kammer gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage des Hauptbelastungszeugen sprechende erhebliche Indizien erörtert.

2. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Tatopfers sowie der Glaubhaftigkeit seiner Angaben darf sich der Tatrichter nicht darauf beschränken, Umstände, die gegen die Zuverlässigkeit der Aussage sprechen können, gesondert und einzeln zu erörtern sowie getrennt voneinander zu prüfen, um festzustellen, dass sie jeweils nicht geeignet seien, die Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Selbst wenn nämlich jedes einzelne Glaubwürdigkeit oder Glaubhaftigkeit möglicherweise in Frage stellende Indiz noch keine Bedenken gegen die den Angeklagten belastende Aussage aufkommen ließe, so kann doch eine Häufung von - jeweils für sich erklärbaren - Fragwürdigkeiten bei einer Gesamtschau zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit eines Tatvorwurfs führen.


Entscheidung

73. BGH 1 StR 526/08 - Beschluss vom 23. Oktober 2008 (LG München)

Strafklageverbrauch beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Zäsurwirkung eines zwischenzeitlich ergehenden Urteils; Bewertungseinheit); Anwendung des Zweifelsgrundsatzes in der Revision (Freibeweisverfahren).

Art. 103 Abs. 3 GG; § 264 StPO; § 261 StPO

Die Anwendung des Zweifelssatzes gebietet es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dem Tatgericht nicht, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. BGH NJW 2002, 2188, 2189 m.w.N.; NStZ 2004, 35, 36; 2008, 508, 509). Nicht anders verhält es sich aber bei einer Entscheidung des Revisionsgerichts. Auch dieses kann deshalb insbesondere zur weiteren Aufklärung im Freibeweisverfahren nur bei vorhandenen realen Anknüpfungstatsachen gedrängt sein.