HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2006
7. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen



Der Anfragebeschluss des 1. Strafsenats des BGH vom 12.01.2006 zur Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigungen - Steht der Revisionspraxis eine grundlegende Änderung bevor?
Besprechung zu BGH HRRS 2006 Nr. 185

Von Lucian Krawczyk*

I. Einleitung

Anfang dieses Jahres ist ein Beschluss des 1. Strafsenats des BGH ergangen,[1] der in letzter Konsequenz zu einer tief greifenden Änderung der Revisionspraxis führen kann und - je nach dem, welche Perspektive man einnimmt und auf welcher Seite man steht - eine weitere spürbare Einschränkung der Erfolgsaussichten von Verfahrensrügen oder die Behebung einer im Formalismus des Revisionsrechts begründeten Schwachstelle zur Folge hätte. Der 1. Senat äußert in seinem Beschluss, nachdem er dies schon einer vorangegangenen Entscheidung angedeutet hat,[2] die Auffassung, dass nachträgliche Berichtigungen des Hauptverhandlungsprotokolls im Revisionsverfahren entgegen langjähriger Rechtsprechung nunmehr auch dann berücksichtigt werden dürften, wenn dadurch einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage entzogen werde, und fragt bei den anderen Senaten nach, ob diese an entgegenstehender Rechtsprechung festhalten. Damit erreicht die Diskussion um die ausschließliche Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) und um die sich hieraus ergebenden revisionsrechtlichen Fragestellungen, die anscheinend auch über Fachkreise hinaus Wellen schlägt[3], einen neuen Höhepunkt. Mittlerweile haben alle Senate auf die

Anfrage des 1. Senats geantwortet. Es ist daher Zeit für ein Zwischenfazit und für einen Ausblick.

II. Hintergrund und Vorgeschichte des Anfrageverfahrens

Um das vom 1. Senat initiierte Anfrageverfahrens im richtigen Licht zu sehen, ist der Blick erst einmal in die Vergangenheit zu richten und zunächst die ältere und anschließend die jüngere (Vor-)Geschichte zu beleuchten. Und es ist dabei durchaus angebracht, sich einige zentrale Aussagen aus der Vergangenheit wieder zu vergegenwärtigen. Vieles von dem, was von der Rechtsprechung - auch vom BGH - früher an klugen, ausgewogenen und rechtsstaatlich bedächtigen Überlegungen entwickelt worden ist, scheint in der jüngeren Debatte in Vergessenheit geraten oder jedenfalls nicht mehr viel wert zu sein.

1. Die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) und die bisherige Behandlung nachträglicher Protokollberichtigungen in der Rechtsprechung

a) Im Mittelpunkt steht die Vorschrift, um die die hier zu besprechende Problematik kreist. Mit Einführung der StPO statuiert der Gesetzgeber in § 274 StPO auch das Prinzip der absoluten Beweiskraft. Wenn eine Verfahrensrüge erhoben wird und das Revisionsgericht das insoweit relevante Verfahrensgeschehen aus der tatrichterlichen Verhandlung feststellen muss, kommt dem Hauptverhandlungsprotokoll im Hinblick auf bestimmte, besonders wichtige Verfahrensvorgänge (wesentliche/vorgeschriebene Förmlichkeiten i.S.d. §§ 273 I, 274 StPO) eine ausschließliche Beweiskraft zu. Der im Hauptverhandlungsprotokoll dokumentierte Verfahrensverlauf steht für das Revisionsgericht verbindlich fest. Man hat mit dieser rigorosen Beweisregel eine Vereinfachung des Revisionsverfahrens bezweckt. Das Revisionsgericht sollte vor zeitaufwendigen Beweiserhebungen über den Verfahrenshergang in der tatrichterlichen Verhandlung verschont bleiben. Zudem sah man das Hauptverhandlungsprotokoll vor allem gegenüber nachträglichen Bekundungen der beteiligten Richter und Protokollführer als das deutlich zuverlässigere Beweismittel an.[4]

b) Schon bald nach Einführung des § 274 StPO zeigt sich in der Praxis seine Schwäche, und muss sich die Rechtsprechung hiermit beschäftigen: Auch das Hauptverhandlungsprotokoll ist kein absolut zuverlässiges Beweismittel, es kann unklar oder fehlerhaft abgefasst sein, so dass ein Bedürfnis besteht, durch eine Berichtigung des Protokolls die im Hinblick auf das Revisionsverfahren gewünschte Übereinstimmung von protokolliertem und tatsächlichem Verfahrensverlauf herzustellen.

aa) Das RG steht schon sehr bald vor der Frage, ob das Protokoll nachträglich, nach seiner Fertigstellung also, noch berichtigt werden darf. In RGSt 2, 76 lässt das RG noch offen, ob eine nachträgliche Protokollberichtigung überhaupt zulässig sei - heute ist das unbestritten -, nimmt aber die Position ein, unzulässig sei jedenfalls die "Ergänzung" des Protokolls, die nach Anbringung des Rechtsmittels erfolge und die sich auf die durch das Rechtsmittel gerügte Mängel beziehe. Es könne keinem Zweifel unterliegen, dass der § 274 StPO gerade für den Fall der Anfechtung des Urteils Bestimmungen getroffen habe und dass sonach nur dasjenige Protokoll, welches zur Zeit der Anfechtung vorhanden sei und auf welches sich die Anfechtung stütze, hinsichtlich des gerügten Mangels als die jeden Gegenbeweises, mit Ausnahme der Fälschung, ausschließende Beweisurkunde gesehen werden könne.[5]

bb) In den folgenden Jahren wird dieser Grundsatz - einprägsam als Verbot der Rügeverkümmerung bezeichnet[6] - von der Mehrheit der Senate des RG fortgeführt.[7] Im Jahre 1909 kommt es dann zur ersten großen Grundsatzentscheidung der Vereinigten Strafsenate des RG in RGSt 43, 1, weil der 2. Strafsenat des RG von der bisherigen, schon einigermaßen gefestigten reichsgerichtlichen Rechtsprechung abweichen will. Die Vorlagefrage des 2. Senats des RG wird verneint und die Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung mit allem Nachdruck bestätigt: Sei eine Beschwerde bereits angebracht, so könne nach der vom Gesetze dem Protokoll für das gesamte Revisionsverfahren beigelegten Bedeutung eine dem Beschwerdeführer nachteilige Berichtigung keine Berücksichtigung mehr finden.[8] Ausschlaggebend für die Vereinigten Strafsenate sind primär Erwägungen, die auf die Wahrung von Chancengleichheit abzielen: "Es könnte doch unmöglich dem Willen des Gesetzes entsprechen, dass zwar der Beschwerdeführer sich über die Anbringung oder Nichtanbringung einer Prozessrüge und die hierfür maßgebenden Tatsachen innerhalb der ihm gesetzten Frist Klarheit verschaffen (…) müsste, den Urkundspersonen aber unbeschränkt - auch nach Ablauf jener Frist - gestattet sein sollte, einen im Protokoll beurkundeten Sachverhalt, nachdem sich der Beschwerdeführer für seine Zwecke bereits darauf berufen hat, noch mit Beweiskraft im Sinne des § 274 StPO zu ändern. Diese Erwägung ist zwingend und muss überzeugend gegen die Zulässigkeit von Protokollnachträgen (…) sprechen."[9] Die Ausführungen gipfeln darin, dass dem Beschwerdeführer ein "prozessuales Recht" auf unverän-

derte Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge eingeräumt wird.[10] Die Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung wird dann für die nächsten knapp 30 Jahre weitergeführt,[11] bis es 1936 in RGSt 70, 241 zur völligen Kehrwende kommt und das Verbot der Rügeverkümmerung gekippt wird. Der 1. Senat hätte sich in seinem aktuellen Anfragebeschluss also durchaus auf ein Vorbild aus früherer höchstrichterlicher Rechtsprechung berufen können - wenn in RGSt 70, 241 neben einigen sachlichen Argumenten nicht auch nationalsozialistische Denkweise zum Ausdruck gekommen wäre.[12]

cc) In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrscht zunächst Uneinigkeit;[13] überwiegend kehren die obersten Gerichte aber zur Rechtsprechung des RG vor 1936 zurück. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Besatzungszone aus dem Jahre 1947 ragt hier heraus. Ähnlich wie zuvor schon in RGSt 43, 1 wird mit der Chancengleichheit argumentiert: Der Revisionsführer, dessen Möglichkeiten ohnehin begrenzt seien, weil er nur solche Verfahrensfehler, die durch das Protokoll ausgewiesen seien, rügen könne, würde zusätzlich eingeschränkt werden, wenn die Befugnis, sich bei Erhebung der Verfahrensrüge auf den Inhalt des Protokolls zu stützen, noch von der ungewissen Voraussetzung abhängig gemacht würde, dass die Urkundspersonen die Sitzungsniederschrift nicht nachträglich abänderten. Die Regelung des § 274 StPO würde dann ganz einseitig zum Nachteil des Revisionsführers ausschlagen. Und dann folgt ein bemerkenswerter Satz: "Dass ein solches Ergebnis dem Willen des Gesetzgebers entspricht, der sonst ersichtlich bestrebt ist, den Grundsatz der Waffengleichheit zwischen den Prozessbeteiligten zu wahren, kann nicht angenommen werden."[14]

dd) Die Position des BGH zum Verbot der Rügeverkümmerung schließlich wird durch die frühe Entscheidung BGHSt 2, 125 bis in die jüngste Zeit vorgegeben. Die Position des BGH liegt ganz auf der Linie der beiden genannten Grundsatzentscheidungen. Auch hier steht die Chancengleichheit im Vordergrund: Der Beschwerdeführer habe so gut wie keine Möglichkeit, die Berichtigung der Sitzungsniederschrift zu erzwingen. "Umgekehrt muss dann aber auch dem Beschwerdeführer das Recht eingeräumt werden, einen aus dem Protokoll ersichtlichen - in Wirklichkeit nicht vorliegenden - Mangel zur Begründung seines Rechtsmittels zu verwerten, und er muss auch gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein. Andernfalls liefe die Regelung des § 274 StPO auf eine Benachteiligung des Beschwerdeführers hinaus, die der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann."[15] Der BGH nennt, wie zuvor schon der OGH, noch einen weiteren Aspekt, der für das Verbot der Rügeverkümmerung spricht: die mangelnde Zuverlässigkeit nachträglicher Erklärungen der Urkundspersonen. Zwischen der Herstellung der Sitzungsniederschrift und dem Eingang der Revisionsrechtfertigung, so der BGH, liege in der Regel ein Zeitraum von mehreren Wochen, manchmal auch Monaten. Es sei in der Mehrzahl der Fälle wenig wahrscheinlich, dass der Protokollnachtrag zuverlässigeren Aufschluss über die tatsächlichen Vorgänge in der Hauptverhandlung gebe als die ursprüngliche Sitzungsniederschrift.[16] Und weil das in der heutigen Diskussion teilweise anders dargestellt wird, ist noch in Erinnerung zu rufen, was der OGH in dieser Beziehung gesagt hat: "Es bedeutet kein Misstrauen gegen die Pflichtreue der Urkundspersonen, sondern liegt in der menschlichen Natur begründet, wenn bei einer Protokollberichtigung, die erst lange Zeit später vorgenommen wird, bewusst oder unbewusst der Gedanke mitspricht, dass es zu dem gerügten Verfahrensverstoß, weil er in so vielen anderen Sachen nicht begangen sei, auch vorliegend nicht gekommen sei."[17]

ee) Soweit soll es mit dem historischen Abriss sein Bewenden haben. Nur eines noch: Bis auf ein vergleichsweise kurzes Intermezzo im Anschluss an RGSt 70, 240 hat das Verbot der Rügeverkümmerung stets seinen festen Platz in der Revisionsrechtsprechung gehabt. Daher wird es seiner langen Tradition nicht ganz gerecht, wenn vornehmlich seine Kritiker - die Verfügbarkeit jenes Grundsatzes implizierend - davon sprechen, das Verbot der Rügeverkümmerung habe eine "wechselvolle Geschichte" hinter sich.

2. Aktuelle Entwicklungen und Relativierungstendenzen im Zusammenhang mit der absoluten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls

a) Nun lohnt es sich, auf die die jüngeren Entwicklungen zu schauen, die dem Anfragebeschluss des 1. Senats unmittelbar vorausgehen und die in ihm vorläufig gipfeln: Etwa ab den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzt in der Rechtsprechung eine Tendenz ein, die sich durch eine spürbare Relativierung der absoluten Beweiskraft des Protokolls kennzeichnet. Den Revisionsgerichten bereiten die Auswirkungen des § 274 StPO zusehends Kopfzerbrechen; das Unbehagen im Umgang mit § 274 StPO äußert sich kaum verhüllt vor allem dann, wenn Revisionsrichter ein Urteil wegen eines im Protokoll ausgewiesenen, ihrer Überzeugung nach aber tatsächlich nicht erfolgten Verfahrensverstoßes aufheben müssen. Angesichts der einschneidenden Wirkung des § 274 StPO heißt es beispielsweise beim 1. Senat: "Dass damit dem Revisionsgericht zugemutet wird, ersichtlich unzutreffende Tatsachen rechtlich bewerten und ein sonst nicht zu beanstandendes Urteil aufheben zu müssen, vermag nicht zu befriedigen (…)."[18] Und in einer Entscheidung des 2. Senats ist zu lesen: "Das ist eine be-

denkliche Konsequenz der Vorschrift des § 274 StPO (...). Diese Erwägungen widerstreiten dem grundsätzlich auch für Revisionsgerichte geltenden Gebot, die wahre Sachlage zu erforschen, wenn prozessual erhebliche Tatsachen (...) der Klärung bedürfen."[19]

b) § 274 StPO gerät nun, wie schon des Öfteren in seiner langen Geschichte, in den Fokus seiner Kritiker. Auch die Streitfragen, die sich im engeren Umfeld dieser Norm ergeben und die in der Vergangenheit nur scheinbar endgültig beigelegt worden sind, werden neu ausgefochten. Die Diskussion um die so genannte unwahre Verfahrensrüge, die für rund 50 Jahren verstummt ist, wird wieder entfacht. Nachdem die unwahre Verfahrensrüge früher fast ausschließlich als berufsrechtliches Problem für den Verteidiger, der ja zumeist Rechtsanwalt ist, im Hinblick auf eine anwaltliche Wahrheitspflicht gesehen worden ist,[20] stellen einige Senate des BGH nun auch die prozessuale Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge in Frage. In mehreren obiter dicta wird angedeutet, unwahre Verfahrensrügen zukünftig wegen Rechtsmissbrauchs als prozessual unzulässig zu behandeln.[21]

c) Natürlich wird auch das Verbot der Rügeverkümmerung wieder ein Thema. Noch relativ verhalten fragt der 5. Senat, "ob eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine wirksame Protokollberichtigung nach Eingang der Revisionsrechtfertigung nicht mehr möglich ist, wenn damit einer zulässigen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen wird (…), für die Fälle eines zweifelsfrei vom protokollierten Hergang abweichenden Sachablaufs in Betracht kommt."[22] Deutlicher wird da schon der 2. Senat, der sich zunächst in einer Aufsehen erregenden Entscheidung[23] - es ging dort nicht um eine förmliche Protokollberichtigung, sondern um bloßes (formloses) Abrücken der Urkundspersonen vom Protokollinhalt, für welches aber das Verbot der Rügeverkümmerung gleichermaßen gilt[24] - vorwagt: Der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz, dass durch Distanzierung der Urkundspersonen vom Inhalt der Sitzungsniederschrift einer zulässigen erhobenen Verfahrensrüge nicht nachträglich der Boden entzogen werden dürfe, basiere letztlich auf Erwägungen, die mit dem Grundsatz eines für den Angeklagten fairen Verfahrens zusammenhingen. Fraglich sei allerdings, ob aus dem Gebot des fairen Verfahrens auch folge, dass das Revisionsgericht "sehenden Auges einen Verfahrensvorgang unterstellen muss, der so nicht geschehen ist, nur weil das wirkliche Geschehen sich für den Beschwerdeführer ungünstig auswirkt. Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens muss dies jedenfalls dann nicht folgen, wenn der behauptetet Verfahrensverstoß in der Sphäre des Angeklagten liegt."[25] Im konkreten Fall übrigens wies das Protokoll - offenbar fälschlicherweise - die gleichzeitige Abwesenheit der beiden Verteidiger des später wegen Mordes verurteilten Angeklagten während einer wichtigen Beweiserhebung aus. In einer Entscheidung gut vier Jahre später legt der 2. Senat noch einmal nach: "Der Senat neigt (…) der Auffassung zu, dass ein ordnungsgemäß berichtigtes Protokoll auch dann zugrunde zu legen ist, wenn dadurch einer erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen würde (…). Danach könnte berücksichtigt werden, dass ursprünglich nur ein Mangel des Protokolls vorlag und kein Verfahrensfehler gegeben ist."[26] Dass es nicht hier schon zu einem Anfragebeschluss kommt und der 2. Senat es bei einem obiter dictum belässt, liegt daran, dass auch diesem Fall nicht eine förmliche Protokollberichtigung, sondern bloß vom Protokollinhalt abrückende dienstliche Stellungnahmen der Urkundspersonen zugrunde lagen, für die der 2. Senat es bei der Geltung des Verbots der Rügeverkümmerung belassen will.

d) Als effektivstes Mittel, um die als unbillig empfundenen Auswirkungen des § 274 StPO einzugrenzen, erweist sich indes die auf das RG zurückgehende Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft bei offensichtlichen Fehlern des Protokolls. Seit den Zeiten des RG ist es anerkannt, dass bei bestimmten Mängeln des Protokolls (Lücken, Widersprüche, Unklarheiten) die formelle Beweiskraft entfällt und das Revisionsgericht den in Frage stehenden Verfahrensvorgang im Freibeweisverfahren aufklären kann.[27] Damit § 274 StPO nicht umgangen wird

- diese Norm verwehrt ja an sich eine freibeweisliche Aufklärung von Verfahrensvorgängen, die wesentliche bzw. vorgeschriebene Förmlichkeiten betreffen -, wird seit jeher verlangt, dass sich der jeweilige Mangel aus dem Protokoll selbst ergibt.[28] Damit ist die Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft des Protokolls prinzipiell auf wenige Ausnahmefälle beschränkt; folgerichtig spielt sie zunächst in der reichsgerichtlichen und später auch in der Rechtsprechung des BGH keine größere Rolle. Die Revisionsgerichte machen von dieser Methode, die ausschließliche Beweiskraft des Protokolls zu durchbrechen und den Weg zur freibeweislichen Aufklärung des Verfahrensgeschehens zu ebnen, bis in die jüngere Zeit hinein nur äußerst sparsamen Gebrauch. Dies ändert sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren deutlich. Entscheidungen des BGH, in denen ein offensichtlicher Mangel des Protokolls angenommen wurde, häufen sich ab dieser Zeit in auffälliger Weise. Augenfälliges und zugleich höchst problematisches Kennzeichnen vieler dieser Entscheidung ist es, dass sich der BGH - hier muss man genauer von einzelnen Senaten sprechen - mehr und mehr von dem Erfordernis, dass sich der zum Wegfall der Beweiskraft führende Mangel aus dem Protokoll selbst ergeben muss, löst und ein Mangel des Protokolls auch daraus herleitet, dass der protokollierte Verfahrensverlauf eher unwahrscheinlich ist und nicht im Einklang mit allgemeiner forensischer Praxis bzw. Erfahrung steht.[29] Damit aber steht die von einzelnen Senaten forcierte Ausweitung der Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft des Protokolls im eindeutigen Widerspruch zur Regelung des § 274 StPO.[30]

e) Begleitet wird all dies von Publikationen aktiver bzw. ehemaliger Bundesrichter. Richtungweisend ist hier ein im Jahre 2000 erschienener Aufsatz von Schäfer, dem ehemaligen Vorsitzenden des 1. Senats.[31] Schäfer, der die bis dahin schon zu beobachtenden Entwicklungen im Kontext des § 274 StPO - das zunehmende Unbehagen der Revisionsrechtsprechung im Umgang mit dieser Norm und die entsprechenden Relativierungstendenzen - zusammenfasst, erkennt in § 274 StPO einen übertriebenen und überkommenen Formalismus, der der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit im Wege steht.[32] Im Hinblick auf die Berücksichtigungsfähigkeit nachträglicher Protokollberichtigungen stellt Schäfer die sachliche Berechtigung der bisherigen Rechtsprechung in Frage. Diese habe nämlich stets die Konsequenz, dass das Revisionsgericht über eine Verfahrenslage entscheiden müsse, die nach Einschätzung der insofern an sich maßgebenden Urkundspersonen nicht mit dem tatsächlichen Geschehen übereinstimme. Die herrschende Auffassung lasse sich wohl nur mit einem "diffusen Misstrauen gegen die Integrität der Urkundspersonen erklären."[33] Zudem weist Schäfer den Aspekt der nachlassenden Erinnerung der Urkundspersonen als ein Hauptargument gegen die unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen zurück: Dieser Gesichtspunkt treffe nicht den Kern. Denn die Berichtigung des Protokolls setze gerade eine positive Erinnerung der Urkundspersonen an den Verfahrensverlauf voraus. Hätten sie dagegen Zweifel oder erinnerten sie sich nicht mehr, dürfe eine Protokollberichtigung nicht erfolgen.[34] In dieselbe Richtung geht auch ein Beitrag von Detter, bis vor kurzem Mitglied des 2. Senats. Auch er spricht sich für eine unbeschränkte Berücksichtigungsfähigkeit von Protokollberichtigungen aus. Er übernimmt Schäfers Formulierung und spricht ebenfalls davon, das Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung "ein gewisses Misstrauen gegen die Redlichkeit der Urkundspersonen" gewesen sei, dass angesichts der neuen Überprüfungsmöglichkeiten - hiermit meint er den Umstand, dass Protokolle heute auch mit Computern erstellt werden und daher umfassende und dauerhafte Aufzeichnungen vorhanden sind - kaum noch nachvollziehbar sei.[35]

f) Allerdings sind hier auch gegenteilige Äußerungen zu vernehmen - und zwar nicht nur aus den Reihen der Wissenschaft und der Verteidiger, die den neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung überaus kritisch gegenüberstehen.[36] So bezieht Tepperwien, Vorsitzende des 4. Senats, frühzeitig Stellung und erteilt allen Tendenzen zur Relativierung des § 274 StPO eine deutliche Absage.[37] Speziell mit Blick auf das Verbot der Rügeverkümmerung stellt Tepperwien, so wie es schon die genannten Grundsatzentscheidungen des RG, des OGH und des BGH getan haben, den Gedanken der Chancengleichheit in den Vordergrund: Der Revisionsführer sei aufgrund des Formalismus des Revisionsrechts selbst mannigfachen Beschränkungen ausgesetzt - angesichts der Frist- und Formvorschriften für die Revisionsbegründung, aber eben auch angesichts der formellen Beweiskraft des Protokolls, wenn der Revisionsführer sich eines Verfahrensfehlers zwar sicher sei, dieser im Protokoll

aber keinen Niederschlag gefunden habe. "Vor diesem Hintergrund erscheint es schon nach dem Grundsatz der von der Strafprozessordnung auch in anderen Bereichen angestrebten 'Waffengleichheit’ der Prozessbeteiligten gerechtfertigt, dem Revisionsführer, der einen im Protokoll ausgewiesenen Verfahrensfehler zur Grundlage seines Rechtsmittels macht, die durch § 274 StPO erreichte günstige Beweisposition nicht durch eine nachträgliche Protokollberichtigung wieder zu entziehen."[38]

Auch der 3. Senat spricht sich im Verlauf der neueren Debatte anlässlich eines Falles, in dem die Urkundspersonen durch nachträgliche dienstliche Erklärungen vom Protokollinhalt abgerückt sind, dezidiert für das Verbot der Rügeverkümmerung aus - wenn auch mit einer eher blassen Begründung: Die Berücksichtigung der nachträglichen distanzierenden Erklärungen würde zu einer weitgehenden Relativierung der Beweiskraft des Protokolls führen "und damit dem Zweck des § 274 StPO widerstreiten, die Prüfung der wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrensganges der Tatsacheninstanz durch das Revisionsgericht zu formalisieren und daher auf die aus der Sitzungsniederschrift ersichtlichen Verfahrensvorgänge zu beschränken."[39]

3. Der Anfragebeschluss des 1. Senats als Konsequenz einer sich zuspitzenden Debatte

Sieht man die hier skizzierten Entwicklungen, insbesondere die schon weit gereiften Erwägungen des 2. Senats und die vorbereitenden bzw. begleitenden Stellungnahmen von Schäfer und Detter als Hintergrund, so kommt der Anfragebeschluss des 1. Senats zur Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung jedenfalls nicht überraschend. Ebenso war wohl zu erwarten, dass unter allen anderen denkbaren Möglichkeiten, die Auswirkungen des § 274 StPO einzudämmen, die Wahl auf eine unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen fiel.

So erschien selbst denjenigen Senaten des BGH, die in den letzten Jahren die Ausweitung der Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft forciert haben, dieser Weg offenbar als zu heikel. Der Widerspruch zur Regelung des § 274 StPO liegt hier nämlich offen auf der Hand, wenn zur Entkräftung des Protokollinhalts verstärkt auf Erfahrungssätze über den gewöhnlichen Ablauf einer Hauptverhandlung abgestellt wird. Nicht von ungefähr spricht der 2. Senat etwa von der "umstrittenen Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls",[40] und nimmt er die insoweit heftige Kritik aus der Literatur auf.[41]

Auch für eine Behandlung sog. unwahrer Verfahrensrügen als prozessual unzulässig lässt sich wohl kaum eine überzeugende Begründung finden, weil die Regelung des § 274 StPO andernfalls nur noch einseitig zum Nachteil des Revisionsführers ausschlagen würde - dieser ist ja umgekehrt in seinen Rügemöglichkeiten eingeschränkt, wenn das Protokoll (fälschlicherweise) einen tatsächlich geschehenen Verfahrensfehler nicht ausweist. Zudem setzt hier die Annahme eines zur prozessualen Unzulässigkeit führenden Rechtsmissbrauchs nach Auffassung der Rechtsprechung die Kenntnis des Verteidigers von der Unwahrheit des Rügevortrages voraus; rechtsmissbräuchlich kann nur eine bewusst unwahre Verfahrensrüge sein. Der entsprechende Nachweis macht zwangsläufig Beweiserhebungen über das Verfahrengeschehen in der Tatsacheninstanz erforderlich. Dies wäre zum einen - außerhalb von offensichtlichen Fällen - mit Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbunden und zum anderen auch nicht mit § 274 StPO, der doch gerade Beweiserhebung vor dem Revisionsgericht verwehrt, unvereinbar.[42] Über einige zwar Aufsehen erregende, aber in dogmatischer Hinsicht kaum fundierte obiter dicta sind entsprechende Überlegungen in der Rechtsprechung in der Vergangenheit denn auch noch hinausgekommen. Ungeachtet der hier nur angedeuteten gewichtigen Bedenken hat sich der 3. Senat nun aber in einem ganz aktuellen Urteil, das sicherlich noch für Gesprächsstoff sorgen wird, dazu durchgerungen, (bewusst) unwahre Verfahrensrügen als rechtsmissbräuchlich und damit als prozessual unzulässig anzusehen.[43]

Im Gegensatz dazu verspricht eine unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen in den Augen ihrer Befürworter mehr Erfolg. Mit § 274 StPO wäre dies vereinbar - lässt sich dieser Norm doch unmittelbar nichts dazu entnehmen und war das Verbot der Rügeverkümmerung immer (nur) das Ergebnis einer Abwägung. Zudem wären die anderen - problematischen - Strategien zur Eindämmung der unbillig empfundenen Auswirkungen des § 274 StPO obsolet. Der 1. Senat weist in seinem Anfragebeschluss darauf hin: "Die Berücksichtigung jeder Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht könnte auch der Ausweitung der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls (…) begegnen (…)." Und etwas weiter: "Ebenso wären mit der Berücksichtigung der - umfassenden - Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht der Erfolgsaussicht unwahrer Verfahrensrügen neue Grenzen gesetzt (…)."[44]

III. Zum Anfrageverfahren

1. Die Argumentation des 1. Senats

a) Inhaltlich führt der erste Senat in seinem Anfragebeschluss nun im Wesentlichen Folgendes für die Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung an: Auf den ersten Blick etwas überraschend macht sich der 1. Senat für sein Anliegen zunächst den Umstand zunutze, dass das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit in mehreren Entscheidungen die Bedeutung des Beschleunigungsgebot in Strafverfahren, speziell in Haftsachen, betont und Verstöße hiergegen der Strafjustiz - auch dem BGH - mit teilweise sehr deutlichen Worten entgegen gehalten hat.[45] Die Revisionsgerichte, so der 1. Senat, seien zur Wahrheit verpflichtet. Dieses Argument erhalte dadurch Gewicht, dass das BVerfG in letzter Zeit mehrfach "unmissverständlich" darauf hingewiesen habe, die durch eine Revisionsentscheidung bedingt zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient habe. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehe hiervon aus. Vor diesem Hintergrund der Wahrheitspflicht, verstärkt durch das Verbot der Verfahrensverzögerung und des Gebots der Beschleunigung des Verfahrens insbesondere in Haftsachen, sei es "nicht mehr akzeptabel, Urteile aufgrund eines fiktiven Sachverhalts wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, der nach dem Inhalt des - berichtigten - Protokolls tatsächlich nicht vorliegt."[46] Weiterhin fegt der 1. Senat die Gründe, die stets konstituierend für das Verbot der Rügeverkümmerung gewesen sind, kurzerhand beiseite: Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Nichtberücksichtigung einer Protokollberichtigung begründet, finde im Gesetz keine Stütze. Ein prozessuales Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet werde, gebe es nicht. Zudem setze die Berichtigung bei den Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus. Sei diese nicht vorhanden, könne das Protokoll nicht berichtigt werden. Die Erfahrung nachlassender Erinnerung sei kein Argument gegen die Berücksichtigung durch das Revisionsgericht. Häufig könne eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstützen zurückgreifen.[47]

b) Zudem hat der 1. Senat nur kurze Zeit vor seinem Anfragebeschluss bereits angedeutet, dass er eine Änderung der gegenwärtigen Rechtsprechung befürwortet: Es sei keine ungerechte Benachteiligung eines Beschwerdeführers, wenn er nicht "gegen eine nachträgliche Beseitigung" eines "aus dem Protokoll ersichtlichen - in Wirklichkeit nicht vorliegenden Mangels durch Protokollberichtigung gesichert" sei.[48] Die Aufhebung eines Urteils und die damit verbundene Zurückweisung einer Sache führten "notwendig zu einer, erfahrungsgemäß oft erheblichen, Verzögerung des Verfahrensabschlusses." Dies mit allen Konsequenzen hinzunehmen, könne schwerlich geboten sein, wenn die Aufhebung allein darauf beruhe, "dass das Revisionsgericht aus Gründen, die sich jedenfalls nicht ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben, einen formalen Fehler fingieren muss, der zu seiner Überzeugung in Wahrheit nicht vorliegt." Soweit schließlich bei der Bewertung einer nachträglichen Protokollberichtigung - hier übernimmt der 1. Senat die Wortwahl Schäfers[49] - "ein gewisses Misstrauen gegen die Redlichkeit der Urkundspersonen spürbar" werde, gebe es jedenfalls nach den Erfahrungen des Senats keine Anhaltspunkte, die dies rechtfertigten.[50]

2. Die Antworten der anderen Senate

a) Was die Antworten der anderen Senate auf den Anfragebeschluss angeht, sind diese zum Teil durch die vorangegangen Stellungnahmen der jeweiligen Senate zur Frage der Protokollberichtigung sowie zur Beweiskraft des Protokolls vorgegeben worden; zum Teil sind hier aber auch durchaus Meinungswechsel zu verzeichnen. Zu erwarten war auf jeden Fall, dass der 2. Senat der Auffassung des 1. Senats beitritt[51] - war es doch dieser Senat, der zuvor am deutlichsten für eine Änderung der Rechtsprechung und für eine Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung plädiert hat. In der Sache steuert der 2. Senat nichts wesentlich Neues mehr bei, sondern verweist auf seine vorangegangene Entscheidung und betont wie schon der 1. Senat, dass das im Strafverfahren geltende Beschleunigungsgebot die Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen verlange. Der Revisionsführer sei hiergegen, so merkt der 2. Senat noch an, wegen der Möglichkeit, gegen eine nach seiner Ansicht unzutreffende Protokollberichtigung mit der Beschwerde vorzugehen, nicht schutzlos.[52]

b) Auf der anderen Seite war ebenso damit zu rechnen, dass der 4. Senat am Verbot der Rügeverkümmerung festhalten will.[53] Der 4. Senat ruft hier zugunsten des Verbots der Rügeverkümmerung die schon aus den oben erwähnten Grundsatzentscheidungen des RG, des OGH und des BGH bekannten Argumente in Erinnerung: das mit Eingang der Revisionsbegründungsfrist entstehende prozessuale Recht des Beschwerdeführers auf unveränderlichen Bestand der Grundlage seiner Verfahrensrüge, die wegen zunehmenden Zeitabstands seit der Hauptverhandlung bestehende Skepsis gegenüber nachträglichen

Erklärungen der Urkundspersonen sowie - dies war schon immer ein eher beiläufiger Aspekt - die Gefahr, dass die Qualität der Protokollführung generell sinkt, wenn den Urkundspersonen die Möglichkeit eingeräumt wird, Fehler bei der Protokollierung später jederzeit beheben zu können.[54] Zudem bekennt sich der 4. Senat zur Formenstrenge des Strafverfahrens im Allgemeinen und zu § 274 StPO im Besonderen: "Die Regelungen der Strafprozessordnung über den Ablauf eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens sind streng formal. § 274 StPO, der vorschreibt, dass die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann, beinhaltet als Grundlage für das Revisionsverfahren eine Beweisregel, die der formalen Zweckmäßigkeit Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräumt. Das hat der Gesetzgeber bewusst so gewollt."[55] Die Argumente, die der 1. Senat für eine Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung anführt, weist der 4. Senat mit klarer und stringenter Begründung zurück. Ohne die Begründungskette hier vollständig zu wiederzugeben, seien hier einige Erwiderungen des 4. Senats auf den Anfragebeschluss des 1. Senats herausgegriffen: Dem Argument des 1. Senats, gegen das Verbot der Rügeverkümmerung spreche, dass auch die Revisionsgerichte zur Wahrheit verpflichtet seien und dass (das spricht der 1. Senat nicht aus, aber das ist das Folgeargument) damit schwerlich zu vereinbaren sei, dass der revisionsgerichtlichen Entscheidungen unter Umständen nur ein fiktiver Sachverhalt zugrunde liege, hält der 4. Senat eine einleuchtende Überlegung entgegen: Das Argument des 1. Senats sei zirkulär, weil nicht ohne weiteres klar sei, "was denn die Wahrheit ist: der Verfahrensgang wie im Ursprungsprotokoll festgehalten oder der in der Berichtigung niedergelegte Gang der Hauptverhandlung."[56] Dankenswerterweise stellt sich der 4. Senat weiterhin auch gegen das unsinnige Argument, hinter dem Verbot der Rügeverkümmerung stecke ein "diffuses Misstrauen gegen die Redlichkeit der Urkundspersonen.[57] Schließlich betont der 4. Senat den Eigenwert der Kontinuität der Rechtsprechung und bezweifelt auch aus diesem Blickwinkel heraus, ob das viele Jahrzehnte lang geltende Verbot der Rügeverkümmerung ohne weiteres aufgegeben werden dürfe.[58]

c) Im Gegensatz zum 2. Senat auf der einen und dem. 4. Senat auf der anderen Seite hat der 5. Senat bei der Problematik nachträglicher Protokollberichtigungen zuvor keine klare Position bezogen. Zwar hat er sich in den Anfängen der Diskussion tendenziell für eine Lockerung des Verbots der Rügeverkümmerung ausgesprochen,[59] sich danach aber mit weiteren Stellungnahmen zurückgehalten. Weil man also vom 5. Senat hier im Vorfeld kaum etwas erfahren hat, ist es nicht unbedingt zu erwarten gewesen und kommt andererseits auch nicht völlig überraschend, dass der 5. Senat in seiner Antwort mitteilt, an bisheriger Rechtsprechung festhalten zu wollen.[60] Allerdings scheint diese Position des 5. Senats sehr fragil zu sein. So lässt der 5. Senat selbst in seiner Antwort nicht unerwähnt, dass im Senat auch andere Ansichten vertreten werden und teilweise auch dem 1. Senat zugestimmt wird. Zudem hat mittlerweile auch der Vorsitz im 5. Senat gewechselt.[61] Es ist daher nicht auszuschließen, dass sich der 5. Senat noch auf die Seite der Befürworter einer Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung schlägt.

d) Mit einiger Spannung durfte schließlich auf die Antwort des 3. Senats gewartet werden. Von diesem war ja einerseits bekannt, dass er sich vor nicht allzu langer Zeit ablehnend gegenüber einer Ausweitung der Protokollberichtigungsmöglichkeiten geäußert hat.[62] Andererseits stellt der 1. Senat in seinem Anfragebeschluss ausdrücklich auf das Beschleunigungsgebot im Strafverfahren ab und führt dazu die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Beschleunigungsgebot an. Das BVerfG wiederum hat in einer Aufsehen erregenden Kammerentscheidung aus jüngster Zeit anlässlich eines Strafverfahren, dass sich über annähernd acht Jahre hingezogen hat, neben den beteiligten Instanzgerichten eben auch den 3. Senat des BGH als Revisionsgericht in diesem Verfahren mit deutlichen Worten wegen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot gerügt.[63] Die scharfe und vielleicht über das Ziel hinausschießende Kritik der 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG hat unübersehbar für zeitweilige Missstimmung zwischen den beiden Gerichten gesorgt. Wer nun darauf gehofft hat, dass sich der 3. Senat bei der Frage der Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen hiervon unbeeindruckt zeigen und der Versuchung widerstehen würde, nun seinerseits das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot dafür heranzuziehen, die von der Revisionsrechtsprechung seit längerem als unliebsam empfundenen Auswirkungen des § 274 StPO zurückzuschneiden, sah sich enttäuscht. Allzu bereitwillig nimmt der 3. Senat die Vorlage des 1. Senats auf: In seiner Antwort auf den Anfragebeschluss des 1. Senats stimmt der 3. Senat dessen Auffassung zu und gibt ebenfalls seine bisherige Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung auf.[64] Dem, so der 3. Senat, liege die Überlegung zugrunde, "dass es im Hinblick auf die neuere Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfahrensverzögerung durch offensichtlich der Justiz anzulastende Verfahrensfehler nicht mehr verantwortbar ist, ein Urteil allein wegen der unzutreffenden oder unterbliebenen Protokollierung eines Verfahrensvorgangs aufzuheben, die Revisionsentscheidung also auf einen fiktiven prozessualen Sachverhalt zu stützen."[65] Angesichts dieser lapidaren Begründung und der erwähnten Vorgeschichte, wird sich indes bei so manchem Betrachter der Eindruck einstellen, dass der 3. Senat hier weniger

rationell abgewogen, sondern mehr eine Trotzreaktion an den Tag gelegt hat.

IV. Erwiderungen auf die Argumentation des 1. Senats

Was ergibt sich nun aus alldem für das Verbot der Rügeverkümmerung? Es erscheint müßig, alle Argumente für und gegen die unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen hier im Einzelnen auszubreiten. Im Prinzip ist dazu alles gesagt worden - und zwar schon vor langer Zeit in der Entscheidung der Vereinigten Strafsenate RG in RGSt 43, 1. Seit dem ist kaum etwas Neues hinzugekommen. In der Tat dürfte es auch kaum noch möglich sein, zu diesem Thema inhaltlich Neues vorzutragen - sieht man einmal von dem vom 1. Senat ins Spiel gebrachten und von 2. und 3. Senat aufgenommenen fragwürdigen Hinweis auf das Beschleunigungsgebot ab, welches angeblich die Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen gebieten soll. Das Schicksal des Verbots der Rügeverkümmerung wird sich ohnehin nicht auf der Ebene der Argumentation pro und contra entscheiden. Es wird davon abhängen, welche grundsätzliche Einstellung gegenüber Verfahrens- und Formvorschriften im Allgemeinen und § 274 StPO im Besonderen vorherrscht. Sieht man in dieser Vorschrift - ähnlich wie etwa in den absoluten Revisionsgründen des § 338 StPO - einen Anachronismus aus dem formliebenden 19. Jahrhundert und will man es in einer Zeit (angeblich oder tatsächlich) knapper finanzieller und personeller Ressourcen in der Justiz nicht mehr hinnehmen, dass Urteile, die am Ende einer mitunter langwierigen Hauptverhandlung stehen, "nur" wegen eines bloßen Fehlers bei Abfassung des Protokolls aufgehoben werden, wird das Verbot der Rügeverkümmerung unweigerlich fallen. Pocht man hingegen auf den Eigenwert von Verfahrens- und Formvorschriften und sieht man in einer scheinbar sperrigen Vorschrift wie dem § 274 StPO einen Ausdruck eines streng formalen, rechtsstaatlichen Strafverfahrens, lässt sich Einiges für das Verbot der Rügeverkümmerung anführen. Was die bevorstehende Entscheidung des Großen Senats des BGH angeht, scheinen die Würfel angesichts der eindeutigen Positionen des 1., 2. und 3. Senats - vielleicht gesellt sich ja auch noch der 5. Senat dazu - gefallen und das Ende des Verbots der Rügeverkümmerung beschlossene Sache zu sein. Der 4. Senat, der mit seiner sorgfältigen und streng rechtsstaatlichen Argumentation an der bisherigen Rechtsprechung festhalten will, steht offenbar allein auf weiter Flur.

Hier besteht jedenfalls die Überzeugung, dass nach wie vor gute (und die besseren) Gründe für das Verbot der Rügeverkümmerung sprechen und dass andernfalls, wenn der im Anfragebeschluss des 1. Senats vorgezeichnete Weg beschritten wird, wiederum Formen des Revisionsrechts bzw. des Strafverfahrens um der Absicherung materiell richtiger Ergebnisses im Einzelfall und der Verfahrensökonomie willen aufgeweicht würden. Daher seien einige Bemerkungen gestattet:

1. Der Schutz des Revisionsführers - ein zentraler, aber vom 1. Senat vernachlässigter Aspekt

Das Verbot der Rügeverkümmerung beruht in erster Linie auf Überlegungen, in deren Zentrum der Schutz des Revisionsführers und die Gewährleistung einer gewissen Ausgewogenheit stehen. Die Regelung des § 274 StPO würde fraglos einseitig zum Nachteil des Revisionsführers ausschlagen, wenn dieser einerseits seine Verfahrensrüge innerhalb der knapp bemessenen Revisionsbegründungsfrist anbringen und dabei weiterhin wegen der ausschließlichen Beweiskraft des Protokolls, die ja auch dem Revisionsführer gegenüber gilt, auf den im Protokoll dokumentierten Verfahrensverlauf beschränkt wäre, die Urkundspersonen aber andererseits jederzeit, also auch nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist das Protokoll zu Ungunsten des Revisionsführers abändern könnten. Diesen ganz zentralen Aspekt haben das RG, der OGH und der BGH in ihren erwähnten Grundsatzentscheidungen überaus sorgfältig herausgearbeitet; und in der Tat dürfte es schwer fallen, darzulegen, wie sich bei einer Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung die Ausgewogenheit bei der Anwendung des § 274 StPO auf andere Weise sicherstellen ließe. Hier stößt man nun auf den Hinweis, der Beschwerdeführer könne gegen eine seiner Auffassung nach unberechtigte Protokollberichtigung mit einer Beschwerde vorgehen.[66] Allerdings wirkt dieser Hinweis eher schwächlich und fast schon alibihaft. Denn die Beschwerdemöglichkeiten sind hier stark eingeschränkt. Die Beschwerde ist nämlich bei gegenwärtiger Rechtslage nur in rechtlicher Hinsicht zulässig (wenn beispielsweise das für die Protokollberichtigung vorgeschriebene Verfahren nicht eingehalten worden ist, weil der Vorsitzende vor der Berichtigung den Protokollführer nicht befragt hat), nicht jedoch auch in tatsächlicher Hinsicht. Der Revisionsführer hat also gerade keine Möglichkeit, die inhaltliche Berechtigung einer Protokollberichtigung anzugreifen.[67] Detter hat in diesem Zusammenhang zwar vorgeschlagen, die Möglichkeiten, eine Protokollberichtigung zu überprüfen, auszuweiten und die letzte Entscheidung hier dem Revisionsgericht zu überlassen.[68] Doch würde dies dem Charakter der Protokollberichtigung widersprechen - ist es doch bislang stets anerkannt gewesen, dass über die Notwendigkeit einer Protokollberichtigung nur die Urkundspersonen aufgrund ihrer eigenen Erinnerung entscheiden und das Revisionsgericht seine Überzeugung vom Verfahrenshergang nicht an die Stelle derjenigen der Urkundspersonen setzen darf.[69] Im Ergebnis liefe der Vorschlag von Detter darauf hinaus, dass man kein Protokollberichtigungsverfahren mehr, sondern ein vor dem Revisionsgericht stattfinden-

des Freibeweisverfahren hätte, was aber mit § 274 StPO gerade nicht zu vereinbaren wäre.

Es ist jedenfalls erstaunlich, dass sich der 1. Senat in seinem Anfragebeschluss mit dem zentralen und herausragenden Aspekt der Chancengleichheit - der 2. und der 3. Senat gehen in ihren beipflichtenden Antworten gar überhaupt nicht hierauf ein - nur ganz knapp auseinandersetzt. Lapidar befindet der 1. Senat, "die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Nichtberücksichtigung begründet, findet im Gesetz keine Stütze."[70] Und Lampe sekundiert mit der Feststellung, der Gedanke, "dass mit Eingang einer protokollgestützten Verfahrensrüge ein vorher nicht vorhandenes subjektives Recht auf Aufrechterhaltung des falschen Scheins eines Verfahrensfehlers oder der Aufrechterhaltung der Fiktion eines Verfahrensfehlers entsteht", lasse sich nicht aus dem Wesen der Revision als formalisiertes Rechtsbeschwerdeverfahren herleiten.[71] Unabhängig davon, ob man dem Revisionsführer hier im Hinblick auf den unveränderten Fortbestand des von ihm in Anspruch genommenen Protokollinhalts tatsächlich ein "prozessuales Recht" einräumen will oder sich insoweit darauf beschränkt, von einem schützenswerten Vertrauen zu sprechen, werden solche Behauptungen jedenfalls der sorgfältigen Argumentation, wie sie das RG, der OGH und der BGH früher an den Tag gelegt haben, nicht gerecht. Man wird daher hier Fezer darin zustimmen müssen, wenn er dem 1. Senat trocken attestiert, dieser habe das "Argument der Schutzbedürftigkeit des Beschwerdeführers so oberflächlich und nachlässig dargestellt und bewertet", dass er dessen Tragweite nicht gerecht geworden sei.[72]

2. Zweifel an der Zuverlässigkeit nachträglicher Bekundungen über den Verfahrenshergang: kein "diffuses Misstrauen gegen die Redlichkeit der Urkundspersonen"

Weiterhin ist das Argument unter die Lupe zu nehmen, in dem Verbot der Rügeverkümmerung komme ein "diffuses Misstrauen gegenüber der Redlichkeit der Urkundspersonen" zum Ausdruck. Hintergrund dessen ist, dass für das Verbot der Rügeverkümmerung neben dem Gedanken des Schutzes des Revisionsführers stets auch ins Feld geführt wurde, dass nachträgliche Erklärungen der Urkundspersonen über den Verfahrensverlauf nicht hinreichend zuverlässig seien. Diese könnten sich nach längerer Zeit nicht immer an das damalige Verfahrensgeschehen erinnern. Es bestehe die Gefahr, dass das Verfahrensgeschehen im Rahmen nachträglicher Bekundungen falsch dargestellt werde. Zudem könnten die Urkundspersonen unbewusst dazu neigen, das Verfahrensgeschehen im Zweifel als prozessordnungsgemäß darstellen. Mit anderen Worten: Es ist nicht auszuschließen, dass die konkrete Erinnerung der Urkundspersonen durch die subjektive Überzeugung überlagert wird, alles werde schon seinen vorschriftsmäßigen Lauf gehabt haben.

All diese Einwände sind gewichtig, und sie müssen als solche ernst genommen werden. Es sind hier vornehmlich die Defizite menschlicher Wahrnehmung und Erinnerungsleistung angesprochen, wie sie aus der Aussagepsychologie bzw. der Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen bekannt sind. Jahn/Widmaier haben hierauf in ihrer Anmerkung zum Anfragebeschluss des 1. Senats ganz zu Recht hingewiesen: Zeugen neigten dazu Erinnerungslücken durch den Rekurs auf standardisierte und regelentsprechende Geschehensabläufe konstruktiv zu schließen.[73] Hieran kann man anknüpfen und ergänzend sagen, dass - neben Defiziten, die schon bei der Wahrnehmung selbst bestehen - insbesondere die Erinnerung und die Wiedergabe von Informationen zahlreichen Verzerrungsfaktoren unterliegen. Das menschliche Gedächtnis neigt dazu, gespeicherte Informationen mit Erfahrungs- bzw. Alltagswissen aufzufüllen und zu vermengen.[74] Zwangsläufig kommt es auf diese Weise zu Erinnerungsverfälschungen.[75] Daneben gibt es in Bezug auf die Erinnerung natürlich auch eine allgemeine "Verblassungstendenz"; die Erinnerung verblasst schlicht mit zunehmendem Zeitabstand.[76] Wie man angesichts dessen in Bezug auf die Urkundspersonen, die ja - wenn auch nicht im rechtstechnischen Sinne der StPO - hinsichtlich des Verfahrensgeschehens Zeugen sind, von einem "diffusen Misstrauen gegen ihre Redlichkeit" sprechen kann, bleibt unverständlich. Nochmals gesagt: Es geht nicht darum, die Redlichkeit von irgendjemand anzweifeln, sondern allein um die natürlichen Defizite menschlichen Erinnerungsvermögens. Und die Defizite sind bei den Urkundspersonen im gleichen Maße vorhanden, wie bei jedem anderen Menschen auch.[77]

Es hilft dann auch nicht viel, wenn Schäfer und im Anschluss der 1. Senat darauf verweisen, dass die Urkundspersonen Berichtigungserklärungen nur dann abgeben würden, wenn sie sich positiv an das Verfahrensgeschehen erinnern könnten. Damit ist doch nur die Grundvoraussetzung angesprochen, unter der eine Protokollberichtigung überhaupt erfolgen darf. Damit ist aber überhaupt nicht gesagt, dass die Berichtigungserklärungen auch richtig sind und gegen sie nicht die vorangehend aufgezeigten Bedenken bestehen. Man muss hier zwischen normativer Erwartungshandlung einerseits und der Befolgung normativer Vorgaben in der Rechtswirklichkeit andererseits differenzieren. Beides sind unterschiedliche Dinge, und zwischen beidem kann mitunter erhebliche Diskrepanz herrschen. Es ist schon etwas enttäuschend, dass der 1. Senat hierauf nicht mit einem Wort eingeht und die Zweifel, die gegen die Zuverlässigkeit nachträglicher Berichtigungserklärungen prinzipiell bestehen und

die von der Rechtsprechung ja auch früher immer ernst genommen worden sind, nicht weiter erwähnt.

In dem Kontext der mangelnden Zuverlässigkeit nachträglicher Bekundungen der Urkundspersonen steht auch die weitergehende Befürchtung, die unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigung berge ein gewisses Missbrauchspotential in sich. Der Vorsitzende, dessen Urteil angefochten werde, so sagen es Jahn/Widmaier, gerate in die Rolle dessen, der "sein" Urteil gegen den Revisionsangriff zu verteidigen habe. An die Stelle der von den Revisionsgerichten scharf kritisierten "unwahren" Verfahrensrüge des Verteidigers könnte die tendenzgetragene und damit ihrerseits "unwahre" Protokollberichtigung treten.[78] Auch Fahl[79] und Park[80] sehen wie früher schon Gollwitzer[81] in dem Verbot der Rügeverkümmerung eine Vorkehrung gegen Missbrauch seitens der Urkundspersonen, die möglicherweise der Versuchung unterliegen könnten, im Wege einer nachträglichen Protokollberichtigung die Aufhebung des angegriffenen Urteils von verhindern.

3. Die Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR zum Recht auf Verfahrensbeschleunigung - kein Argument für die Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen

Auf ebenso schwachem Untergrund wie das Argument des "diffusen Misstrauens gegen die Redlichkeit der Urkundspersonen" steht auch der Hinweis des 1. Senats auf das Beschleunigungsgebot und die einschlägige aktuelle Rechtsprechung des BVerfG. Danach sind im Falle einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Kompensation dafür, dass das Recht des Beschuldigten auf Beschleunigung des Verfahrens verletzt worden ist, Abstriche bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu machen.[82] Und für die Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, so das BVerfG, ist insbesondere die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer einzurechnen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat.[83] Der 1. Senat - der 2. und der 3. Senat folgen ihm darin - zieht hieraus nun offenbar folgende Schlussfolgerungen: Da Verfahrensfehler eigentlich immer der Justiz, namentlich dem Gericht und dem Vorsitzenden, der die Verhandlungsleitung hat, anzulasten sind, kann es angesichts der Rechtsprechung des BVerfG nicht länger hingenommen werden, das Urteile nur wegen eines im Protokoll ausgewiesenen, tatsächlich aber gar nicht geschehenen Verfahrensfehlers aufgehoben werden.

Zum Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG und zu der Missstimmung, für die die beim BGH gesorgt hat, ist schon etwas gesagt worden.[84] Hier nur noch eines: Das Argument des 1. Senats, das sich zunächst plausibel anhören mag, hat einen entscheidenden Haken. Den Entscheidungen des BVerfG, die der 1. Senat in Bezug nimmt, lagen Strafverfahren von längerer Dauer zugrunde, in denen es zu Verfahrensverzögerung gekommen und der jeweilige Beschuldigte über mehrere Jahre in Untersuchungshaft gewesen ist.[85] Im Mittelpunkt der Entscheidungen steht das individuelle Recht des Beschuldigten auf Beschleunigung des Verfahrens. Dieses Recht leitet das BVerfG aus dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 I GG sowie aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren ab. Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot wird hier somit als grundrechtlich gewährleistetes Abwehrrecht des Bürgers gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und den Belastungen, die durch ein sich lange hinziehendes Strafverfahren entstehen, verstanden. Genau dasselbe gilt für die ebenfalls vom 1. Senat angeführte Rechtsprechung des EGMR[86], die von dem in Art. 6 I 1 EMRK verankerten Anspruch auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist ausgeht. Auch Art. 6 I 1 EMRK verbürgt ein individuelles Abwehrrecht des Beschuldigten den Strafverfolgungsbehörden gegenüber.[87]

Nun ist nicht das erste Mal, dass die Rechtsprechung das verfassungs- bzw. menschenrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot gerade auch gegen den Beschuldigten bzw. die Verteidigung nutzbar machen will. Man kennt ein solches Argumentationsmuster auch aus anderen Zusammenhängen. Aus jüngster Zeit fällt da eine Entscheidung des 5. Senats ein. Dieser hält es für erwägenswert, in "extrem gelagerten" Fällen, das Recht, Beweisanträge zu stellen, einzuschränken. Denn, so der 5. Senat, "die mit zunehmender Verfahrensdauer immer wichtiger werdenden Gebote der Beschleunigung des Verfahrens, insbesondere in Haftsachen (…)" geböten es, "nach monate-, gar jahrelanger Verfahrendauer (…) nach einer verfahrensrechtlich vertretbaren Möglichkeit zu suchen, die Hauptverhandlung - allerdings unter fortdauernder Wahrung unverzichtbarer Verteidigungsinteressen - zu einem Abschluss zu bringen."[88] Zuvor wurde versucht die Rücknahme der Bestellung eines Pflichtverteidigers, dessen Art der Verhandlungsführung vom Tatgericht als störend und verfahrensverzögernd empfunden worden war, damit zu begründen, es liege auch im Inte-

resse des Angeklagten, der ein "Recht auf die Durchführung eines fairen Verfahrens und vornehmlich auf eine gerichtliche Entscheidung" habe, die Beiordnung "des das Verfahren blockierenden Verteidigers zurückzunehmen (…)."[89] Auch bei der Bestellung eines "Zwangverteidigers" neben einem Wahlverteidiger gegen den Willen des Beschuldigten zum Zwecke der Verfahrensicherung, insbesondere um eine zügige Durchführung des Verfahrens zu erreichen, wird bisweilen auf das Beschleunigungsgebot hingewiesen.[90] Schon in diesen Fällen ist kritisiert und angemahnt worden, hier würden "Schutzrechte des Bürgers gegen diesen gekehrt"[91] bzw. das "vorrangig dem Interesse des Angeklagten dienende Beschleunigungsgebot" könne nicht dazu dienen, "prozessuale Rechte des Angeklagten gegen dessen ausdrücklich erklärten Willen zu verkürzen."[92] Gleiches gilt nun auch für das Verbot der Rügeverkümmerung. Die Abschaffung dieses so viele Jahrzehnte lang geltenden und maßgeblich auch dem Schutz des Revisionsführers verpflichteten Grundsatz nun gerade auf das verfassungs- (Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) bzw. menschenrechtlich verankerte (Art. 6 I 1 EMRK) Beschleunigungsgebot zu stützen, liefe in der Tat darauf hinaus, dass sich ein individuelles Abwehrrecht des Bürgers gegen ihn selbst wendet. Die aktuelle Rechtsprechung des BVerfG zum verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot bekäme damit eine ganz neue Pointe - freilich eine solche, die vom BVerfG wohl kaum beabsichtigt wäre.

4. Materielle Gerechtigkeit um jeden Preis?

Ein letztes Wort noch zu der von Befürwortern einer unbeschränkten Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen immer wieder beschworenen materiellen Gerechtigkeit: Es steht der Strafjustiz hier prinzipiell nicht gut an, rechtsstaatliche Positionen um der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit willen oder aus dem Bemühen um Ressourceneinsparung heraus aufzugeben. Eine Strafjustiz, die meint, sich die penible Einhaltung von Verfahrens- und Formvorschriften nicht mehr leisten zu können, büßt zu einem Teil ihrer Glaubwürdigkeit und Legitimation ein. Hamm hat erst kürzlich wieder eindringlich in Erinnerung gerufen, dass es die Formen bzw. die Formstrenge des Strafprozesses sind, die der Strafjustiz die Legitimation geben, einen Angeklagten zu verurteilen, eine Freiheitsstrafe gegen ihn zu verhängen und damit massiv in seine Grundrechte einzugreifen.[93]

Die Verfahrens- und Formvorschriften der StPO sind also keine Verhandlungsmasse, die mit Zwängen zur Ressourceneinsparung oder der Durchsetzung von materieller Gerechtigkeit im Einzelfall aufgewogen werden kann. Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck, und sie haben nicht nur dienende Funktion. Die formalen Vorschriften haben vielmehr ihre eigenständige Bedeutung, weil sie es sind, durch die ein rechtsstaatliches Strafverfahren erst realisiert wird.[94] Der Kern des Rechtsstaatsgedankens liegt ja darin, die Macht des Staates zu beschränken und ihre Ausübung an gesetzliche Regeln zu binden,[95] um so den von staatlicher Machtausübung Betroffenen vor staatlicher Willkür zu schützen. Im Strafprozess, in dem staatliche Macht dem Bürger in so geballter Form gegenübertritt, gilt dies ganz besonders. Und die größte Errungenschaft unseres rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist es gewesen, richterliche Willkür, die zuvor viele Jahrhunderte lang der große Makel des Strafprozesses gewesen ist, ausgeschaltet zu haben. Strenge, staatliche Organe bindende Regeln und Formen sind daher auch immer Schutzrechte des Bürgers. Wenn nun die Bindung an eben diese Formen gelockert wird, um als materiell richtig und gerecht erachtete Ergebnisse durchzusetzen und um prozessökonomisch zu verfahren, dann beginnt das rechtsstaatliche Fundament zu bröckeln.[96] Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, es sei viel zu hoch gegriffen, die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens schon dadurch gefährdet zu sehen, dass nachträgliche Protokollberichtigungen nunmehr für beachtlich erklärt werden, um so "unnötige" Urteilsaufhebungen vermeiden zu können. So sehr dieser Einwand, die Kirche sozusagen im Dorf zu lassen, auf den ersten Blick richtig sein mag und so weit der Niedergang des rechtsstaatlichen Strafverfahrens entfernt wäre, sollte das Verbot der Rügeverkümmerung fallen, geht doch von dem im Strafverfahrensrecht, speziell im Revisionsrecht, ganz allgemein spürbaren Bedeutungsverlust der Verfahrensvorschriften[97] und dem Abbau von Verfahrenspositionen - wie jetzt beim Verbot der Rügeverkümmerung - zumindest ein falsches Signal aus. Es fragt sich, ob die nötige Sensibilität im Umgang mit Verfahrensvorschriften überall noch in dem erforderlichen Maße vorhanden ist.

Zudem befindet man sich langfristig auf einem Irrweg, wenn man sich allzu sehr darauf konzentriert, im Einzelfall materiell richtige Ergebnisse herzustellen bzw. abzusichern. Die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und damit die Rechtssicherheit - auch ein Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit[98] - leiden hierunter. Schon jetzt werfen viele Kritiker der Revisionsrechtsprechung vor, sie sei zu unübersichtlich und oftmals nur schwer berechen-

bar und nachvollziehbar; das eben ist die zwangsläufige Folge einer zu starken Fokussierung auf den Einzelfall. Aber auch, wenn man sich von dem Aspekt der Rechtssicherheit löst und sich auf die Idee der materiellen Gerechtigkeit einlässt, stößt man schnell auf Grenzen und offene Fragen. Man darf zumindest Bedenken anmelden, wenn etwa der 2. Senat im Zusammenhang mit dem Wunsch, nachträgliche Protokollberichtigungen im Revisionsverfahren unbeschränkt berücksichtigen zu können, sagt, hierdurch würden "gerechtere Ergebnisse" erzielt[99], oder Schäfer seine Forderung, § 274 StPO ganz abzuschaffen, mit der Behauptung abschließt, dass so die "Akzeptanz revisionsgerichtlicher Entscheidungen in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt bei den Verfahrensbeteiligten" erhöht würde.[100] Die Bedenken ergeben sich deshalb, weil Gerechtigkeit nicht von vornherein vorgegeben ist und feststeht. Gerechtigkeit ist vielmehr etwas, an das man sich im Wege eines regelgeleiteten Verfahrens herantastet und annähert, und sie ist etwas, über das ganz unterschiedliche Auffassung bestehen können - unter den Beteiligten an einem Strafverfahren allemal. Es fragt sich somit, ob sich die Idee von der materiell gerechten Entscheidung im Sinne der einzig richtigen Entscheidung, um derentwillen notfalls auch formale Regeln zurücktreten müssten, ohne weiteres aufrechterhalten lässt.[101] Hier spricht Vieles dafür - eben weil die Vorstellungen darüber, was in der Sache richtig und gerecht ist, weit auseinander gehen können -, Gerechtigkeit nicht einen ausschließlich materiellen Gehalt zu geben, sondern Gerechtigkeit (auch) darin verwirklicht zu sehen, dass ein Ergebnis im Wege eines Verfahrens mit für alle Beteiligten festen und unverfügbaren Regeln erzielt wird.[102] Es lässt sich insoweit von Verfahrensgerechtigkeit sprechen, wobei nun keineswegs gesagt ist - und das sagen auch nicht diejenigen, zumindest nicht alle, die die Verfahrensgerechtigkeit betonen[103] -, dass materielle Aspekte keine Rolle mehr spielen würden; sie bleiben natürlich wichtig. Keineswegs ist es so, dass der Inhalt einer Entscheidung beliebig ist und es ganz allein auf darauf ankommt, dass die Verfahrensregeln eingehalten werden. Das wäre vielleicht ein zu nüchternes Verständnis des Rechts. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass ein verzerrtes Bild entsteht, wenn man auf der einen Seite das Ideal der materiellen Gerechtigkeit entwickelt und dem auf der anderen Seite dessen Bedrohung durch angeblich unnötigen und übertriebenen Formalismus gegenüberstellt. Entgegen einem verbreiteten Verständnis, wonach strenge und starre Verfahrensvorschriften einer gerechten Entscheidung im Wege stehen können, ist daher zu sagen, dass erst dann, wenn Verfahrensregeln genauestens eingehalten werden, ein Ergebnis von allen Beteiligten als gerecht empfunden werden kann.[104] Und die Regeln des Strafprozesses sind nun einmal die Verfahrens- und Formvorschriften der StPO, deren Beachtung das Gesetz verlangt bzw. deren Nichtbeachtung es sanktioniert - etwa in Form, der zwingend zur Urteilsaufhebung führenden absoluten Revisionsgründe, wenn beispielsweise Anwesenheitsrechte oder die Grundsätze der Öffentlichkeit verletzt worden sind, oder auch in Form der absoluten Beweiskraft des Protokolls, die mitunter ebenfalls eine Urteilsaufsaufhebung zur Folge haben kann, wenn die Pflicht zur Protokollierung der wesentlichen Förmlichkeiten nachlässig erfüllt worden ist. Deshalb kann man abschließend Hamm in dem Folgenden nur beipflichten: "Wer die Formenstrenge des Strafverfahrensrechts als reine Förmelei oder hohlen Formalismus verspottet, hat nichts von dem Gerechtigkeit stiftenden Sinn und Zweck der Bindung aller Prozessbeteiligten an möglichst unflexible Regeln verstanden."[105]

V. Schlussbemerkung

Wenn nun ungeachtet der hier dargelegten Bedenken das Verbot der Rügeverkümmerung kippen sollte, was sich ja angesichts der Mehrheit bestehend aus 1., 2. und 3. Senat abzeichnet, ist die Rechtsprechung dringend dazu aufgerufen, Mechanismen zu entwickeln, die sicherstellen, dass die legitimen Interessen des Revisionsführers und der Verteidigung nicht noch mehr beeinträchtigt werden, und die dem nicht von der Hand zu weisenden Missbrauchspotential, welches nachträgliche Protokollberichtigungen in sich bergen, von vornherein begegnen. Hierzu gehört mindestens eine gewisse Förmlichkeit des Protokollberichtigungsverfahrens mit - dies verlangt auch der 4. Senat[106] - einem Anhörungs- und Erklärungsrecht des Revisionsführers. Und man wird sich hier auch ernsthaft Gedanken darüber machen müssen, was der 4. Senat als weitere Voraussetzungen fordert, sollte das Verbot der Rügeverkümmerung fallen: "Rügevernichtende Protokollberichtigungen" sollten weiterhin nur dann zugelassen werden, wenn keiner von den angehörten Verfahrensbeteiligten "eine im Vergleich zu dem zu berichtigenden Protokoll substantiiert andere Erinnerung an den Verfahrensablauf geltend macht."[107] Ob es, um die skizzierten Schutzmechanismen zu realisieren, einer eigenen gesetzlichen Ausgestaltung des Protokollberichtigungsverfahrens bedarf, wie Fezer dies in Anlehnung an Reformentwürfe aus der Vergangenheit vorschlägt[108], ist fraglich. Die Verteidigung wird sich jedenfalls auf eine veränderte Situation einzustellen haben. Es ist damit zu rechnen, dass häufiger als bislang schon über die inhaltliche Richtigkeit des Protokolls, auf welches eine

entsprechende Verfahrensrüge gestützt worden ist, nachträglich diskutiert wird. Die Verteidigung wird dann versuchen müssen, ihre Position im Rahmen des Protokollberichtigungsverfahren zu wahren und gegebenenfalls durch eine eigene Stellungnahme Einfluss zu nehmen, indem sie ihre Sicht in Bezug auf den im konkreten Fall in Frage stehenden Verfahrensvorgang aus der tatrichterlichen Verhandlung darlegt. Das setzt wiederum voraus, dass - was schon jetzt empfohlen wird[109] - die Verteidigung während der laufenden Hauptverhandlung eigene Aufzeichnungen über den Verfahrensverlauf anfertigt, um diese später vorlegen zu können.


* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Barton (Universität Bielefeld) und promoviert über die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) und die sich daraus ergebenden revisionsrechtlichen Fragen.

[1] BGH HRRS 2006 Nr. 185 = JR 2006, 162 (mit Anmerkung von Jahn/Widmaier) = NStZ-RR 2006, 112 = StV 2006, 287 (mit Anmerkung von Fezer) = wistra 2006, 231.

[2] BGH HRRS 2006 Nr. 31 = NStZ 2006, 181 = StV 2006, 286 = StraFo 2006, 75.

[3] Siehe den Artikel in den der Süddeutschen Zeitung vom 11.08.2006, S. 8, mit einer freilich etwas vereinfachten und einseitigen Darstellung der Thematik.

[4] Dazu Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozessordnung, Erste Abteilung, Berlin 1880, S. 258.

[5] RGSt 2, 76, 77 f.

[6] Zu dieser Bezeichnung siehe z.B. Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., § 49 Rn. 10 sowie Ott, Die Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls im Strafverfahren und das Verbot der Rügeverkümmerung, 1970. Ausführlich zur Entwicklungsgeschichte des Verbots der Rügeverkümmerung Ott, a.a.O., S. 45-66; weiterhin Fahl, Rechtmissbrauch im Strafprozess, 2004, S. 668-675 sowie die Überblicke bei Tepperwien, Die unwahre Verfahrensrüge - unzeitgemäßer Sieg der Form?, in: Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, 2001, S. 595, 602 f.; Ventzke, StV 1999, S. 190, 192 f. und im Anfragebeschluss des 1. Senats BGH HRRS 2006 Nr. 185 = JR 2006, 162, 163 ff. = NStZ-RR 2006, 112, 113 f. = StV 2006, 287, 288 f. = wistra 2006, 231.

[7] Näher dazu Ott, S. 46-53.

[8] RGSt 43, 1, 8.

[9] RGSt, a.a.O., 9.

[10] RGSt, a.a.O.

[11] So z.B. in RGSt 59, 429, 431 und 63, 408, 410 f. Zu weiteren einschlägigen reichsgerichtlichen Entscheidungen Ott, a.a.O., S. 58 f.

[12] RGSt 70, 241, 242.

[13] Näher dazu Ott, a.a.O., S. 62 f. sowie Tepperwien, a.a.O., S. 603 und Ventzke, StV 1999, S. 190, 193.

[14] OGHSt 1, 277, 280.

[15] BGHSt 2, 125, 127.

[16] BGH, a.a.O., 128.

[17] OGHSt 1, 277, 281.

[18] BGH, Beschluss vom 30.05.2001 - 1 StR 99/01.

[19] BGHSt 36, 354, 358.

[20] Einen ausführlichen Überblick über die Diskussion gibt Fahl, a.a.O, S. 685 ff. Während die berufsrechtliche Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge früher sehr kontrovers diskutiert wurde, ist es seit Längerem vorherrschende Auffassung, dass die unwahre Verfahrensrüge keinen berufsrechtlichen Verstoß darstellt; vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl., Rn. 918; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 6. Aufl., Rn. 490; Karlsruher Kommentar (StPO)-Laufhütte, 5. Aufl., vor § 137 Rn. 10; Kempf, in: Brüssow u.a. (Hrsg.) Strafverteidigung in der Praxis, 3. Aufl., § 1 Rn. 69; Park, StraFo 2004, S. 335, 338; Sarstedt/Hamm, 6. Aufl., Rn. 292 sowie aus der berufsrechtlichen Literatur Feuerich/Weiland, 6. Aufl., § 43a Rn.42; Henssler/Prütting-Eylmann, 2. Aufl., § 43a Rn. 116. Anderer Auffassung sind aber auch heute noch z.B. Detter, StraFo 2004, S. 329 und Tepperwien, a.a.O., 598 ff.

[21] Am deutlichsten in BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21 = NStZ 1999, 424 = StV 1999, 582 (mit Anmerkung von Docke/von Döllen/Momsen). Siehe auch BGHR StPO § 274 Beweiskraft 24 = NStZ-RR 2002, 530 (bei Becker) = StV 2002, 530; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 = NStZ 2000, 216; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 27 = NStZ 2004, 451 = StV 2004, 297 und BGHR StPO § 274 Beweiskraft 25 = NJW 2001, 3794 = NStZ 2002, 270 (mit Anmerkung von Fezer) = StV 2002, 525 (mit Anmerkung von Köberer).  

[22] BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 = NStZ 2000, 216, 217.

[23] BGHR StPO Beweiskraft 25 = NJW 2001, 3794 = NStZ 2002, 270 = StV 2002, 525.

[24] BGHSt 10, 342, 243; BGHR StPO § 274, Beweiskraft 8; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl., S. 890; LR-Gollwitzer, 25. Aufl., § 271 Rn. 49 sowie § 274 Rn. 27.

[25] BGH NJW 2001, 3794, 3796.

[26] BGH HRRS 2005 Nr. 134 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 = NStZ 2005, 281 = StV 2005, 256 (mit Anmerkung von Park).

[27] Aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung z.B. RGSt 64, 408 sowie RG JW 1931, 2824 und JW 1933, 2397; aus der Rechtsprechung des BGH z.B. BGHSt 17, 220, 222 sowie MDR 1952, 659; JR 1961, 508; NJW 1976, 977. Siehe zu weiteren Nachweisen Alsberg/Nüse/Meyer, S. 890 f. (dort Fn. 59) und Löwe/Rosenberg-Gollwitzer, § 274 Rn. 23 (dort Fn. 81) und Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 49. Aufl., § 274 Rn. 17.

[28] BGHSt 17, 220, 222; BGH MDR 1969, 195; BGH MDR 1974, 548; BGH NStZ 1986, 374; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 13; BGH NStZ 1993, 51, 52; Alsberg/Nüse/Meyer, S. 890 f.; Karlsruher Kommentar-Engelhardt, § 274 Rn. 8; LR-Gollwitzer, § 274 Rn. 24; Meyer-Goßner, § 274 Rn. 17.

[29] Siehe vor allem die heftig kritisierte Entscheidung des 2. Senats BGHR StPO § 274 Beweiskraft 25 = NJW 2001, 3794 = NStZ 2002, 270 = StV 2002, 525 sowie z.B. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 12 = JR 1992, 510 = NStZ 1992, 333; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 16 = NStZ 1995, 356 = StV 1995, 230; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21 = NStZ 1999, 424 = StV 1999, 582; BGH StV 1999, 639 = NStZ-RR 2000, 37 (bei Kusch); BGH NStZ 2000, 546 = StV 2001, 219; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 26 = NStZ 2003, 320 und BGH HRRS 2005 Nr. 822 = NStZ 2006, 117.

[30] Daher stößt die neuere Rechtsprechung auch auf deutliche Ablehnung aus der Literatur. Siehe z.B. Docke/von Döllen/Momsen, StV 1999, S. 583 ff.; Fezer, NStZ 2002, S. 272 f.; Köberer, StV 2002, S. 527 ff.; Park StraFo 2004, S. 335, 338 ff.; Ventzke StV 1999, S. 190 ff. und ders. StV 2004, S. 300 ff.

[31] Schäfer, Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Verhandlungsprotokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, 2000, S. 707 ff.

[32] Schäfer, a.a.O., S. 710.

[33] Schäfer, a.a.O., S. 718.

[34] Schäfer, a.a.O., S. 717.

[35] Detter , a.a.O., S. 333.

[36] Siehe die in Fußnote 30 genannten Autoren sowie Kühne, Strafprozessrecht, 6. Aufl., Rn. 974.

[37] Tepperwien, a.a.O., S. 595 ff.

[38] Tepperwien, a.a.O., S. 604.

[39] BGH HRRS 2004 Nr. 808 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 28 = NStZ 2005, 46 = StV 2004, 638, 639.

[40] BGH HRRS 2005 Nr. 134 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 = NStZ 2005, 281 = StV 2005, 256, 257.

[41] So in seiner Antwort auf den Anfragebeschluss des 1. Senat, BGH HRRS 2006 Nr. 513 (dort Rn. 7 mit Verweis auf Fezer, NStZ 2002, S. 272 f.).

[42] So auch ausdrücklich Schäfer, a.a.O., S. 725 ff., der ansonsten kein gutes Haar an der Regelung des § 274 StPO lässt.

[43] Urteil des 3. Senats vom 11.08.2006 - 3 StR 284/05 = HRRS 2006 Nr. 713; siehe dazu die Pressemitteilung Nr. 115/06 (abrufbar auf den Internetseiten des Bundesgerichtshofs). Die schriftliche Begründung der Entscheidung lag bei Abschluss dieses Beitrags noch nicht vor.

[44] BGH HRRS 2006 Nr. 185 = JR 2006, 162, 165 f. = NStZ-RR 2006, 112, 115 = StV 2006, 287, 289 f. In diesem Sinne schon zuvor der 2. Senat in BGH HRRS 2005 Nr. 134 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 = NStZ 2005, 281 = StV 2005, 256, 257.

[45] Siehe z.B. BVerfG NJW 2003, 2897, 2898 und HRRS 2005 Nr. 900 = StV 2006, 73, 77.

[46] BGH HRRS 2006 Nr. 185 = JR 2006, 162, 165 = NStZ-RR 2006, 112, 114 = StV 2006, 287, 289.

[47] BGH, a.a.O.

[48] BGH HRRS 2006 Nr. 31 = NStZ 2006, 181 = StV 2006, 286 = StraFo 2006, 75, 76 (Anführungszeichen im Original. Der 1. Senat stellt hier auf eine Formulierung aus der früheren Grundsatzentscheidung BGHSt 2, 125, 127 ab).

[49] Siehe oben II.2.e).

[50] BGH HRRS 2006 Nr. 31 = NStZ 2006, 181 = StV 2006, 286 = StraFo 2006, 75, 76 (Anführungszeichen im Original unter Hinweis auf Schäfer, a.a.O., S. 718).

[51] BGH HRRS 2006 Nr. 513.

[52] BGH, a.a.O., Rn. 5 und 6.

[53] BGH HRRS 2006 Nr. 545.

[54] BGH, a.a.O., Rn. 16-19.

[55] BGH, a.a.O., Rn. 16.

[56] BGH, a.a.O., Rn. 22.

[57]BGH, a.a.O., Rn. 23 ff.

[58]BGH, a.a.O., Rn. 28 ff.

[59] BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 = NStZ 2000, 216; dazu schon oben II.2.c).

[60] BGH HRRS 2006 Nr. 561.

[61] Von Harms zu Basdorf.

[62] BGH HRRS 2004 Nr. 808 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 28 = NStZ 2005, 46 = StV 2004, 638; dazu schon oben II.2.f).

[63] BVerfG HRRS 2005 Nr. 900 = StV 2006, 73 ff.

[64]BGH 3 ARs 1/06.

[65]BGH, a.a.O.

[66] So BGH HRRS 2006 Nr. 513, Rn. 6 und Lampe, NStZ 2006, S. 366, 368.

[67] Zu den eingeschränkten Beschwerdemöglichkeiten OLG Düsseldorf 1985, 359 f.; OLG Frankfurt StV 1993, 463; Dahs, a.a.O., Rn. 843; Löwe/Rosenberg-Gollwitzer, § 271 Rn. 66, 67.

[68] Detter , a.a.O., S. 333.

[69]OLG Düsseldorf StV 1985, 359 f.; OLG Frankfurt StV 1993, 463; Dahs, a.a.O., Rn. 843; Karlsruher Kommentar-Engelhardt, § 271 Rn. 21; Löwe/Rosenberg-Gollwitzer, § 271 Rn. 68.

[70]BGH HRRS 2006 Nr. 185 = JR 2006, S. 162, 165 = NStZ-RR 2006, 112, 114.

[71] Lampe , a.a.O., S. 367.

[72] Fezer , StV 2006, S. 290.

[73] Jahn/Widmaier, JR 2006, S. 166, 167.

[74] Barton , Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, in: ders. (Hrsg.), Redlich aber falsch, S. 23, 37.

[75] Hierzu auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 4. Aufl., Rn. 1374 ff.

[76] Barton , a.a.O., S. 36.

[77] So auch der 4. Senat, BGH HRRS 2006 Nr. 545, Rn. 23 ff.

[78] Jahn/Widmaier, JR 2006, S. 166, 167 (Anführungszeichen im Original). Diesen Aspekt greift auch der 4. Senat auf, BGH HRRS 2006 Nr. 545, Rn. 27.

[79] Fahl, a.a.O., S. 675 und 680.

[80] Park, StV 2005, S. 257, 259.

[81] Gollwitzer, JR 1980, S. 518, 519.

[82] Vgl. BVerfG NJW 2003, 2897; NJW 2005, 3485, 2486; HRRS 2005 Nr. 900 = StV 2006, 73, 76.

[83] BVerfG NJW 2003, 2897; HRRS 2005 Nr. 900 = StV 2006, 73, 76.

[84] Siehe oben III.2.d).

[85] BVerfG NJW 2003, 2897 und NJW 2005, 3485 sowie der zweite Kammerbeschluss in dieser Sache HRRS 2005 Nr. 600 = StV 2006, 73.

[86] Namentlich die Entscheidung EGMR NJW 2002, 2856.

[87] Vgl. Gaede, wistra 2004, S. 166, 168, der betont, dass es sich bei dem Recht auf Verfahrensbeschleunigung des Art. 6 I 1 EMRK um ein Individualrecht handelt.

[88] BGH HRRS 2005 Nr. 543 = NJW 2005, 2466, 2468 = NStZ 2005, 648, 649 = StV 2006, 113, 115 (mit Anmerkung von Dahs).

[89] Das OLG Nürnberg hat einer solchen Argumentation allerdings zu Recht eine Absage erteilt, OLG Nürnberg StV 1995, 287, 288 (mit Anmerkung von Barton ).

[90] Dazu Neumann, NJW 1991, S. 264, 265 m.w.N.

[91] So Ventzke, HRRS 2005, S. 233, 235 für die genannte Entscheidung des 5. Senats.

[92] So Neumann, a.a.O., für den aufgezwungenen Pflichtverteidiger.

[93] Hamm, NJW 2006, S. 2084, 2086.

[94] Näher zu der aus der Rechtsstaatlichkeit folgenden Notwendigkeit der formalen Anwendung von prozessualen Regeln im Strafverfahren Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, 1980, S. 46.

[95] Vgl. Müller, a.a.O.

[96] Müller, a.a.O., S. 41.

[97] Zum zunehmenden Bedeutungsverlust des Verfahrensrechts und der Verfahrensrüge Barton , Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999, S. 148 f. (Grafik 64) und 110 (Grafik 44) bzw. 112 (Grafik 47) sowie S. 150 (Tabelle 59); Fezer, Pragmatismus und Formalismus in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung: in Festschrift für Ernst-Walter Hanack, 1999, S. 331, 349; Schlothauer, StraFo 2000, S. 289, 293.

[98] Vgl. Müller, a.a.O., S. 44.

[99] BGH HRRS 2005 Nr. 134 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 = NStZ 2005, 281 = StV 2005, 256, 257.

[100] Schäfer, a.a.O., S. 729.

[101] Wohl kaum, wie beispielsweise Neumann, Legitimationsprobleme bei Rechtsprechungsänderungen, in: KritV (Hrsg.), Sonderheft zum 60. Geburtstag von Winfried Hassemer, 2000, S. 155, 157 ff., aufzeigt.

[102] Dazu Barton , StV 2004, S. 332, 339 f.

[103] Vgl. Neumann, a.a.O., S. 159.

[104] Siehe insoweit auch den Satz von Neumann, a.a.O., S. 158 (und dort in Fn. 36): "Denn die in einer Rechtsordnung anerkannten Rechtsregeln und Rechtsprinzipien sind keine Hilfsmittel der Erkenntnis, mit denen sich eine vorgegebene richtige Entscheidung mehr oder weniger wirklichkeitsgetreu ermitteln ließe, sondern für diese Entscheidung konstitutiv."

[105] Hamm, a.a.O.

[106] BGH HRRS 2006 Nr. 545, Rn. 36.

[107] BGH, a.a.O.

[108] Fezer, StV 2006, S. 290, 292.

[109] Ventzke , StV 2004, S. 300, 301.