HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

im Mittelpunkt der Juni-Ausgabe der HRRS steht die wichtige Entscheidung des 5. Strafsenats zum Verwertungsverbot bei der groben Verkennung des Richtervorbehalts bei der Wohnungsdurchsuchung. Diese Entscheidung wird bereits von Brüning eingehend besprochen, die sich in ihrem Aufsatz "Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Richtervorbehalt" auch mit den weiteren Richtervorbehalten der StPO befasst. Aufgenommen sind darüber hinaus drei Rezensionen und eine Erwiderung von Zabel auf eine Rezension von Günther Jakobs.

Aus den Entscheidungen des BVerfG ist u.a. die "El Masri-Entscheidung" hervorzuheben. Unter den insgesamt 106 Entscheidungen finden sich weitere 6 (!) Entscheidungen, die für BGHSt vorgesehen sind. Zahlreiche weitere wichtige Entscheidungen lohnen den Blick in die aktuelle Ausgabe.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

566. EGMR Nr. 22978/05 - Zulässigkeitsentscheidung der fünften Sektion des EGMR vom 10. April 2007 (Gäfgen gegen Deutschland)

Folterverbot der EMRK (Präventionsfolter); Recht auf ein faires Verfahren; Recht auf Beschwerde; Zulässigkeitsentscheidung (Verfassungsbeschwerde; Ausschöpfung nationaler Rechtsmittel; Verknüpftheit mit der Begründetheit; entfallende Opfereigenschaft); redaktioneller Hinweis.

Art. 3 EMRK; Art. 6 EMRK; Art. 13 ERMK; Art. 35 EMRK; § 136a StPO; Art. 1 GG; Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; Art. 104 Absatz 1 Satz 2 GG

Zulässigkeit der Individualbeschwerde im "Fall Gäfgen" trotz nationaler Anerkennung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK und eines Verwertungsverbotes für erzwungene Aussagen Gäfgens, auch nach Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde als unzulässig durch das Bundesverfassungsgericht.


Entscheidung

568. BVerfG 2 BvR 93/07 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Mai 2007 (OLG Köln/LG Köln)

Verfassungsrechtliche Anforderungen an Wiederaufnahmeverfahren bei nova (Überspannung der Zulässigkeitsvoraussetzungen; unzulässige Konstruktion von Geschehensalternativen; Unzulässigkeit der Auswechslung des festgestellten Geschehensverlaufes; Aditionsverfahren; Probationsverfahren); Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Recht auf Rechtsschutz; Unmittelbarkeitsgrundsatz; bestmögliche Verteidigung).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 359 Nr. 5 StPO; § 368 Abs. 1 StPO

1. Den Wiederaufnahmegerichten ist es untersagt, das Wiederaufnahmeverfahren ineffektiv zu machen. Insbesondere dürfen sie nicht die prozessrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung derjenigen Fragen, die ihnen vorgelegt worden sind, nicht möglich ist, oder ihre Pflicht zur Sachverhaltsfeststellung unvertretbar eng auslegen oder faktisch entsprechend verfahren.

2. Dem Wiederaufnahmegericht ist es verfassungsrechtlich verwehrt, im Wege der Eignungsprüfung Beweise zu würdigen und Feststellungen zu treffen, die nach der

Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind. Dies betrifft jedenfalls solche Tatsachen, die den Schuldspruch wesentlich tragen, indem sie die abgeurteilte Tat in ihren entscheidenden Merkmalen umgrenzen, oder deren Bestätigung oder Widerlegung im Verteidigungskonzept des Angeklagten eine hervorragende Rolle spielen.

3. Es stellt eine Überspannung der Zulässigkeitsvoraussetzungen dar, wenn bei der Prüfung der Erheblichkeit eines neuen Vorbringens letztlich einen Grad an Wahrscheinlichkeit gefordert wird, der das Vorliegen einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedingt.

4. Es ist verfassungsrechtlich unzulässig, bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Wiederaufnahmeverfahrens, ohne Darlegung eigener Sachkunde, Geschehensalternativen anhand von festgestellten Sachbeweisen zu konstruieren, welche regelmäßig nur mit Hilfe eines Sachverständigen zutreffend gewürdigt werden können.

5. Vorbringen im Wiederaufnahmebegehren darf nicht nur partiell gewürdigt werden, sondern muss auch mit bereits schon vorhandenen, nicht notwendigerweise neuen Vorbringen, einer Gesamtbetrachtung zugeführt werden.

6. Es ist verfassungsrechtlich unzulässig, ohne erneute Hauptverhandlung den festgestellten unmittelbaren Tatverlauf in einer Kernfrage der Beweisaufnahme durch einen anderen zu ersetzen oder eine Erschütterung der betreffenden Feststellungen unter Verweis auf denkbare alternative Verläufe für unmaßgeblich zu erklären. Die Klärung solcher Fragen ist allein der Hauptverhandlung vorbehalten.


Entscheidung

464. BVerfG 2 BvR 2151/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. April 2007 (LG München I/AG München)

Telekommunikationsüberwachung bei einem Dritten (Begriff der "bestimmten Tatsache"; Nachrichtenmittler); Fernmeldegeheimnis; Berufsfreiheit (Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt); Fall "el-Masri".

Art. 10 GG; Art. 12 GG; Art. 8 EMRK; Art. 6 EMRK; § 110a Satz 2 StPO; § 100b StPO

1. Das Tatbestandsmerkmal "bestimmte Tatsachen" in § 100 a Satz 2 StPO erfordert, dass die Verdachtsgründe über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen müssen. Bloßes Gerede, nicht überprüfte Gerüchte und Vermutungen reichen nicht. Erforderlich ist, dass auf Grund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf die Eigenschaft als Nachrichtenmittler geschlossen werden kann.

2. Es kann dahinstehen, ob nach dem Wortlaut des § 100 a Satz 2 StPO ("für den Beschuldigten Handelnde") und der Intention des Gesetzgebers Nachrichtenmittler nur solche Personen sind, die gewissermaßen "im Lager" des Beschuldigten stehen.

3. Das Abhören berufsbezogenen Gespräche eine Rechtsanwaltes berührt den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG, das dem Rechtsanwalt eine von staatlicher Kontrolle und Bevormundung freie Berufsausübung gewährleistet und dazu insbesondere das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant schützt (vgl. BVerfGE 113, 29, 49). Die herausgehobene Bedeutung der unkontrollierten Berufsausübung eines Rechtsanwalts gebietet die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen für eine Telekommunikationsüberwachung und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.


Entscheidung

567. BVerfG 2 BvR 2106/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Mai 2007 (OLG Oldenburg)

Abschiebungshaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung (keine Fortdauer der Haft zum Zwecke der Verhinderung weiterer illegaler Einreisen oder für nicht unmittelbar mit der Abschiebung zusammenhängende Verwaltungsvorgänge); Freiheit der Person (Erfordernis eines förmlichen Gesetzes; Bestimmtheit; Analogieverbot).

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG; § 62 Abs. 2 S. 1 AufenthG

1. Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden. Die Eingriffsvoraussetzungen müssen sich dabei unmittelbar und hinreichend bestimmt aus dem Gesetz selbst ergeben (vgl. BVerfGE 14, 174, 187; 78, 374, 383. Vor allem steht Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG einer analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen entgegen (vgl. BVerfGE 29, 183, 196; 83, 24, 32).

2. Abschiebungshaft i.S.d. § 62 Abs. 2 AufenthG dient ausweislich des klaren Wortlauts einzig der Sicherung der Abschiebung.

3. Für die Frage der Rechtfertigung der Dauer einer Abschiebungshaft i.S.d. § 62 Abs. 2 AufenthG könnten über den Haftzweck der Sicherung der Abschiebung hinaus keine anderen Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Eine Freiheitsentziehung muss zu jedem Zeitpunkt ihrer Dauer von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt sein. Es ist von Verfassungs wegen ausgeschlossen, die Fortdauer der Abschiebungshaft wegen des Zeitaufwandes für Verwaltungsvorgänge anzuordnen, mit denen ein anderer Zweck als derjenige verfolgt wird, der die Haft dem Grunde nach rechtfertigt.


Entscheidung

465. BVerfG 2 BvR 2094/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 18. April 2007 (LG Frankfurt am Main/AG Frankfurt am Main)

Keine Telekommunikationsüberwachung des Telefonanschlusses eines nichtbeschuldigten Strafverteidigers (Verteidigungsverhältnis; Ermittlung des Aufenthaltsortes des

Mandanten; Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung); keine Heilung mangelhafter Begründung der Anordnung im Beschwerdeverfahren (Zeitpunkt der Beurteilung; Unzulässigkeit der nachträglichen Begründung bei anfänglich fehlendem Tatverdacht; keine Auswechslung des Sachverhaltes); Geldwäscheverdacht beim Strafverteidiger (verfassungskonforme Auslegung).

Art. 10 GG; Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 100a StPO; § 100b StPO; § 148 StPO; § 261 StGB

1. Es ist nicht von vorneherein und in jedem Fall unstatthaft, den Fernsprechanschluss eines Rechtsanwalts, der sich als Strafverteidiger betätigt, nach Maßgabe des § 100 a StPO überwachen zu lassen, die von ihm geführten Gespräche aufzunehmen und deren Inhalt im Strafverfahren zu verwerten (vgl. BVerfGE 30, 1, 32 f.; BGHSt 33, 347, 348).

2. Die Überwachung des Telefonanschlusses eines Strafverteidigers ist nicht nur einfachrechtlich, sondern auch von Verfassungs wegen unstatthaft, wenn sie auf die Überwachung der Kommunikation mit seinem einer Katalogtat beschuldigten Mandanten abzielt.

3. Dem unüberwachten mündlichen Verkehr zwischen dem Strafverteidiger und seinem Mandanten kommt auch die zur Wahrung der Menschenwürde wichtige Funktion zu, darauf hinwirken zu können, dass der Beschuldigte nicht zum bloßen Objekt im Strafverfahren wird (vgl. BVerfGE 109, 279, 322, 329).

4. Eine Heilung des Beschlusses im Beschwerdeverfahren durch ein Auswechseln der rechtlichen Begründung der Überwachungsanordnung ist dann nicht möglich, wenn es bereits an einem Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen fehlte und ein vom Ermittlungsrichter nicht angenommener und nicht geprüften Tatverdacht zugrunde gelegt werden müsste.