HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2006
7. Jahrgang
PDF-Download

III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

713. BGH 3 StR 284/05 - Urteil vom 11. August 2006 (Kammergericht Berlin)

Rechtsmissbrauch (bewusst wahrheitswidrige Verfahrensrüge; unwahre Protokollrüge; allgemeines Missbrauchsverbot); Beweiskraft des Sitzungsprotokolls (Verfahrensverstoß; als unrichtig erkanntes Protokoll; berichtigtes Protokoll; Wahrheit; Waffengleichheit; Beweisregel); Beschränkung der Öffentlichkeit (pauschales Zutrittsverbot für bestimmte Personenkreise); Aussetzung des Verfahrens (gerichtliche Sachaufklärungspflicht; Rücksichtnahme auf die Belange der Verteidigung; faires Verfahren; Sperrung eines Zeugen); Alternativrüge; Strafzumessung (Beweisverbot; Verwertung getilgter Vorverurteilungen).

§ 274 StPO; § 175 Abs. 1 GVG; § 338 Nr. 6 StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; Art. 6 EMRK; § 96 StPO; § 51 Abs. 1 BZRG

1. Ein Beschwerdeführer, der bewusst wahrheitswidrig einen Verfahrensverstoß behauptet und sich zum Beweis auf ein als unrichtig erkanntes Protokoll beruft, handelt rechtsmissbräuchlich; seine Rüge ist unzulässig. (BGHSt)

2. Dies gilt auch, wenn er das sichere Wissen von der Unwahrheit erst nachträglich erlangt, die Rüge jedoch gleichwohl weiterverfolgt. (BGHSt)

3. Auch im Strafprozess gilt ein allgemeines Missbrauchsverbot. Ein Missbrauch prozessualer Rechte ist anzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Strafprozessordnung eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange benutzt, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen. (Bearbeiter)

4. Ein missbräuchliches Verhalten wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Erhebung einer bewusst wahrheitswidrigen Verfahrensrüge sich auf die Beweiskraft eines - als fehlerhaft erkannten - Protokolls stützen kann. Denn durch § 274 StPO wird keine "prozessuale Wahrheit" geschaffen. Die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO verändert nicht die Tatsachen, macht aus Unwahrheit keine Wahrheit; die Vorschrift enthält vielmehr eine Beweisregel. (Bearbeiter)


Entscheidung

702. BGH 3 StR 216/06 - Beschluss vom 11. Juli 2006 (LG Hannover)

Entscheidung über Vereidigung eines Zeugen (Abwesenheit des Angeklagten; Revision); BGHSt.

§ 247 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

1. Entscheidet der Vorsitzende, dass ein Zeuge entsprechend dem Regelfall des § 59 StPO in der Fassung des 1. Justizmodernisierungsgesetzes nicht vereidigt werden soll, und wird diese Frage weder kontrovers erörtert noch zum Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO gemacht, so ist, wenn der für die Vernehmung nach § 247 StPO aus dem Sitzungssaal entfernte Angeklagte dabei nicht anwesend ist, dieser Verfahr-

ensvorgang kein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung und der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht gegeben. (BGHSt)

2. Der Senat lässt offen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen dies auch für den Fall gilt, dass der Vorsitzende an sich die Vereidigung für geboten erachtet, hiervon jedoch absieht, weil er eines der Vereidigungsverbote nach § 60 StPO für gegeben hält. (Bearbeiter)


Entscheidung

701. BGH 3 StR 199/06 - Urteil vom 3. August 2006 (LG Lübeck)

Schiebetermin (Förderung des Verfahrens; Verlesung einer Urkunde); Hauptverhandlung (Aussetzung; Unterbrechung); Konzentrationsmaxime; Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgrundsatz; Verpflichtung von Verteidigern, Termine zu verschieben und Einschränkungen der Verteidigerauswahl bei der Pflichtverteidigung).

§ 229 StPO; Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Zur Wahrung der Unterbrechungsfrist nach § 229 Abs. 1 StPO durch "Schiebetermine" im Hinblick auf die Verlängerung der Frist von zehn Tagen auf drei Wochen durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz. (BGHR)

2. Eine Hauptverhandlung gilt dann im Sinne des § 229 Abs. 4 StPO als fortgesetzt und muss nicht wegen Überschreitung der Frist des § 229 Abs. 1 StPO ausgesetzt werden, wenn in dem Fortsetzungstermin zur Sache verhandelt und das Verfahren gefördert wird. (Bearbeiter)

3. Es kann offen bleiben, ob die Verlängerung der Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO von zehn Tagen auf drei Wochen durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz zu einer Änderung der Rechtsprechung zu "Schiebeterminen" in bestimmten Konstellationen Anlass geben mag. Eine strengere Handhabung kommt jedenfalls für solche Fälle nicht in Betracht, in denen durch eine - wenn auch nur kurze - Verhandlung das Verfahren in der Sache selbst gefördert worden ist, namentlich eine Beweisaufnahme stattgefunden hat. (Bearbeiter)

4. Die Verlesung einer Urkunde, insbesondere auch eines Bundeszentralregisterauszugs, ist Teil der erforderlichen Beweisaufnahme zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten. Sie bringt das Verfahren voran und stellt sich als Sachverhandlung im Sinne einer fristwahrenden Fortsetzungsverhandlung dar, soweit sie nicht willkürlich auf mehrere Sitzungstage verteilt oder lediglich wiederholt wird. (Bearbeiter)

5. Für die Frage, ob zur Sache verhandelt und das Verfahren gefördert worden ist, kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob noch weitere verfahrensfördernde Handlungen möglich gewesen wären und der Fortsetzungstermin auch der Einhaltung der Unterbrechungsfrist diente. (Bearbeiter)

6. Unabhängig von den nach § 229 StPO eröffneten Unterbrechungsmöglichkeiten ist bei der Terminierung einer Hauptverhandlung das in Art. 5 Abs. 3 Satz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK normierte Beschleunigungsgebot zu beachten. Dessen Verletzung kann insbesondere in Haftsachen auch in einer nicht mehr sachgerechten, zu lang gestreckten Terminierung gesehen werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

767. BGH 1 StR 50/06 - Urteil vom 9. August 2006 (LG München)

Ablehnungsgesuch (Besorgnis der Befangenheit im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen [der Zusammenarbeit] der Vorsitzenden Richterin mit einer Boulevardzeitung anlässlich des vorliegenden Verfahrens [Ehrverletzungen; mangelnde Offenlegung einer vorherigen Vorlage eines Artikels über den Prozess]; Prüfung nach Beschwerdegrundsätzen); Akteneinsichtsrecht (Aktenvollständigkeit; faires Verfahren; Fürsorgepflicht); Untreue ("Fall Wildmoser"); Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr (Vorteil).

Art. 6 EMRK; § 266 StGB; § 299 Abs. 1 StGB; § 338 Nr. 3 StPO; § 24 Abs. 2 StPO; § 147 StPO

1. Allein der Umgang eines erkennenden Richters mit der Presse begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit, selbst dann nicht, wenn das Verhalten des Richters persönlich motiviert oder sogar unüberlegt war.

2. Maßstab für die Besorgnis der Befangenheit ist vielmehr, ob er den Eindruck erweckt, er habe sich in der Schuld- und Straffrage bereits festgelegt (vgl. BGH wistra 2002, 267, 268). Dies ist grundsätzlich vom Standpunkt des Angeklagten aus zu beurteilen. Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters ist dann gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Zunächst berechtigt erscheinendes Misstrauen ist nach umfassender Information über den zugrunde liegenden Vorgang möglicherweise gegenstandslos (vgl. BGHSt 4, 264, 269 f.; BGH NStZ-RR 2004, 208 jeweils m.w.N.).


Entscheidung

765. BGH 1 StR 147/06 - Beschluss vom 27. Juli 2006 (LG München)

Darlegungspflichten bei der Verfahrensrüge (schlüssige Behauptung einer Rechtsverletzung bei der Verfahrensrüge; Unzulässigkeit der hilfsweise erhobenen Verfahrensrüge); Anwesenheit des Verteidigers (absoluter Revisionsgrund; wirksame Untervollmacht beim Pflichtverteidiger); Revisionsbegründungsfrist (zurückgehaltene Untervollmachtsurkunde); Untervollmachtsklausel in AGB; Vertrauensschutz im Strafverfahren.

§ 338 Nr. 5 StPO; § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO; § 141 StPO; § 140 StPO; § 145 StPO; § 345 StPO; § 305c Abs. 1 BGB

1. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erfordert die schlüssige tatsächliche Behauptung einer Rechtsverletzung. Eine

entsprechende Vermutung in den Raum zu stellen, genügt nicht (hier: mangelnde Zulassung eines Verteidigers). Es ist Sache der Revision, die tatsächliche Tragfähigkeit ihrer Erwägungen zu überprüfen, wozu zum Beispiel ein Anfragen bei früheren Verteidigern geboten sein kann (vgl. BGH NStZ 2005, 283 f.; hierzu BVerfG StraFo 2005, 512 f.). Gebotener Vortrag kann nicht durch die Anregung ersetzt werden, der Senat möge prüfen, ob die angedeutete Möglichkeit eines Rechtsfehlers in tatsächlicher Hinsicht eine tragfähige Grundlage hat oder nicht.

2. Die Untervollmacht für einen Rechtsanwalt muss nicht notwendig schriftlich nachgewiesen werden.

3. Für die in einer Verteidigervollmacht vorformulierte Befugnis zur Erteilung von Untervollmacht gelten die Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen in Verträgen. Ob die genannte Befugnis wirksamer Bestandteil der Vollmacht ist, richtet sich insbesondere nach § 305c Abs. 1 BGB. Sie ist allgemein gebräuchlich und daher nicht überraschend im Sinne des § 305c BGB.

4. Die Bevollmächtigung ist auch grundsätzlich nicht dahin eingeschränkt, dass jedenfalls ein Verteidiger, der aufgrund seiner Prozesserfahrung und seines Bekanntheitsgrades besonderes Vertrauen für sich in Anspruch nimmt, von einem ihm eingeräumten Recht, Untervollmacht zu erteilen, keinen Gebrauch machen dürfe.

5. Auch im Übrigen gibt es keinen Rechtsanspruch des Angeklagten, auch dann ausschließlich vom (Haupt-)Verteidiger verteidigt zu werden, wenn er uneingeschränkt die Befugnis zur Erteilung von Untervollmachten erteilt hat.

6. Das Gericht ist regelmäßig nicht verpflichtet, die Tätigkeit eines Verteidigers daraufhin zu überwachen, ob er seine Verteidigertätigkeit ordnungsgemäß erfüllt (vgl. BGH b. Holtz, MDR 1996, 120). Dies gilt nicht nur für die inhaltliche, sondern auch für die formale Gestaltung der Verteidigung. Macht der Verteidiger von einer ihm - wie dem Gericht bekannt ist - vom Angeklagten erteilten Befugnis Gebrauch, so braucht das Gericht dies im Grundsatz nicht zu hinterfragen.


Entscheidung

770. BGH 1 StR 382/06 - Beschluss vom 22. August 2006 (LG Stuttgart)

(Kein) rechtliches Gehör im Ablehnungsverfahren.

§ 27 StPO; Art. 103 Abs. 1 GG

Das Gesetz sieht lediglich die Herbeiführung einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters vors (§ 26 Abs. 3 StPO), die zur Gewährung des rechtlichen Gehörs dem Antragsteller mitzuteilen ist (BGHSt 23, 200, 203). Eine förmliche Beweisaufnahme über ein Ablehnungsvorbringen findet hingegen nicht statt. Es ist vielmehr dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen, mit welchen Mitteln es sich Kenntnis von dem Bestehen oder Nichtbestehen der maßgeblichen Tatsachen verschaffen will (vgl. BGHSt 21, 334, 347). Haben sich die Tatsachen vor dem selben Gericht ereignet, so kann dieses auf Grund eigener Wahrnehmungen ohne Weiteres die Entscheidung treffen.


Entscheidung

750. BGH 5 StR 236/06 - Beschluss vom 12. Juli 2006 (LG Hamburg)

Beweiswürdigung (Beweiswert objektiver Belastungsindizien über den konkreten Fall hinaus: beschränkte Wirkung für Parallelfälle; Darlegungsanforderungen an die Verfahrensrüge (Bezeichnung eines konkreten Beweismittels in dem Beweisantrag, dessen fehlerhafte Ablehnung gerügt wird: Aufenthalt eines Zeugen).

§ 261 StPO; § 244 Abs. 6 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Zwar entfalten objektive Belastungsindizien in der Regel über den sie betreffenden Einzelfall hinaus eine den Angeklagten belastende Wirkung auch für einen angelasteten Parallelfall (vgl. BGH wistra 2002, 260, 262; 430, 431). Diese Wirkung führt aber auch gemeinsam mit der Aussage einer Belastungszeugin nicht stets dazu, dass eine tragfähige Tatsachengrundlage für eine Verurteilung vorliegt. Einzubeziehen sind die Besonderheiten der jeweiligen Beweislage, wie etwa Qualitätsmängel der belastenden Aussage.


Entscheidung

674. BGH 2 StR 225/06 - Urteil vom 2. August 2006 (LG Frankfurt)

Überzeugungsbildung (Bestätigung der Angaben gesperrter polizeilicher Vertrauenspersonen durch andere Beweisergebnisse auch hinsichtlich des Schuldumfangs; Zeuge vom Hörensagen; Konfrontationsrecht).

§ 261 StPO; § 96 StPO; § 54 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass es, wenn die Feststellungen zu einer letztlich nicht umgesetzten großen Menge von Rauschgift auf die durch die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen eingeführten Angaben einer gesperrten Vertrauensperson der Polizei gestützt sind, einer Bestätigung durch andere wichtige Beweisanzeichen auch hinsichtlich der den Schuldumfang mitprägenden Mengenangaben der Vertrauensperson bedarf (vgl. BGH NStZ 1994, 502; NStZ-RR 2002, 176). Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass jedes Detail der Angaben einer gesperrten Vertrauensperson der Bestätigung durch weitere, außerhalb der Aussage selbst liegende Beweisergebnisse bedarf. Die Frage, ob die der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 20. Juni 1994 - 5 StR 283/94 (NStZ 1994, 502) zu Grunde gelegten Anforderungen zu weit gehend formuliert sind und einer Einschränkung bedürfen, kann hier offen bleiben.


Entscheidung

687. BGH 2 StR 303/06 - Beschluss vom 16. August 2006 (LG Aachen)

Urteilsformel (gleichartige Tateinheit); Heimtücke (Erwartung eines Angriffs auf die körperliche Unversehrtheit).

§ 260 Abs. 4 StPO; § 211 Abs. 2 StGB

1. Bei gleichartiger Tateinheit ist in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen, wie oft der Tatbestand verwirklicht wurde.

2. Arglosigkeit des Tatopfers und damit das Mordmerkmal der Heimtücke ist schon dann nicht gegeben, wenn das Opfer in der konkreten Tatsituation nur mit ernsthaften Angriffen auf seine körperliche Unversehrtheit rechnet; einen Angriff auf sein Leben muss es nicht erwarten.